Romeo & Julia? Als Musical? Och nö!… oder doch besser: Hell, yes! Einfach haben es sich Peter Plate und Ulf Leo Sommer nicht gemacht. Aber einfach ist eben auch einfach langweilig. Stattdessen liefert das so sympathische wie kreative Team hinter der Erfolgsband Rosenstolz nun mit Romeo & Julia: Liebe ist Alles – Das Musical ihre zweite Musicalarbeit – in nicht einmal zwei Jahren.
Kleiner Trigger: März 2020. Erster Lockdown. Die Zeit, in der man bemerkte, wie sehr Kultur fehlt, wenn sie auf einmal nicht mehr stattfinden darf. Die Zeit, in der es ein Highlight war, in den Supermarkt zu gehen. Wir erinnern uns. Zu gut. Ein großer Lichtblick, wenn dann die Musical- und Theaterszene mit einer ganz besonderen Premiere erwachen darf: „Ku’Damm 56 – Das Musical“, angelehnt an die gleichnamige, sehr erfolgreiche Fernsehserie, kam unverhofft. Man versuchte dem Musiktheatergenre, das in Deutschland zwar immer gut ankommt, aber auch selten über den Tellerrand hinausschaut, etwas Neues hinzuzufügen – und es klappte vorzüglich.
Anderthalb Jahre lang machten Peter Plate, Ulf Leo Sommer sowie Joshua Lange als Komponistentrio sowie Annette Hess als Autorin der Serie das Stage Theater des Westens in Berlin Charlottenburg voll und begeisterten mit stimmungsvollen wie poppigen Rock’n’Roll-Hits, emotionaler Erzählweise, starken Choreographien plus einer Story mit Berlin-Bezug. Es war einfach das Stück, was man brauchte, wenn man viel zu lang schwermütig auf der Couch herumlungerte. Völlig zurecht gewann das Team mit der für Stage weniger typischen Herangehensweise mehrere Preise.
Zurück zu „Alles andere als einfach“: Wie toppt man sich selbst? Wie erfüllt man Erwartungen in so kurzer Zeit hintereinander im selben Theater? Den „Ku’Damm“ schickt man nun auf Reisen und schaut, ob er auch in anderen Teilen Deutschlands so mitzureißen weiß – wir behaupten hiermit mal, dass das sicherlich wohlwollend aufgenommen wird. Gleichzeitig setzen aber Plate und Sommer ihr Herzstück um, denn eigentlich war man schon vor dem Stück über Berlins berühmteste Einkaufsstraße mit weitaus größeren Geschichten beschäftigt.
Ulf ist Shakespeare-Fan. Warum auch klein, wenn man doch groß denken kann. Romeo & Julia wird von dem englischen Dramatiker Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlicht und ist da schon einem Werk, das einige Jahrzehnte zuvor entstand, entlehnt worden. Mit den Menschen aus ungleichen Häusern, dessen Liebe schon vor der Zusammenfindung keinerlei Chance hat, kommt das bekannteste Literaturpaar der Welt zum Vorschein, das selbst über vier Jahrhunderte später nichts an Größe, aber – noch viel schlimmer – auch nichts an Aktualität verloren hat. Also ran an DEN Klassiker und ab damit auf die moderne Bühne.
Romeo & Julia ist abgegriffen. Das macht die Entscheidung besonders mutig. Die fiel bei Peter und Ulf bereits vor einer Dekade. Bereits 2014 kommt eine Version ihres ersten Musicals auf die Bühne. Ein Musical, das war eh schon lange in ihren Köpfen, jedoch durch die permanente Arbeit mit Rosenstolz nicht umsetzbar. 2014 schien aber die Zeit einfach noch nicht die richtige gewesen zu sein, sodass nur eine kleine Produktion mit wenig Aufführungen zustande kommt und wohl nur die hartnäckigsten Fans etwas davon mitbekommen haben. Jetzt, nach der Megasensation mit „Ku’Damm“, hat man aber ein Team im Background, das einem vertraut und auch die nötige Aufmerksamkeit, um voll aufzufahren.
19.3.23, ein Sonntag. Schon nachmittags befinden sich die ersten Neugierigen in dem stilvollen und glamourösen Theater, um zu lauschen, was die Macher*innen selbst über ihr Stück zu berichten haben. Peter und Ulf nennen es in der von Kim Fisher moderierten Pressekonferenz, die nur wenige Stunden vor der Weltpremiere geschieht, selbst das Mutigste, was sie bisher gemacht haben. Etwas, was ihnen viel bedeutet. Sie möchten dem Ganzen einen neuen Anstrich verpassen und die Materie einem neuen Publikum zugänglich machen. Das Publikum bringt Neugier mit. Westernhagen, Claudia Roth, Conchita Wurst, Annett Louisan, The BossHoss, Heike Makatsch, Katy Karrenbauer, Kerstin Ott, Klaus Wowereit und Thomas Hermanns sind nur ein paar der namhaften Personen, die der Einladung zur Premiere folgen und sich um 19 Uhr auf ihre Plätze setzen.
