Es gibt nur zwei Arten von Menschen: Die, die die Rocky Horror Show bzw. ihr filmisches Pendant die “Rocky Horror Picture Show” noch nie gesehen haben – und die, die sie mindestens zehnmal gesehen haben. Dazwischen ist nichts möglich. Man findet das Musical von Richard O’Brien nicht einfach ganz nett. Entweder lehnt man es partout ab, dann können und wollen wir euch auch nicht mehr helfen. Oder man ist dem Kult verfallen und inhaliert es in einem Atemzug ganz tief in jede Pore des Körpers ein.
1975 entwickelt sich durch die Verfilmung des schon zwei Jahre zuvor uraufgeführten Bühnenstücks Schritt für Schritt ganz langsam eine riesige Gruppe an Fans. Menschen, die Woche für Woche ins Kino kommen, um ihn gnadenlos abzufeiern. Sie überlegen sich Zwischenrufe, Mitmachaktionen, tragen Kostüme. Das Ganze schwappt auch in die Theater über, in denen die Rocky Horror Show immer wieder aufgeführt wird und sich vom Underground zum absoluten Hype entwickelt. Die meisten Trends haben irgendwann ihr Ende – der von der Rocky Horror Show liegt jedoch in unabsehbarer Ferne in einer anderen Zeitrechnung.
Wir lieben mit Inbrunst den Planeten Transsexual in der Galaxie Transylvania. Noch immer gehört der wilde Science-Fiction-Musical-Erotik-Comedy-Mix zum Mutigsten, was die Gattung je gesehen hat. Noch immer sind die Songs, die überwiegend dem Rock’n’Roll-Genre stammen, kompositorische Meisterwerke. Und noch immer freut man sich bei dem Besuch einer Vorstellung – eigentlich auch egal, ob im Kino oder im Theater – auf diese unzähligen ikonischen Momente, in denen man entweder interaktiv mitwirkt oder tanzend und Beifall klatschend zuschaut.
Ist der fünfte runde Geburtstag des Musicals also schon passé, steht im kommenden Kalenderjahr der 50. für den Film an – Grund genug, um die Rocky Horror Show wieder auf große Reise zu schicken, denn ist die eine Rutsche gerade erst vorbei, wird nach der nächsten seitens des Publikums schon wieder gefragt. Seit 2008 gab es mehr als 1200 Aufführungen der Tourproduktion. Bis August 2022 konnte man die letzte Inszenierung hierzulande mit einer sehr talentierten Cast aus dem Londoner West End in vielen Städten stehen. Wir waren live in Duisburg dabei und bis auf ein paar Punkte durchweg richtig begeistert. Seit Ende Oktober diesen Jahres wird das anstehende Jubiläum zelebriert. 15 deutschsprachige Städte kommen teils sogar für mehrere Wochen noch bis Ende April in den Genuss. Die NRW-Premiere findet zwischen den Jahren im Dortmunder Konzerthaus statt.
Welch besseren Tag kann es geben, um Queerness, Freizügigkeit, Rock’n’Roll und Andersartigkeit zu feiern als den 2. Weihnachtstag? Eben drum gibt’s genau dann die erste von acht Aufführungen. Ein Großteil ist hier nicht – wir sagten es ja auch schon eingangs – zum ersten Mal. Selbst aus der Generation Ü60 haben manche der Show entsprechend in den Kleiderschrank gegriffen. Fracks, Steampunk-Hüte, Rocker-Kluft, Tüllröcke, Federboas, Monokel – mehr ist mehr. Schon eine Stunde vor der Vorstellung ist die Schlange am 26.12., einem Donnerstag, am Merch-Stand viele Meter lang. Alle möchten einen Fanbag, in dem die bekannten Mitmachutensilien wie Konfetti, Zeitungspapier oder Spielkarten bereitliegen. Cool: Der Fanbag ist optisch ein anderer als der zur letzten Tour. Uncool: Wasserpistolen sind im Konzerthaus nicht erwünscht. Manche haben sie aber von Zuhause sowieso mitgebracht und lassen sich vom Schießen während der “Over At The Frankenstein Place”-Szene auch nicht abhalten. Sorry not sorry. Ihr kennt’s.
Zum Einlass läuft auf der Leinwand ein schauriger Old-School-Trailer nach dem nächsten, ganz besonders an dem Trash-Feuerwerk “Tarantula” bleibt man hängen. Rocky Horror ist ein Programmkino-Phänomen, im Englischen noch spezieller als “Grindhouse” bekannt. Gerne gab es vorher oder nachher weitere B-Movies zu sehen. Die Atmosphäre stimmt. Erklingen dann die ersten wirklich unfassbar lauten Takte des ersten Songs, wird sich an mancher Ecke sogar die Ohren zugehalten. Tatsächlich ist aber nur das Opening und das Closing so bretternd, der Rest hält sich dankenswerterweise in angenehmen Grenzen.
Die Rocky Horror Show ist old schoolig. Der Charme des 50 Jahre alten Stücks soll im Kern erhalten bleiben, weswegen das Bühnenbild nie sonderlich aufwändig ist. Außerdem handelt es sich um eine Tour, die die Möglichkeiten auch ein wenig begrenzt. Allerdings hat die 2022-Inszenierung mit der Cast so auf die Kacke gehauen, dass alles andere zur Nebensache wurde – und hier kippt leider die Vorfreude. So überragend die Darstellerriege vor zwei Jahren war, so mittelmäßig ist sie diesmal.
