Interview mit Von Wegen Lisbeth über “sweetlilly93@hotmail.com”

Beitragsbild zu Interview mit Von Wegen Lisbeth von Nils Lucas

Matthias Rohde scheint ein Faible für Frauen und deren Namen zu haben. Schaut man sich die Texte seiner Band Von Wegen Lisbeth an, liegt dieser Schluss zumindest nahe. Lisa, Lina, Sweet Lilly, Chérie…dazu Herzschmerz-Storys über Eifersucht, verflossene Liebe und das Vermissen. Doch der flüchtige Blick trügt. Hinter der oberflächlichen Fassade verbirgt sich nicht selten ein tieferer Inhalt. Da scheint dann auf einmal Social-Media-Kritik durch, kriegen Gentrifizierungs-Prozesse und der liberale Finanz-Kapitalismus ihr Fett weg und darf sich das eigene „Gutmenschtum“ von zweifelhaften Charaktereigenschaften abgrenzen.

Es ist ein bewölkter Herbsttag. Wir befinden uns gleich in der Nähe des Wiesbadener Hauptbahnhofes, einem grauen, alten Kopfbahnhof. Heute Abend werden Von Wegen Lisbeth nebenan ein Konzert ihrer 31-Shows umfassenden „Britz California“-Tour spielen. Schon am Vortag hat das Quintett in Wiesbaden Halt gemacht. Die Karten für beide Shows waren bereits Wochen vorher vergriffen. So ist das eben auf dieser Tour. Lieber tritt man drei Mal in einer kleineren Halle auf, als in die großen Mehrzweckdinger zu gehen. Dazu aber später mehr. In der hessischen Landeshauptstadt ist diesmal der sympathische Schlachthof dran. Etwa vier Stunden vor Konzertbeginn sitzt Matthias Rohde im oberen Geschoss des Backstages. Er trägt eine schicke Panto-Brille, schlürft zunächst an einem Kaffee, später holt er sich eine Mate. Er ist höflich, lacht viel und beantwortet in knappen Worten geduldig alle Fragen, die wir ihm stellen.

Von Aktualität und Katharsis

Nun aber zurück zu den Texten seiner Band, die er laut eigener Aussage nur schreibt, wenn er muss. Von kathartischer Seelenbefreiung kann hier also nicht die Rede sein. Neben den Inhalten Gesellschaftskritik und zwischenmenschlichen Beziehungen – Rohde spricht in dem Zuge von „Alltagsbeobachtungen“ – schleicht sich in seine Texte regelmäßig der Zeitgeist ein. Das reicht von angesagten Markennamen über Verweise auf hippe Dating-Apps zu sprachlichen Schnitzereien in Richtung Marketing-Sprech. Gerade in solch schnelllebigen Zeiten können derart in der Zeit verankerte Bezüge doch recht plötzlich an Aktualität verlieren. Noch auf dem 2016er-Debüt „Grande“ besingt Rohde beispielsweise die Kleinanzeigen-Plattform kijiji.de. Die läuft jedoch schon seit 2009 unter einem ganz anderen Namen weiter. Ob die Generation Z den Verweis dann überhaupt noch versteht? Wir fragen den Sänger, ob er die Gefahr sieht, dass seine Texte irgendwann an Relevanz einbüßen. Er antwortet:

„Da habe ich tatsächlich noch nie drüber nachgedacht. Vielleicht wenn dann mal in einem ganz absurden Kontext, wenn du das Wort „Tinder“ oder so verwendest. Da fragst du dich dann schon mal, ob die Leute in zehn Jahren noch wissen, was das ist. Das finde ich ehrlich gesagt aber überhaupt nicht schlimm. Ich finde das eher lustig.“ – Matthias Rohde

Auf den Erfolg seiner Band wirken sich die flotten gesellschaftlichen Entwicklungen schon mal nicht aus. Vielmehr scheint es als beflügele die Rastlosigkeit der Social-Media-Generation die Band nur noch weiter. Vielleicht braucht es neben der Schnelllebigkeit eben bei Zeiten einen in der Vergangenheit verankerten Ruhepol, der hier in den Texten der Gruppe liegt. Der Erfolg Von Wegen Lisbeths gibt dieser Theorie recht. Die gebuchten Konzerthallen werden zunehmend größer. Standen 2016 noch Clubs an, so wichen diese im Folgejahr zunächst kleinen, nun größeren Hallen und im nächsten Jahr kleinen Arenen. Wie nimmt die Band dieses Wachstum wahr? Kam die Popularität aus dem nichts oder hat sich diese stufenweise aufgebauscht?