Mit gerade einmal fünf Minuten Verspätung beginnt die erste offizielle Vorstellung zum neuen Stage-Musical. Bis auf wenige Ausnahmen in den Oberrängen sieht man kaum leere Plätze. Die drei Previews vorab liefen schon ordentlich gut, sagt man sich. Doch kann Romeo & Julia: Liebe ist Alles – Das Musical den hohen Erwartungen derjenigen gerecht werden, die „Ku’Damm“ so feierten? Überrascht es diejenigen, die Romeo & Julia müde sind? Entdeckt die Musical-Bubble ihr neues Lieblingsstück?
Leider kann man nicht alles ganz eindeutig mit einem Ja beantworten. Doch bevor das Gesicht enttäuschte Züge annimmt und der Blick gen Boden gleitet – Plate und Sommer enttäuschen wohl nie so wirklich. Kann man mit Erfolgsdruck bereits seit den Hochzeiten von Rosenstolz meist gut umgehen, hat man auch in der zweiten großen Musicalproduktion auf dem Schirm, was man liefern muss, um dem Fanniveau gerecht zu werden. Romeo & Julia hat ein paar kleinere Schwächen, liefert in einigen Punkten genau das, was man sich wünscht und in so manchem Moment gibt es gar ein wahres Übertreffen.
Das Bühnenbild erinnert an „Hamilton“ und „Der Glöckner von Notre Dame“. Generell wechselt die Kulisse – eine Art offener Palast, in dem sich ein runder, drehbarer Boden befindet, und der mit einer zweiten höheren Ebene, auf die Rampen führen, ergänzt wird – nicht, lediglich durch Licht, Dialoge und Requisite werden Ortswechsel deutlich. Ansonsten zeigt man fürs Auge im Kern eher klassisches Theater, bei dem sich Szenerien auch mal gedacht werden dürfen und nicht alles auf dem Silbertablett serviert wird. Auch im Kostüm bleibt man dem Stück entsprechend altmodisch. Altmodisch bleibt man – und das überrascht allemal – auch in den Sprechszenen: Man übernimmt bei der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel aus dem 18. Jahrhundert.
Ungewohnt, aber deswegen auch gut, eine nicht mehr zeitgemäße Wortwahl in einer großen Musicaladaption sehen zu können. Dem entgegengesetzt nutzt man nämlich schönes Licht, leuchtende Sternenhimmel, viel Rauch und einige erschütternde und dadurch richtig sitzende Soundeffekte. Ein bisschen was Altes, ein bisschen was Neues. Übrigens gilt diese Formel auch für die Musik: Aus der ersten Plate/Sommer–Romeo & Julia-Variante schnappt man sich einen Song, den man auch in der neuen Show hören kann, doch viel spannender noch: „Liebe ist Alles“ ist selbstredend nicht rein zufällig der Beititel zum Stück. Plate berichtet in der Pressekonferenz, dass sie sich mehrfach Gedanken zu einer ganz großen Liebesnummer gemacht haben. Eine, die so klingt, wie eben jenes Rosenstolz-Lied, was 2004 so viel veränderte. Und irgendwann entschied man sich dazu – erst als Schnapsidee, dann aber auf einmal ganz ernst – es einfach ins Musical zu integrieren. Nun ist es das Hauptthema, wird im ersten Akt angeteasert, dient im zweiten als Opening und in der Zugabe als Rauswurf.
Die Musik, die wir bereits letzte Woche ausführlich besprochen haben, ist genauso wie bei dem Vorgängerwerk das Herzstück. Locker sieben oder acht Titel sind durch den richtigen Einsatz von starker Bildebene und noch viel stärkerem Sound – der ist nämlich schon bei der Premiere außergewöhnlich gut gemischt und in den Mikrofoneinsätzen immer rechtzeitig da, was erfahrungsgemäß keine Selbstverständlichkeit ist – schon jetzt mit Hitpotenzial gespickt. Hier nimmt wohl jede*r Besucher*in einen persönlichen Favoriten mit nach Hause. Plate, Sommer und ihr Dritter Joshua Lange sind zwar keine typischen Musicalkomponisten, wollen aber durch ihren erprobten Deutsch-Pop sowieso viel lieber Gegenangebote zur restlichen Musicallandschaft liefern.
Musikalische Höhepunkte sind mitreißende, große uplifting Pop-Nummern wie „Es lebe der Tod“, bei dem Mercutio, Romeos enger Verbündeter, gespielt von Nico Went, für erhellende Stimmung sorgt in einer Welt, die schon von Anfang an eher melancholisch stimmt, kennt man nun mal das tragische Ende. Went ist in seiner neuen Rolle wieder eine absolute Topbesetzung. Ähnlich wie bei „Ku’Damm“ macht der markante Darsteller gesanglich wie schauspielerisch alles richtig und ist stark und verletzbar zugleich. Außerdem schwingt eine homoerotische Stimmung mit. Plate und Sommer als ewige Veteranen für Schwulen-Rechte lesen hier bei Shakespeare gern ein wenig zwischen den Zeilen und setzen kleine queere Nuancen. Die kommen nicht mit der vollen Breitseite und an den wenigen Stellen auch mal etwas holprig, aber einseitige Liebe ist selten ergebnisorientiert und offenherzig.
