Zwei Hände. Die macht sie nun voll. Annett Louisan veröffentlicht fast auf den Tag genau 19 Jahre nach ihrem Debütwerk “Bohème” ihr zehntes Album. Gar keine so schlechte Quote, schafften ABBA im Vergleich gerade einmal neun in knapp 49 Jahren. Wer 2004 mit der extravaganten Sängerin schon haderte, kann an dieser Stelle aufhören zu lesen: Auch 2023 werdet ihr mit ihr nicht glücklich. Alle anderen schauen nun gespannt auf Babyblue und spitzen die Lauscher.
Dass eine neue Platte durchschnittlich unter 24 Monate zur Entstehung braucht, deutet auf viel Arbeitswilligkeit hin. Die 45-jährige in Havelberg geborene Künstlerin steht also entweder im Studio oder auf der Bühne. Und irgendwie kann man sich auch ganz schwer entscheiden, welche von beiden Annetts man eigentlich mehr mag, solange sie ganz bei sich selbst bleibt. Verzückte sie uns 2019 mit ihrem umfangreichen Doppelalbum “Kleine große Liebe” , gab es mit der Cover-LP “Kitsch” einen kleinen verzeihbaren Ausrutscher. Parallel dazu überzeugte sie sowohl kurz vor als auch gen Ende der Pandemie mit ihrer verdammt hohen Livequalität.
Ganz bei sich selbst zu bleiben, scheint 2023 erschreckend einfach zu fallen. Deutete Louisan bereits auf ihrer letzten Tour im April 2022 an, dass sie nochmal viel Neues über sich herausfand und das Leben anders betrachtet, wird das nun auch zuhause hörbar. Babyblue ist mit seinen zwölf Songs im Vergleich zu vielen wesentlich umfangreicheren Werken zuvor ein recht kurz geratenes Album, dafür aber essenziell womöglich das Hochwertigste, was eines der nennenswertesten Unikate der deutschen Musikszene nun anbietet. Annett Louisan war nie dermaßen Anti-Radio-Hit, verabschiedet sich endgültig davon, wie damals mit “Das Spiel” die Top-10-Single-Charts entern zu wollen und serviert stattdessen Storytelling der Extraklasse.
Eine absolut eindeutige Wertung: Lyrisch ist Babyblue fünf von fünf Sterne. Selten spürte man so fragil und unverfälscht das Leben einer Mitvierzigerin irgendwo zwischen Midlifecrisis, liebgewonnenem Erfahrungsschatz, Neugier und Bittersüße. Das beginnt bei dem sehr schweren, sentimentalen “Die mittleren Jahre”, das den Status Quo eines bereits halb gelebtem Lebens thematisiert, geht weiter bei “Die fabelhafte Welt der Amnesie”, in dem man das “Oh, das hab ich ganz vergessen”-Spiel für sich perfektioniert hat und endet mit Blick auf das, was nach dem Leben von einem bleibt in “Wenn ich einmal sterben sollte”. Dazwischen geht es um Lieben, die sich als wenig liebenswert herauskristallisieren (“Arsch”, “Das Universum schlägt zurück”), um toxische Beziehungen (“Zuckerbrot und Peitsche”), um Verschwörungstheorien und Schwurbler-Mist (“Große Hände”), um fantastische Träumereien aus der Kindheit, die nie enden werden (“Wenn ich groß bin”) und um die einzige Lösung aller Probleme: Religion als Zufluchtsort (“Hallo Julia”). Übrigens zu keinem Augenblick ernstgemeint.
Das ist spannend, zynisch, sehr witzig, reif, abwechslungsreich, gewachsen, aber nicht altklug. Und zu großen Themen und starkem Selbstbewusstsein gehört starker Sound. Tatsächlich schafft die erzählende Sängerin, die auch nach 20 Jahren immer noch so unverkennbar klingt wie damals, auf jedem Longplayer ein in sich schlüssiges Konzept zu transportieren, sodass das Ganze genauso klingt wie das Einzelne und umgekehrt. War man auf dem Vorgänger überraschend im New Wave auf der einen Seite gelandet und kammerartig ruhig auf der anderen, ist man jetzt eben Symphonieorchester. Ganz viele Songs sind untypisch groß, besitzen viele Streicher, haben Konzertsaalatmosphäre. Aber es passt. Egal, ob im düsteren Chanson-Opening “Die mittleren Jahre”, in der Kirchensatire “Hallo Julia”, in der verrucht jazzigen Barlounge-Nummer “Blutsschwestern”, in der Klavierballade “Wenn ich groß bin” und in der frankophilen Paris-Reise “L’amour”. Sowieso scheint unser Nachbarsland es ihr angetan zu haben, ist es gleich mehrfach im Wortschatz oder auch im Feeling präsent.
Man kann einfach nicht viel meckern. Vielleicht sind zwei, maximal drei Nummern melodiös nicht so stark wie der Rest, aber das sind Ausnahmen. Der Rest trifft beim ersten Hören und verlangt dennoch mehrere weitere Durchläufe, die sich dann auch ergeben werden. Selbst im Gesang bewegt sich Annett Louisan außerhalb der Comfort Zone und liefert gleich mehrfach Töne in Höhen, die man nur selten von ihr hört. Babyblue ist Neuentwicklung, eine andere Facette, ein wenig zweiter Frühling, obwohl die Protagonistin des Albums sowieso nie stehenbleibt. Eine wahnsinnig starke Platte, die anspruchsvolle Deutsch-Pop-Hörer*innen begeistern muss und zeigt, dass man auch im zehnten Anlauf noch Asse im Ärmel versteckt halten kann.
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