„Für uns als Band trifft wahrscheinlich eher stufenweise zu. Wir hatten nämlich nie den einen Moment, in dem wir gemerkt haben, dass wir richtig durch die Decke gehen. Erst kamen mehr Leute, dann noch ein paar mehr, dann konnten die die Texte mitsingen, dann wurde es nochmal mehr…“ – Matthias Rohde

Trotzdem erinnert sich Rohde auch an Situationen, die ihm rückblickend betrachtet doch surreal vorkommen. Eine davon ereignete sich vor zwei Jahren – im Jahr 2017 – auf dem nahe Leipzig gelegenen Highfield Festival. Damals sollten Von Wegen Lisbeth am frühen Nachmittag auftreten. Auf den Plakaten, die die Veranstaltung beworben, stand der Name der Gruppe in der drittletzten Zeile. Die Festivalmacher gingen also nicht wirklich davon aus, dass Von Wegen Lisbeth ein großes Zugpferd seien. Die Band sollte sie vom Gegenteil überzeugen. Während des 45-minütigen Konzertes war es vor der Bühne so voll wie sonst nur bei den Headlinern. Die Menge tanzte und sang eifrig mit. In diesem Jahr durfte die Band erneut auf dem Festival spielen. Diesmal natürlich als einer der Headliner am Abend.

Vom Chaos auf die großen Festivalbühnen

Dabei hatte ein Industrieinterner der Band einst prophezeit, dass sie mit ihrer Arbeitsmoral nicht weit kommen würde. Man sei zu chaotisch, hieß damals der Vorwurf. Wie kam es nun aber doch dazu, dass die großen Festivalbühnen auf dem Plan stehen und man bei einem Major-Label untergekommen ist?

„Wir haben tatsächlich mehr geprobt. Der Typ meinte unsere Musik sei eigentlich ganz cool, aber wir viel zu besoffen (…). Dann waren wir ein bisschen angepisst. So ein gelackter Major-Label-Dude will uns das sagen! Fick dich!“ – Matthias Rohde

Auch heute noch müssen sich Von Wegen Lisbeth regelmäßig zum Proben treffen, wie der sympathische Frontmann erklärt. Sein Instrument richtig professionell gelernt hat nämlich keines der fünf Bandmitglieder. Diesen damals gewonnenen Ehrgeiz merkt man „sweetlilly93@hotmail.com“ an. Das zweite Studioalbum der Berliner, das gleichwohl den Anlass für die aktuellen Tourneen bildet, kommt musikalischer daher als sein hittiger Vorgänger und scheint streckenweise bewusst auf eingängige Hymnen zu verzichten. Da darf ein Song wie „30 Segways, ein Ferrari“ auch mal zweieinhalb Minuten rein instrumental vor sich hin plätschern.

Drei Jahre Entwicklungszeit

Drei Jahre lang ließen Von Wegen Lisbeth sich für den „Grande“-Nachfolger Zeit. Sprechen andere Bands ihrem Zweitling oft zügig den häufig propagierten Druck ab, so betont Rohde ganz offen, dass es ihm und seiner Band nicht leicht fiel die unzähligen Erwartungen abzuschütteln. Diese bauschten sich, wie man zunächst vermuten könnte, jedoch nicht von Label-Seite – hinter der Band steht der Major-Riese Sony – auf, sondern kamen von Fans, Freunden und sich selber. Gerade sich davon frei zu machen, scheint dem Quintett gelungen zu sein. Statt ein zweites „Wenn Du Tanzt“ oder „Meine Kneipe“ zu schreiben, lässt die Band unterschiedliche Einflüsse zu und integriert diese in ihren markanten Sound. Einen wirklichen Plan verfolgt sie dabei nicht – abgesehen von dem Mantra sich eben nicht den Erwartungen von außen hinzugeben.