Ganz neu und ein wahnsinnig schöner optischer, noch mehr aber akustischer Akzent setzt die vom Team erfundene Figur des Todesengels. Auch hier bekommen Musicalfans bestimmt den einen oder anderen Flashback zum berühmten „Tod“ aus „Elisabeth“, die Figur in Romeo & Julia ist jedoch ausschließlich musikalisch und eher eine traurige kurze Berührung als groß und zentral. Nils Wanderer, ausgebildeter Countertenor, kann hier mit Tönen in den allerhöchsten Lagen fesseln, Gänsehaut erzeugen und trotz viel Schatten auf seinem Gesicht für wunderbare Atmosphäre im Raum zaubern. Jedes Soli von ihm ist einfach so stimmig und gut. Man darf an dieser Stelle auf gar keinen Fall spoilern, aber zum Ende des zweiten Aktes gibt es eine Inszenierung, in der die Rolle als Puppenspieler fungiert. Hat man die gesehen, wird man sie wohl so schnell nicht mehr vergessen.
Eine wirkliche Schwäche – und hier muss man das Wort „leider“ hinzufügen und betonen – ist die nicht ganz geglückte Besetzung der beiden Hauptdarsteller*innen. Mit Yasmina Hempel als Julia und Paul Csitkovics als Romeo hat man zwei optisch gut harmonierende junge Personen gefunden, die in ihren Stimmfarben dem Pop von Plate und Sommer ähneln und auch nebeneinander chic aussehen, jedoch wird’s gesanglich an einigen Stellen echt etwas schwierig. Besonders das aus dem ursprünglichen Romeo & Julia übernommene, unglaublich tolle „Dann fall ich“ ist in mehreren Gesangsharmonien zumindest bei der Premiere tonal nicht richtig. Der Aufregung geschuldet? Möglich. Im zweiten Akt fällt das Heiß-Kalt-Liebesspiel – oh yes, sie haben’s getan – einige Minuten zu lang aus und sorgt in der Erzählung für den einzigen Hänger von rund zehn Minuten.
Offensichtlich ist aber Romeo & Julia: Liebe ist Alles das Stück mit den erschlagenden Nebenrollen. Der absolute Star des Abends ist Steffi Irmen als Amme. Sie hilft trotz Unbehagen der Liebe zwischen Romeo und Julia auf die Sprünge, besitzt aber dazu auch die zwei besten Nummern der kompletten Show. Das gesanglich äußerst herausfordernde „Hormone“ meistert sie schauspielerisch und auch tonal mit so viel Technik, Geschick und Spielfreude, dass es während des ersten Aktes mehrere Besucher*innen zum Aufspringen, Ausrasten, Jubeln animiert – komplett mit Recht. Auch ihr zweites Solo, „Jung sein“, in der zweiten Hälfte, das in seiner mitreißenden Dynamik an eine Musicaladaption von „Ich liebe das Leben“ von Vicky Leandros erinnert, ist wohl die Melodie, mit der man beseelt den Saal verlassen wird. Zwei Szenen, die zweifelsohne zur Oberliga des Musicaljahres 2023 zählen werden.
Des Weiteren im Kopf bleibt das divenhafte, stampfende „Halt dich an die Reichen“ von der optisch bizarr-stark wirkenden Lady Capulet, die Lisa-Marie Sumner toll mimt. Elektrisierend ist an anderer Stelle ein permanent lauter werdender Bass, der aus den Boxen hämmert, noch krasser sogar ein ohrenbetäubender Windzug zum Finale. Sowieso sind die letzten rund 20 Minuten sehr energiegeladen. Beim abschließenden Song „Der Krieg ist aus“ zieht die Cast ihre Kostüme aus, tritt in gegenwärtiger Alltagskleidung nach vorn und baut damit eine Brücke zu aktuellen politischen Ereignissen. Eine schöne Idee mit Message.
Romeo & Julia: Liebe ist Alles – Das Musical ist nicht das Feel-Good-Stück, was man zuvor mit „Ku’Damm 56 – Das Musical“ im Theater des Westens zu sehen bekam. Aber wer sagt, dass Musical immer leichte Kost sein muss. Die bekannteste aller Lovestorys aus Omis Schatztruhe auf dem Dachboden hervorzukramen, wird sicherlich nicht jeden Geschmack treffen, aber hat durchaus eine große Musicalproduktion mal verdient. Plate und Sommer liefern erneut einen Gegenentwurf zum typischen Sound, den Musicals innehaben, sind aber in ihrem Breitband-Drama-Pop diesmal mehr wieder bei Rosenstolz als zuletzt. Auch wenn die First Cast in den Hauptrollen nicht so glänzt, trumpft sie in gleich mehreren Nebenrollen so richtig auf. Erneut läuft im Stage Theater des Westens etwas, was man nicht alle Tage sieht. Und mit ein wenig Glück gibt’s den „Ku’Damm“ dann an anderer Stelle ja sogar parallel. Doppelt hält schließlich besser.
Und so sieht das aus:
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