Mal kurz ein Genre revolutioniert: Tristan Brusch bewies mit seiner zweiten LP „Am Rest“, dass es noch geht. Dass man dem Deutsch-Pop, dem Singer/Songwriter auf Muttersprache noch etwas entlocken kann, was nicht so klingt wie das totgedudelte Einerlei. Das sich nicht davor scheut, ganz tief in die Depression blicken zu lassen. Das genau so schwer klingt, wie es eben klingen muss. Das romanhafte Geschichten erzählt, statt nur die Zuhörer*innen zu irgendwelchen eigenen Story-Assoziationen zu bewegen. Lockdown-Gefühlschaos auf einer Handfläche serviert. Nackt und kantig. Rund anderthalb Jahre später wird das Spektakel wiederholt und extrahiert. Am Wahn ist mit großer Wahrscheinlichkeit das stärkste Album, was man 2023 auf die Ohren bekommen wird.
Der in Gelsenkirchen geborene Künstler ist schon längst in Berlin ansässig. Was passiert auch schon Bewegendes in der Stadt im Ruhrgebiet, wenn man eigentlich für viel, viel Größeres gemacht ist? Bei keinem anderen deutschen Act funktioniert die Mixtur aus Mut zur Hässlichkeit, Mut zum dramatischen Überhang und das minimalistische Zupfen auf der Gitarre sowie das Klimpern auf dem Klavier besser. Brusch ist kein melodiöser Sänger, er vertont Beobachtungen. Es klingt so cheesy und ist doch so treffend.
Ein Großteil der Menschen, die durch Zufall auf Am Wahn treffen werden, werden die 37 Minuten voller leiser Eskalationen nicht zu schätzen wissen. Die, für die sie gemacht sind, haben Brusch eh bereits auf dem Schirm und ihn auch schon auf der Bühne erlebt. Allerdings passiert auch für die, deren Erwartungen ganz weit oben lagen, noch etwas Wunderbares. Ist „Am Rest“ das unsägliche Gefühl, nicht zu wissen, wann alles wieder so läuft, wie man es einst doch kannte, ist Am Wahn der Blick zurück auf Ungewissheit und deren damit verbundene Erlebnisse, gleichzeitig jedoch ein so beflügelndes Gefühl von Dankbarkeit und Zukunftsvision. Am Wahn ist schwere Leichtigkeit.
Das beste Merkmal der Platte ist ähnlich wie beim Vorgängeralbum: Die intime Atmosphäre, die trotzdem so groß wirkt, als ob man auf 80 Jahre Leben voller Ereignisse zurückblickt. Dabei greift Brusch ein paar optimistischere und groovigere Sounds auf, die an sein Debüt „Das Paradies“ erinnern, nur den Versuch, einen chartfähigen Hit zu schreiben, zum Glück außen vor gelassen. Stattdessen klingen die elf Songs einfach wie eine sonnige Variante vieler Vorgängertitel, die aber durch diesen Hauch Sonne nochmal ordentlich an Reife gewinnen und Haut, Hirn, Herz erwärmen.
Es fällt schwer, einzelne Tracks auszuwählen, in die man hineinhören sollte. Besser hört man nämlich nicht rein, sondern hört durch. Man bleibt an zu vielen zu unterschiedlichen Dingen hängen. An dem Sommerfeeling in „Baggersee“, das zu Tränen rührt, weil man es sich so gut vorstellen kann. Dann sind es wiederum die einfach immer wieder stark komponierten Klavierlinien wie in „Wahnsinn mich zu lieben“, die sich an Bruschs hier ungewöhnlich hohe Tonlage anschmiegen. Oder es ist das Duett, von dem man nicht wusste, wie sehr man es brauchte: „Kein Problem“ hat Annett Louisan am zweiten Mikro. Beide haben bei ihren aktuellen außerordentlich gelungenen Alben mit demselben Songwriter Tim Tautorat zusammengearbeitet und nun den Weg auf einen gemeinsamen Song gefunden – „Kein Problem“ ist ohne sich anzustrengen einer der besten Titel, die man in diesem Jahr entdecken darf. Ein Liebesblitz.
„Ein Kuss, die Welt bleibt steh’n, Seifenblasen platzen nie, in ei’m Jahr Pandemie ham’ wir uns für immer geliebt“ („Seifenblasen platzen nie“). Es sind diese kleinen Songlinien, die auf einen niederprasseln, ohne Rücksicht auf Verluste. „Und vom Morgen erwarte ich abermals, dass du in meinen Armen liegen wirst – doch dann ist wieder eine Nacht lang wie meine Straße, durch die ich geh’ mit Steinchen im Schuh.“ („Wieder eine Nacht“). Wer schreibt sowas heute noch? Tristan Brusch tut es. Und dafür müssen wir verdammt dankbar sein. Kauft es, streamt es, saugt es ein und teilt es nur mit euren allernächsten Menschen in den fragilsten Momenten.
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