Ein zunächst ungewohnt frischer Wind weht durch den Albumopener „Wieso“, der von seinen Soundspielereien deutlich an die Musik der 1980er-Jahre angelegt ist. Ganz neu ist dieser Einfluss nicht. Schon in ihren Anfangstagen als Harry Hurtig – noch als Schülerband – griffen die damals blutjungen Musiker auf quirlige Synthesizer und Keys zurück. Rohde kann genau lokalisieren woher seine Liebe zu dieser leicht eingestaubten Populärmusik kommt:

„Ich bin quasi damit aufgewachsen. Das nicht, weil ich so alt bin, sondern weil ich immer einen Radio-Sender gehört habe, wo 80er rauf und runter liefen. Das ist die erste Musik, die ich als Kind wahrgenommen habe. Sowas und 70er-Zeug.“ – Matthias Rohde

Zumindest was den Produzentenjob angeht, setzen Von Wegen Lisbeth für „sweetlilly93@hotmail.com” auf alte Bekannte. Wie schon auf dem Debüt arbeitete man diesmal erneut mit Robert Stephenson zusammen. Den kennen Fans deutschsprachiger Musik vielleicht schon wegen seines Mitwirkens auf Die Ärzte-, Irie Révoltés– oder Kraftklub-Platten. Bevor es für drei Monate ins Studio ging, lud das Quintett Stephenson in den eigenen Proberaum ein, um dort ein letztes Mal gemeinsam an den neuen Stücken zu feilen. Der Produzent griff dabei weniger in die Arrangements oder Notationen der Songs als deren Strukturen ein. Für Stephenson, den der Sänger immer nur freundschaftlich „Robi“ nennt, hat Rohde nur lobende Worte übrig:

„Was Robi gut macht: Er hört der Band zu. Er achtet darauf, dass das Ergebnis so ist, wie die Band das will. Viele Produzenten haben ein krasses Ego und wollen ihren Style durchdrücken. So ist er zum Glück gar nicht. Cooler Typ!“ – Matthias Rohde 

Der nächste Schritt

Im Herbst 2020 gehen Von Wegen Lisbeth erneut mit ihrem Zweitling auf Tour. Da geht es dann noch einmal in größere Locations. Der Druck der Nachfrage ist einfach zu groß. bevorzugte man es dieses Jahr noch vor lieber mehrfach in einer kleineren Halle aufzutreten, so stehen dann wirklich die großen Mehrzweckhallen auf dem Plan. In Interviews hatte die Band in der Vergangenheit schon mehrfach betont, dass sie die kleinen Clubs immer vorziehen würde. Hat man nun also den eigenen Willen hinter die Nachfrage gestellt?

Ab irgendeinem Punkt macht das logistisch einfach mehr Sinn. (…) Du kannst leider nicht fünf Mal nacheinander in dem gleichen Laden spielen. Dann nimmst du leider doch irgendwann die große Halle. Wir haben unsere Ideale verraten. (lacht) – Matthias Rohde

Auch wenn die Clubs der Band mehr Spaß bereiten, so zeugten die vielen großen Festivalauftritte der vergangenen Jahre davon, dass Von Wegen Lisbeth durchaus auch auf den ganz großen Bühnen funktionieren. Von der reinen Spielzeit her, sind die Sets der Berliner eh lange Arena-reif. Schon früh neigte die Band dazu, auf ihren Headline-Shows nahezu ihre gesamte Diskographie zum Besten zu geben. Dieses Repertoire wurde nun mit „sweetlilly93@hotmail.com” erneut um 13 Songs erweitert. Kein Wunder, dass man nun jeden Abend fast zwei Stunden lang auf der Bühne steht. Damit werden die Arenen im nächsten Jahr sicherlich ebenfalls Ausverkauf vermelden dürfen – auch wenn die Band vermutlich lieber ein paar Shows in kleinere Hallen runterverlegen würde.

Weiter unten gibt es das vollständige Transkript des Interviews.

