Gibt man bei Wikipedia das Wort Kitsch ins Suchfeld ein, erscheint ein Bild von einem Gartenzwerg. „Der Inbegriff des deutschen Kitsches“, heißt es des Weiteren. Kitsch sei ein abwertendes Wort, da der Betrachter das Objekt als „minderwertigen Gefühlsausdruck“ tituliert und es wenig mit dem Authentisch-Schönen und -Wahren zu tun habe. Annett Louisan nimmt die mögliche Abwertung durch ihre Kritiker*innen selbst in die Hand und verpasst ihrer neuen LP jenen Namen.
Frau Louisan scheint ein wenig Hummeln im Hintern zu haben. Gelang ihr erst 2019 mit ihrem letzten Album „Kleine Große Liebe“ (lest HIER nochmal unsere Rezension) ein wirklich gelungenes Comeback nach einer etwas längeren Abstinenz, veröffentlicht sie nun nach gerade einmal 17 Monaten den neusten Output. Eine gut gemeinte Geste, da Corona-bedingt auch ihr Jahr komplett umgekrempelt wurde und viele Fans sich statt Konzertfeeling mit Studiomusik zufriedengeben müssen. Aber besser als gar nichts – immerhin sollen die meisten Gigs 2021 nachgeholt werden, Kitsch bleibt aber trotzdem. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Nett!
Eine Einschränkung besteht dennoch. Kitsch bietet zwar mit 14 Songs plus Bonustrack in der Quantität eine ordentliche Portion, allerdings handelt es sich inhaltlich ausschließlich um Coverversionen. Wer also auf kongeniale Alltagsbeobachtungen hofft, die in die üblich beliebten ironischen Texte verpackt werden, schaut nun leider ein wenig dumm aus der Wäsche. Die 43-jährige Sängerin aus Havelberg entschied sich nämlich dazu, ihre liebsten Songs zu louisanieren. Tolle Idee! Wobei… Moment… gab es das nicht schonmal?
In der Tat handelt es sich bei Kitsch um das bereits zweite Coveralbum. Bereits 2016 kam – parallel zu Annetts Mitwirken bei Sing meinen Song und zum Bekommen eines Kindes – mit „Berlin, Kapstadt, Prag“ ein Longplayer ans Tageslicht, der aus zehn deutschen Liedern bestand, die Annett für besonders wertvoll hält. Das war zwar einerseits eine schöne Hommage, andererseits aber auch äußerst unspektakulär. Leider ist das vier Jahre später nicht groß besser.
Louisans stärkste Waffe ist zweifellos ihre unverwechselbare Singstimme und ihre Art damit umzugehen. Das mag zwar viele Leute nerven, aber mindestens genauso viele begeistern. Ihr Tonumfang ist überschaubar, dafür aber ihr Interpretationsvermögen exzellent. Annett transportiert Emotionen und weiß sich perfekt in Szene zu setzen. Davon berichteten wir auch ausgiebig in unserem Konzertbericht (lest HIER nochmal unseren Bericht aus dem letzten November). Allerdings ist gleichzeitig die Einsetzbarkeit ihrer Stimme begrenzt. Sie hat ohne Frage für sich eine Nische gefunden, die sie bedient wie keine andere. Geht es aber dann doch mal in andere Gefilde, ist ein wenig Land unter.
Und genau das ist auch in der knappen Stunde Kitsch zu bemerken. Das Positivste an der gesamten Platte ist die durchweg hervorragende Instrumentierung. Sämtliche Titel wurden in gerade einmal zwei Wochen in Wien aufgenommen. Das Resultat beweist, dass hier echt gute Musiker am Werk sein müssen, um solch eine Bandbreite an Instrumenten zu bedienen. Chapeau! Gleichzeitig haben aber zwei Wochen Aufnahmezeit den Nachteil, dass vieles nicht reifen und nichts komplett umgeworfen werden kann. Schlussfolgernd liegt der Knackpunkt beim Ideenreichtum.
