Das Palladium in Köln ist bestuhlt. Ein wirklich sehr seltener Anblick. Für gewöhnlich tummeln sich hier ein paar tausend Leute und ärgern sich, wenn einer der Pfeiler genau in ihren Blickwinkel fällt. Das ist am 17.11., einem Sonntag, etwas anders. 49 Stuhlreihen sind aufgestellt, auf denen insgesamt 1200 Personen Platz nehmen. Zu sehen gibt es heute die 1,52m kleine Annett Louisan aus Havelberg in Sachsen-Anhalt.
15 Jahre ist Annett nun der Underdog der Deutsch-Popszene. Ihre humorigen Chansons, die mal in Richtung Jazz, mal in Richtung Swing und seit Neustem auch in Richtung New Wave schielen, haben bis heute ein Alleinstellungsmerkmal. Keine Künstlerin kommt hierzulande auch nur annähernd an den individuellen Sound heran. Das bringt selbstverständlich immer mal wieder Hater mit sich – aber genauso fast 1,5 Millionen verkaufte Platten und zig Gold- und Platinveredelungen.
Eigentlich gibt es für das Konzert nur eine Grundvoraussetzung: man sollte die Stimme von Frau Louisan mögen. Tut man dies, erlebt man in den stolzen 135 Minuten, die der Gig umfasst, unzählige Momente, die einen abholen. Louisan ist bei den Studioaufnahmen schon überdurchschnittlich, kippt aber in der Masse vielleicht ein wenig in die Monotonie. Live liefert die 42-Jährige aber nicht weniger als eine perfekte Vorstellung.
Das Publikum darf ungewöhnlich früh der gewünschten Musik lauschen. Eine Vorband fällt aus. Um Punkt 19h betritt die fünfköpfige, männliche Band die Bühne, bestehend aus zwei Gitarristen, einem Bassisten, einem Pianisten und einem Drummer. Gefolgt von Annett. Um 21:45h ist die Show vorbei, was eine erfrischende Abwechslung darstellt – immerhin reisen viele aus anderen Städten an und am nächsten Tag ist für die meisten Besucher der böse Montag und somit Arbeit angesagt. Durchschnittlich pendelt sich das Alter der Zuschauer wohl um die 40 ein. Viele Pärchen lehnen ihre Köpfe aneinander. Das Handy bleibt bis zum Ende des Konzerts meist in der Tasche und das Reden wird eingestellt. Dadurch entsteht schnell eine angenehm entspannende Atmosphäre.
Das Palladium kämpft bekanntlich gern mit Soundproblemen. Davon ist heute nichts zu bemerken. Ab Sekunde 1 sind alle Instrumente gekonnt abgemischt – und Annett glasklar. An den passenden Stellen bekommt sie Hall oder auch mal kleinere Stimmeffekte zugemischt; größtenteils klingt sie aber haargenau so wie auf Platte, was positiv überrascht.
25 Songs stehen auf der prall gefüllten Setlist. Der Großteil, nämlich 15 Titel, stammt aus dem aktuellen Doppelalbum „Kleine Große Liebe“ (lest HIER nochmal unsere Kritik), das auf der ersten CD ruhige, entspannte und jazzige Töne anschlägt und auf CD2 zwischenzeitlich mal richtig ausbricht und 80s-Sounds beinhaltet. Genau diese Teilung behält Annett auch in der Show bei. Bis auf einen Song befinden sich sämtliche Tracks von CD1 in der ersten Hälfte des Konzerts. Die Lieder von CD2 gibt es nach der 25-minütigen Pause.