Das Album “sweetlilly93@hotmail.com” kannst du dir hier kaufen.*

Tickets für die kommende Tour (wurde in das Jahr 2021 geschoben) gibt es hier.*

Und so hört sich das an:

Website / Facebook / Twitter / Instagram

Von Wegen Lisbeth live 2021:

08.04.2021 Kiel, Max Nachttheater
09.04.2021 Magdeburg, AMO
10.04.2021 Erfurt, Club Central
11.04.2021 Würzburg, Posthalle
12.04.2021 Basel, Volkshaus (CH)
14.04.2021 Innsbruck, Music Hall (AT)
15.04.2021 Salzburg, Szene (AT)
16.04.2021 Regensburg, Eventhall Airport Obertraubling
17.04.2021 Luxemburg, Den Atelier (LU)
20.04.2021 Wiesbaden, Schlachthof
21.04.2021 Münster, Skaters Palace
23.04.2021 Hamburg, Sporthalle
24.04.2021 Berlin, Max-Schmeling-Halle
29.04.2021 Leipzig, Haus Auensee
30.04.2021 München, Zenith
01.05.2021 Ludwigsburg, MHP Arena
02.05.2021 Köln, Palladium
04.06.2021 Dresden, Junge Garde

Transkription des Interviews:

minutenmusik: In einem Interview habt ihr einmal gesagt, dass es anstrengend ist, lange am Stück auf Tour zu sein. Jetzt spielt ihr momentan über einen Monat pausenlos Shows. Wie schaffst du es jetzt auf eurer längsten bisherigen Tournee damit klarzukommen? Kommst du damit klar?

Matthias: Wir haben das Glück, dass unsere Crew immer weiter gewachsen ist. Deshalb werden uns gewisse Sachen inzwischen abgenommen. Wir müssen beispielsweise nicht mehr auf- und abbauen, was wir früher immer gemacht haben. Dadurch ist das für uns an vielen Stellen entspannter geworden. 

Trotzdem ist ein ganzer Monat schon heftig. Gerade geht das aber noch ganz gut, auch wenn wir ein wenig im Mitte-Tief angekommen sind. Am Anfang ist mit den neuen Songs noch alles neu und aufregend. Das hat sich mittlerweile alles eingetrudelt. Zum Ende hin wird das dann nochmal ein bisschen spannender.

minutenmusik: In einem anderen Interview hast du mal gesagt: “Wenn du in irgendwelchen Mehrzweckhallen spielst, ist das einfach nicht geil.” Im nächsten Jahr geht es für euch noch einmal auf Tour. Die führt euch dann unter anderem in die Halle Münsterland in Münster, die Jahrhunderthalle in Frankfurt und die Max-Schmeling-Halle in Berlin. Das sind alles dann doch Mehrzweckhallen. Haben sich die Umstände verändert, habt ihr euch verändert oder wie kam es dazu, dass ihr nun doch in diese „irgendwelche Mehrzweckhallen“ geht?

Matthias: Ab irgendeinem Punkt macht das logistisch einfach mehr Sinn. Ich bin der Meinung, dass es immer geiler ist in den kleinen Räumen zu spielen. Dafür haben wir uns für die aktuelle Tour auch entschieden. In Hamburg haben wir drei Mal in der Großen Freiheit 36 gespielt. Jedes dieser Konzerte war supergeil. Wenn wir einmal in einer großen Halle da gespielt hätten, wäre das nicht annähernd so geil gewesen. Deshalb ist das auch für alle besser: Für die Leute, die auf das Konzert gehen und auch für uns. Das macht einfach viel mehr Bock.

Irgendwann geht das aber nicht mehr. Du kannst leider nicht fünf Mal nacheinander in dem gleichen Laden spielen. Dann nimmst du leider doch irgendwann die große Halle. Wir haben unsere Ideale verraten. (lacht)

minutenmusik: Was eine Schande! Ihr habt seit der Veröffentlichung eures Debütalbums „Grande“ einen großen Bekanntheits-Schub gemacht. So von außen betrachtet finde ich sowohl, dass das sehr schrittweise vonstatten ging. Wenn man sich zum Beispiel die Locations, die ihr immer auf Tour gespielt habt, anschaut, sind die immer stufenweise gewachsen. Auf der anderen Seite kam bei Festival-Shows dann schon relativ aus dem Nichts eine riesige Menge Menschen zu euren Auftritten. Ich erinnere mich noch an euren Gig auf dem Highfield Festival 2017, bei dem um 15 Uhr schon die komplette Bühne wie überlaufen war. Wie hast du das erlebt? Was von dem beiden trifft er zu?