Annett scheint wie wild durch sämtliche Lieblingsgenres und -interpreten gesprungen zu sein. Fast könnte man denken, sie hätte Shuffle auf dem iPhone des Autors gedrückt. Das Ergebnis wäre ähnlich gewesen. Louisan traut sich. Da besteht kein Zweifel. Außerdem präsentiert sie neben deutschen Gassenhauern dieses Mal auch englische Classics. Bilderbuch und Helene Fischer? Auf jeden Fall! Backstreet Boys und Marianne Rosenberg? Why not? The Cure und Lionel Richie? Yes, please. Schamgrenze adé. Aber besser Edge als gar keinen Mut. Somit mag der völlig wilde Mix im ersten Moment zwar arg schräg wirken, ist aber quasi ein Geschenk von Annett an sich selbst, was wiederum konsequent ist.
Doch würden DJs auf Partys nur ihren eigenen Geschmack spielen, wären sie schnell arbeitslos. Schade ist letztendlich, dass trotz so viel Diversität der Sound zu homogen ausfällt. Gefühlt Zweidrittel des Werks bewegt sich im Bereich Latin. Hat man etwa eine neue Ausgabe der „Rhythms Del Mundo – Cuba“ aufgelegt? Qualitativ, wie bereits erwähnt, ist das Alles top eingespielt, aber auch schnell zu Ende erzählt. Spätestens ab der Mitte kann man sich viele Songabläufe denken. Gerade bei Coveralben ist aber stets das Motto „Mach es besser oder mach es komplett anders und überrasche“. Funktioniert, aber eben nur bei zwei bis drei Tracks.
Annett singt mit ihrer leicht lasziven, leicht kindlichen Schlafzimmer-Attitüde und nimmt damit einigen großen Hits einfach an Energie und Durchschlagskraft. Genau diese Stripped-Down-Art funktioniert beispielsweise bei „I Want It That Way“ (Backstreet Boys) ordentlich gut und passt auf Sängerinnen- und Arrangementseite. Dem entgegen steht eine viel, viel, viel zu lange Bossa-Nova-Version von „Bungalow“ (Bilderbuch), die einfach zu stark nach angezogener Handbremse klingt. Dass Frau Louisan durchaus aus ihren Mustern ausbrechen kann, bewies die letzte LP „Kleine Große Liebe“ gleich mehrfach – warum nicht hier erst recht? Ein bisschen 80s-New Wave? Fehlanzeige. Stattdessen klingen „Hello“ (Lionel Richie), „Bitter Sweet Symphony“ (The Verve), „(I Just) Died In Your Arms“ (Cutting Crew), „Words“ (F.R. David) und „Torn“ (Natalie Imbruglia) erschreckend ähnlich. Ein bisschen Mambo hier, ein wenig Rumba da – und zu viele ähnliche BPM-Zahlen.
Das Highlight ist – und jetzt müssen wir alle ganz stark sein – ein Helene Fischer-Cover. Jawohl. Und dann auch noch von „Atemlos Durch Die Nacht“. Wer dachte, es könnt nicht schlimmer kommen, soll es wagen und mal reinhören. Denn die Louisan-Version 2020 ist in der Tat wirklich geglückt und zeigt, dass die 7000x zu oft reingezogene Discofox-Bums-Nummer im passenden Mantel echt was kann. Leicht sphärischer Synthie-Balladen-Pop mit Vocodereffekten. Wow! Cool.
Viel mehr ist dann aber auch schon nicht. „Somewhere Over The Rainbow“ (Judy Garland) ist zuckersüß-verträumt, „Friday I’m In Love“ (The Cure) immerhin etwas flotter. Insgesamt ist aber Kitsch eher eine nette Idee zur Überbrückung, die wohlig dosiert auf Konzerten richtig gut ankommen wird, in Albumlänge aber zeigt, dass Louisan mit ihren eigenen Songs um Längen besser aufgehoben ist. Liebhaber*innen der Originale könnten sich ärgern – und Fans von Annett Louisan ein wenig enttäuscht sein.
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