Dabei beginnt der Einstieg noch recht positiv. Melissa Nettleford reißt als Magenta mit ihrer souligen und druckvollen Stimme im ersten Titel “Science Fiction/Double Feature” schon die Hütte ab und legt die Messlatte richtig hoch. Auch stark, dass sie als schwarze Frau der Rolle optisch eine neue Seite entlockt. Auch die Besetzung des Brad ist untypisch, aber angenehm: Jed Hoyle sieht dermaßen jung aus, dass man denken könnte, er hätte gerade die Schule beendet. Er ist besonders gesanglich ziemlich stark und hat gleich mehrere der besten Vocal-Momente der Show. Zurückhaltend, ein wenig verwirrt und schüchtern spielt er seinen Part gut. Sympathisch ist auch Rebecca D’Lacey als Columbia. Die Darstellerin, die eigentlich nicht die Erstbesetzung der Rolle ist, ist vor allen Dingen im Imitieren der prägnanten Pieps-Stimme richtig klasse.
Auf der anderen Seite gibt es aber mit Sydnie Hocknell eine gesanglich wenig begnadete Janet. Dass eine West-End-Darstellerin dermaßen viele Töne falsch singt, ist neu. Eine ziemlich daneben gegangene “Touch-A Touch-A Touch-Me”-Interpretation, bei der die Darstellerin probiert, den Song anspruchsvoller zu intonieren, die Runs aber leider heftig versemmelt. Schwerer ist mal wieder nicht besser. Auch das sehr ADHS-like Spiel von Alexanda O’Reilly als Rocky nervt. Aus einem schreckhaften, introvertierten Rocky wird hier ein überdrehtes CSD-Klischee. Generell scheint die Regie der Cast gesagt zu haben, dass heute “Tag des Rumalberns” ist, weil die Rocky Horror Show selten so übertrieben und gestellt lustig daherkam. Die Hälfte an Gags würde locker ausreichen.
Letztendlich steht und fällt das gesamte Stück aber mit der Präsenz des Hauptdarstellers. Nimmt die Erstbesetzung Oliver Savile stets den gesamten Raum ein, wirkt seine am Premierenabend in Dortmund spielende Zweitbesetzung Stephen Johnson wirklich wie ein Downgrade. Ein Ersatz, nur nicht ebenbürtig. Man hört besonders in “Don’t Dream It” und “I’m Coming Home”, dass Johnson gesanglich wunderbare Töne hervorbringt und zwischen sanfter Kopfstimme und beltiger Brust easy gleiten kann, allerdings ist Frank’n’Furter offensichtlich einfach nicht seine Rolle. Er kann auf den High Heels nicht sicher genug laufen, dadurch wirkt sein Gang nicht stolzierend genug. Seine Art ist wenig dominant, viel zu liebenswürdig. Ein Frank’n’Furter braucht aber etwas Einschüchterndes, Aufmüpfiges, Lautes und Schnippisches. Davon bietet er viel zu wenig, sodass das “Sweet Transvestite” vom Showstopper zur beliebigen Zwischennummer ohne Nachwirkung wird.
Am Ende hebt der einzige Darsteller, den wir schon 2022 in Duisburg gesehen haben, die Show ins gehobene Mittelfeld: Christian Lunn ist schon so lange Riff Raff, dass er die Rolle im Schlaf kann. Und wie er sie kann. Das ist wahnsinnig witzig, sogar richtig vielschichtig, immer noch überraschend und gesanglich so on point, dass zumindest der wichtigste Song, nämlich der “Time Warp”, durch das wunderschöne Konzerthaus fliegt und alle von den Stühlen reißt. Sowieso ist die Stimmung in Dortmund richtig gut, es wird viel geklatscht, gejubelt und hier eben auch getanzt. Übrigens spielt Christian Lunn hin und wieder auch mal den Frank’n’Furter – haltet danach doch mal Ausschau!
Der 77-jährige Schauspieler Sky du Mont fungiert bereits seit 2014 immer mal wieder als Erzähler. Sein Auftreten passt super zur Rolle. Viele Parts kennt er auswendig, außerdem reagiert er auch mal spontan auf „Boring“-Zurufe aus dem Publikum. Eine gute Wahl und zurecht schon so lang besetzt.
Außerdem hat sich auch in den Requisiten was getan. Geblieben sind zum Beispiel die äußerst witzigen Schattenspiele zum Beginn des zweiten Akts sowie die hübschen Wandgemälde mit stilisierten Portraits – leider gibt es aber beim großen Finale eine Veränderung. Fuhren 2022 Riff Raff und Magenta auf riesigen alien-artigen Stelzen in die Szenerie, haben sie diesmal nur ein Kostüm auf hohen Hacken an, das so ausschaut, als ob bei “RuPaul’s Drag Race” das Motto “Weihnachtsbaum” war. Schaut wirklich schräg und lustig aus, ist aber weniger beeindruckend. Menno. Nicht zuletzt ist für Dortmunder-Konzerthaus-Verhältnisse der Sound überraschend mies. Zwar spielt die fünfköpfige Band unter der Leitung von Dan Tomkinson echt super und ballert ordentlich in Tasten und Saiten, dafür werden aber verdammt oft Mikrofone viel zu leise gedreht. Mehrere Male sind Soli nicht gut zu verstehen, was sehr verärgert.
Es ist gut, dass die Kompositionen und die Mitmachmöglichkeiten allein jeden 105 Minuten langen Rocky Horror Show-Abend retten. Schlecht wird’s ja nie. Allerdings kennen Fans das Stück richtig gut und haben es unzählige Male gesehen – und leider auch schon wesentlich besser als an diesem Abend in Dortmund. Insgesamt ist die Vorstellung solide, was aber größtenteils der Band, den Songs und Riff Raff zu verdanken ist. Nicht auf dem Namen ausruhen, sondern auch liefern! Eigentlich ist die bekannte Tour mit West-End-Besetzung doch die Nummer 1 unter den unzähligen Produktionen… beim nächsten Mal wieder, gell?
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Foto von Christopher
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