Matthias: Für uns als Band trifft wahrscheinlich eher stufenweise zu. Wir hatten nämlich nie den einen Moment, in dem wir gemerkt haben, dass wir richtig durch die Decke gehen. Erst kamen mehr Leute, dann noch ein paar mehr, dann konnten die die Texte mitsingen, dann wurde es nochmal mehr…

Rückblickend betrachtet war dieses Highfield-Ding beispielsweise dann wiederum völlig absurd. Wir standen da auf der Bühne und haben Soundcheck gemacht und sahen nur, wie auf einmal richtig viele Leute zu der Bühne wandern. Wir dachten erst die wollen alle zu einer anderen Band. Das war schon richtig krass. Soetwas macht man sich in dem Moment dann aber nicht bewusst. Klar, es kamen immer mehr Leute zum Konzert, für uns hat es sich aber nie so angefühlt als hätte das auf einmal den krassen Sprung gemacht. Wir kriegen ja auch etwas früher mit, wie viel Zeit und Arbeit in der Musik steckt. Wenn du jahrelang vor zehn Leuten stehst, dann weißt du das ganz gut zu schätzen.

minutenmusik: Ein Major-Label-Mensch war vor einigen Jahren bei einem eurer ersten Konzerte und hat euch im Nachhinein gesagt, dass ihr zu chaotisch seid und noch an euren Live-Qualitäten arbeiten müsstet, wenn ihr Erfolg haben wollt. Den Erfolg habt ihr mittlerweile und außerdem seid ihr gerade bei einem Major-Label, nämlich der Sony, untergekommen. Was habt ihr als Band geändert, dass das doch hingehauen hat?

Matthias: Wir haben tatsächlich mehr geprobt. Der Typ meinte unsere Musik sei eigentlich ganz cool, aber wir viel zu besoffen und der Auftritt mega scheiße gewesen. Dann waren wir ein bisschen angepisst. So ein gelackter Major-Label-Dude will uns das sagen! Fick dich!

Danach haben wir uns aber wirklich zwei- oder dreimal die Woche zum Proben getroffen. Das haben wir sonst nicht gemacht. Das hat sich anscheinend gelohnt.

minutenmusik: Probt ihr immer noch so regelmäßig?

Matthias: Ja. Müssen wir auch. Wir sind ja keine richtigen Musiker. Wir haben das ja nie gelernt. Wir haben unsere Instrumente alle Punk-Rock-mäßig angefangen. Deshalb müssen wir immer noch richtig heftig proben, damit das einigermaßen okay klingt. Da beneide ich manchmal andere Bands, die ihr Zeug einfach auf Knopfdruck spielen können. Das ist bei uns leider etwas anders.

minutenmusik: Ich würde jetzt ganz gerne etwas weg von dem ganzen Tour- und Erfolg-Ding und etwas mehr über „sweetlilly93@hotmail.com” sprechen. Mir ist musikalisch aufgefallen, dass ihr in manchen Momenten die großen Hymnen misst und dafür etwas mehr Musikalität in eure Songs einfließen lasst. Mir fällt da zum Beispiel das lange instrumentale Outro von „30 Segways, ein Ferrari“ oder auch der recht sperrige Chorus des Titelsongs ein. Wie sieht das aus deiner Sicht aus?

Matthias: Ich sehe das ähnlich. Wir hatten drei Jahre Zeit dieses Album zu machen und haben indessen nur Musik gemacht. Für uns war deshalb klar, dass es eine musikalische Weiterentwicklung geben wird und wir nicht nochmal exakt das gleiche machen.

minutenmusik: Und du hast das Gefühl, das ist euch gelungen? Das Album ist ja schon ein paar Tage draußen.

Matthias: Ich glaube wir hätten das Album nicht veröffentlicht, wenn wir nicht okay damit gewesen wären. Es stimmt auch voll, dass wir nicht Wert darauf gelegt haben, den „einen Hit“ auf das Album zu packen. Wir haben einfach über die Jahre gesammelt, was wir an Songs hatten.