Höhepunkte gibt es viele. Eigentlich fast durchgängig. Was mit einem sehr reduzierten Staging beginnt, gipfelt zum Ende hin in eine ausgelassene Tanzparty mit Fanchören. Videos braucht Annett nicht, auch nur wenige Requisiten. Stattdessen wird alles darangesetzt, den Texten mit viel Poesie und malerischen Bildern genügend Raum zu geben. Jedes Tamtam wäre zu viel. So sprechen Musik, Lyrik, stimmungsvolle Lichtkegel und ganz besonders Annetts Ausdruck Bände. Das ist nämlich ihre größte Waffe: gesanglich mag Annett Louisan nicht die anspruchsvollste und ausgereifteste Technik vorweisen können, aber in Interpretation macht man ihr nichts vor. Man kauft ihr jeden Song ab, sogar jede Zeile. Ganz egal, ob lustig, nachdenklich, tottraurig oder auch mal politisch. Annett transportiert erstklassig.
Auf Inhaltsebene liefert Louisan wie gewohnt deutsche Poesie at it’s best. Egal, ob Adjektivakrobatik in dem beliebten Klassiker „Eve“, melancholische Pärchensituationen in „Two Shades of Torsten“, Selbstironie in „Klein“ oder vorherrschende Panik vor einem anstehenden Date bei der operettenartigen Nummer „24 Stunden“. Eine Berg- und Talfahrt durch sämtliche Gefühle. „Ende Dezember“ ist zwar bereits zwölf Jahre alt, bekommt aber in einer tieferen Tonart ein noch schwereres Gewicht und gleicht einem Magic Moment. „Straße der Millionäre“ soll die Stimmung in Ostdeutschland nach der Wende repräsentieren. Diese lebensbejahende Zeit kreiert Annett auch mit dem Publikum und macht durch die Halle eine Polonaise. Künstler zum Anfassen. Wortwörtlich. Auch bei anderen Titeln läuft sie durch die Menge. „Haie“ zaubert Clubfeeling dank einer übergroßen angeleuchteten Discokugel. Zwar wird dieser und auch einige andere Titel im Sound der Bandmöglichkeiten angepasst, was aber keinen Abbruch tut. „Das Gefühl“ und „Das Spiel“ – besonders der letzterwähnte sollte jedem ein Begriff sein – klingen neu und unverbraucht, dank 2019er-Versionen. Dass selbst die Bandmember singen können, zeigt die A-cappella-Einlage „Dings“, bei der das Quintett um Louisan die Instrumente und den Background mit dem Mund übernimmt.
Mit „Spiel Zigeuner“ (Charles Aznavour) und „Reality“ (Richard Sanderson) schleichen sich auch zwei Coversongs in die Setlist. Beide meistert die Sängerin mit Leichtigkeit und verausgabt sich bei dem Ersten sogar mit ausdrucksstarkem Tanz. Das wird mit einem kaum enden wollenden Applaus belohnt, der Annett komplett überwältigt und ihr einige Tränen ins Gesicht kullern. Alles wirkt authentisch, ungezwungen, liebevoll, durchdacht und klug. Wortgewandte Reden über ihre Rolle als Mutter, Zuschauernähe, genug Raum für die Musiker und zig Soli, große Gesten, stilvoller Tanz, pure Sympathie. Was soll man da noch nörgeln?!
Wenn man wirklich etwas kritisieren muss, dann höchstens die Tatsache, dass ein oder zwei Lieblinge gefehlt haben. Kein „Das große Erwachen“, kein „Wer bin ich wirklich“, kein „Dein Ding“. Generell kein Song vom letzten Album „Zu viel Information“. Doch das fällt kaum bis gar nicht ins Gewicht, da ansonsten das gesamte Programm in sich stimmig erscheint. Annett Louisan beweist mit ihrer aktuellen Tour, dass sie völlig zurecht auch noch nach 15 Jahren eine riesige Fangemeinde besitzt. Ein Konzert mit Anspruch, das viele Konkurrenten abhängt, dabei echt, greifbar und bodenständig bleibt und sowohl auf menschlicher als auch musikalischer Ebene den Nerv trifft. Eins der ganz großen Höhepunkte in diesem bald endenden Jahr!
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Bild von Christopher.
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