Wir haben auch versucht uns von Erwartungen frei zu machen. Das ist bei der zweiten Platte gar nicht so easy. Es gab schon Leute, die ankamen und wollten, dass wir mehr Songs schreiben, die einem bestimmten Muster entsprechen.

minutenmusik: Merkt man da gerade den Einfluss des Majors?

Matthias: Ne, vom Label gar nicht. Das quatscht uns da zum Glück überhaupt nicht rein. Das ist eher so der Druck von sich selber, von Freunden und von Fans.

minutenmusik: Als das Album dann vor einiger Zeit akut anstand: Wie seid ihr das angegangen? Gab es da ein Konzept oder einen Plan, den ihr im Kopf hattet?

Matthias: (überlegt) Ne, tatsächlich gar nicht. Der einzige Plan, den wir uns gemacht haben, war, dass wir uns nicht vorschreiben lassen wollen, wie wir das machen. Dann haben wir einfach gemacht wie immer. Wir hatten nichtmal eine Richtung, wo wir alle hinwollten – 80er-Musik, Post-Rock oder sonstwas. Das hatten wir nie. So haben wir nie über Mukke geredet.

minutenmusik: Ihr habt die Platte mit demselben Produzenten aufgenommen wie „Grande“, nämlich mit Robert Stephenson. Wie lief die Arbeit im Studio mit ihm ab? Wie groß ist der Produzenteneinfluss auf „sweetlilly93@hotmail.com“?

Matthias: Wir hatten das Glück, dass wir Robi [Anmerkung: gemeint ist Robert Stephenson] von der ersten Platte und der EP davor schon kannten. Das ist quasi ein Kumpel von uns. Der hat einen kleinen Raum, der komplett mit Instrumenten zugestellt ist. Da sitzt man dann rum. Wenn wir ihn nicht mögen würden, würde das überhaupt nicht funktionieren. Man sitzt nämlich sehr viel Zeit aufeinander.

Bevor wir ins Studio sind, haben wir die Sachen bei uns im Bandraum geprobt. Da war Robi sehr aktiv dabei. Da war er dann zwei Wochen dabei und hat seinen Senf dazugegeben. Er würde uns aber nie vorschreiben, irgendwelche Tonhöhen oder so zu verändern. Er schaut da eher auf die Song-Strukturen und schlägt mal vor, vielleicht noch einen C-Part zu ergänzen.

minutenmusik: Ein krasser Pop-Produzent hätte das „30 Segways, ein Ferrari“-Outro wohl auf zehn Sekunden gekürzt.

Matthias: Klar! Was Robi gut macht: Er hört der Band zu. Er achtet darauf, dass das Ergebnis so ist, wie die Band das will. Viele Produzenten haben ein krasses Ego und wollen ihren Style durchdrücken. So ist er zum Glück gar nicht. Cooler Typ!

minutenmusik: Wie kann man sich bei euch den Songwriting-Prozess vorstellen? Auch da gibt es von Band zu Band ja große Unterschiede. Die Leoniden schreiben beispielsweise komplett am PC. Andere Acts dann aber wiederum komplett im Proberaum.

Matthias: (überlegt) Wo du das mit den Leoniden ansprichst, mache ich tatsächlich auch sehr viel am PC. Dann habe ich meistens ein paar Akkorde und Melodien am Start, was wir dann zusammen live spielen. Der Song entwickelt sich dann eh nochmal neu und jeder guckt nochmal, worauf er Bock hat.

Am PC erstmal zu arbeiten macht auch voll Sinn. Das hat den riesen Vorteil, dass du super schnell kreativ sein kann. Du musst eben nur die Maus bewegen und nicht zehn Meter in die Ecke laufen und die Gitarre anstöpseln. Diese Schnelligkeit ist manchmal sehr förderlich.

minutenmusik: Ich finde, dass „Wieso“ einen sehr deepen 80s-Vibe hat. Der Einfluss ist nicht ganz neu, hört man sich zum Beispiel die alten Harry Hurtig-Sachen an.

Matthias: Woah, du bist gut informiert!

minutenmusik: Was fasziniert dich an dem 80er-Sound?

Matthias: Das kann ich dir gar nicht so genau sagen. Ich bin quasi damit aufgewachsen. Das nicht, weil ich so alt bin, sondern weil ich immer einen Radio-Sender gehört habe, wo 80er rauf und runter liefen. Das ist die erste Musik, die ich als Kind wahrgenommen habe. Sowas und 70er-Zeug.

Das passt nicht zu uns, aber ich glaube, was ich jetzt geil finde, ist, dass die Musik sehr Pathos-lastig ist. Damals hatten die keinen Schiss davor auch mal super kitschig oder super drüber zu sein. Das finde ich geil.

minutenmusik: War das familienbedingt, dass du damals immer genau den Radio-Sender gehört hast? 

Matthias: Ja, genau.

minutenmusik: Bei mir ist das häufig so, dass ich gegen Sachen, die meine Eltern als ich klein war super fanden, eher eine Abneigung entwickelt habe. Deshalb konnte ich mit alter Musik ganz lange nichts anfangen. Wie war das bei dir?

Matthias: Wenn du Mucke machst, ist total prägend, was du als Kleinkind für Musik aufnimmst. Zumindest glaube ich das. Ich hatte auch eine Trotzphase, in der ich nur Punk gehört habe und damit nichts zu tun haben wollte. Beim Musikmachen kommt man darauf irgendwie immer wieder zurück.

minutenmusik: Das kann ich mir gut vorstellen. Ich würde jetzt als nächstes gerne auf deine Texte zu sprechen kommen. Die gehen ausschließlich auf dich zurück. In was für Situationen textest du?

Matthias: (überlegt) Dann, wenn ich muss. (lacht) Das sind ja alles Alltagsbeoabachtungen. Irgendwie schnappe ich manchmal etwas auf oder etwas setzt sich fest, was ich für beachtenswert halte und dann habe ich einen Satz oder ein Bild. Was sich da festsetzt, dafür gibt es gar kein Muster. Daraus mache ich dann den Text fertig. Manchmal weiß ich währenddessen noch gar nicht, wo das hin soll. Das kann etwas fies sein, weil du eventuell schon eine ganze Strophe geschrieben hast, aber gar nicht weißt, was du damit eigentlich aussagen willst. (lacht)

minutenmusik: Vielleicht solltest du eher Battle-Rap machen.

Matthias: Ja, das wäre viel leichter!

minutenmusik: Du hast jetzt eben schon bemerkt, dass eure Texte vor allem Alltagsbeobachtungen sind. Ich finde viele Zeilen sind vor allem aber sehr zeitgenössisch in der Wortwahl und den Motiven, die vorkommen. Nun leben wir in Zeiten, in denen sich die Gesellschaft und auch die Kunst sehr schnell weiterentwickeln. Wie schätzt du die Gefahr ein, dass zeitgenössische Texte nicht mehr im Hier und Jetzt stattfinden und dadurch an Relevanz verlieren?

Matthias: (überlegt) Da habe ich tatsächlich noch nie drüber nachgedacht. Vielleicht wenn dann mal in einem ganz absurden Kontext, wenn du das Wort „Tinder“ oder so verwendest. Da fragst du dich dann schon mal, ob die Leute in zehn Jahren noch wissen, was das ist. Das finde ich ehrlich gesagt aber überhaupt nicht schlimm. Ich finde das eher lustig.

Ich höre mir jetzt auch noch die frühen Seeed-Sachen an, die von der Wortwahl sehr zeitgenössisch und nah an dem, wie wir früher auch geredet haben, dran waren. Das kann ich mir heute immer noch anhören. Ich finde nicht mehr alle Sachen von der Mucke her geil, aber ich finde es nicht unangenehm, dass das so nah am Zeitgeist ist.

minutenmusik: Du erwähnst auf der ersten Platte ja zum Beispiel auch „kijiji.de“.

Matthias: Stimmt, das gibt es nicht mehr. (lacht)

minutenmusik: Genau, ich hatte das die Tage nämlich deshalb noch gegooglet. Daraus ist jetzt eBay-Kleinanzeigen geworden.

Matthias: Genau, das war nämlich auch so etwas wie Kleinanzeigen. Das gab es damals noch, als ich den Text zu „Drüben Bei Penny“ geschrieben habe.

minutenmusik: Im Vergleich zu „Grande“ drehen sich auf „sweetlilly93@hotmail.com” weniger Texte um das Oberthema „Frauen“. War das eine bewusste Entscheidung? Wie bist du das angegangen?

Matthias: Ne, das war auf keinen Fall eine bewusste Entscheidung.

minutenmusik: Empfindest du das denn auch so?

Matthias: Ne, aber ich denke da auch nicht drüber nach. Mir haben nach „Grande“ immer mehr Leute gesagt, dass ich so viel über Frauennamen singen würde. Wenn ich mir das jetzt im Nachhinein durchlese, dann merke ich das natürlich auch. Aber ansonsten mache ich diese Texte und beschäftige mich danach dann nicht mehr auf so eine Weise damit.

Genauso war das jetzt bei der zweiten Platte keine bewusste Entscheidung mehr oder weniger über Frauen-Themen oder -Namen zu singen. In die Texte kommt immer das, was mich gerade am meisten beschäftigt.

minutenmusik: Das ergibt Sinn.

Matthias: Auf der zweiten Platte gibt es ein sehr persönliches Liebeslied: „Staub und Schutt“. Für mich ist das ein völlig offensichtliches Liebeslied, weil ich das so doll gefühlt habe. Mehrere Leute kamen jetzt aber schon an und meinten, dass das ja voll das Gentrifizierungs-Ding sei.

minutenmusik: Das habe ich auch gedacht!

Matthias: Das finde ich so absurd! Das ist total schön, dass andere Leute in die Texte andere Sachen hereininterpretieren, als ich sie gemeint habe. Das Ding war für mich aber völlig offensichtlich. Vielleicht werden die Frauen-Sachen also nur anders thematisiert.

minutenmusik: Gerade weil dieses Gentrifizierungs-Thema auf der Platte ja dann doch seinen Platz hat, ist oftmals der Gedanke gar nicht so abwegig, das damit zu verbinden. Du arbeitest in dem Song ja auch mit Abriss-Methaphern.

Matthias: Das stimmt natürlich. (lacht)

minutenmusik: Ich habe jetzt noch ein paar Songzeilen von euch, zu denen ich ein paar nicht so wirklich ernstgemeinte Fragen stellen mag. „Aber die Leute hier die nerven mich, die sind mir zu gesellschaftlich.“ (Aus „Als Ich Erfuhr, Dass Ich Ein Schaaf War“ von Harry Hurtig – https://www.youtube.com/watch?v=l8SeoZtTl74)

Matthias: (lacht)

minutenmusik: „sweetlilly93@hotmail.com” spricht ebenfalls einiges an, was dich nervt. Abgesehen von der Gentrifizierung, die auch genügend Platz eingeräumt bekommt, was nervt dich so richtig an unserer Gesellschaft?

Matthias: (überlegt) So viel, Alter! Gerade aktuell der stabile Rechtsruck, der durch das Land weht.

minutenmusik: „Die Beatsteaks haben ein Live-Album gemacht und ich schmier immer noch zu viel Butter auf die Brote.“ (aus „Dicka Beat Mit Wurst“ von Harry Hurtig) Was interessiert dich an aktuellen Hype-Themen überhaupt nicht?

Matthias: (überlegt) Neulich kam ich mir richtig alt vor. Kennst du TikTok?

minutenmusik: Das ist eine App, oder? Ich habe aber keine Ahnung, was man damit macht.

Matthias: Genau. Ich habe auch überhaupt keine Ahnung! Das ist momentan anscheinend aber ein richtig fettes Ding. Anscheinend schon fast auf Instagram-Größe. Da kam ich mir schon richtig alt vor.

minutenmusik: So, nächstes Zitat: „Geh ruhig pumpen, ich bin betrunken. Da werd ich wieder Alkoholiker.“ (aus „Dieta“ von Harry Hurtig)

Matthias: (lacht) Das sind so starke Lines!

minutenmusik: Wie viel Alkohol fließt bei euch auf Tour? Gibt es die Gefahr als Alkoholiker zu enden?

Matthias: Ja, auf jeden Fall! Die Gefahr ist sehr groß. Wobei, wir haben uns jetzt ein bisschen zusammengerissen, weil wir diesmal jeden Abend fast zwei Stunden auf der Bühne stehen. Da guckt man dann schon mehr, dass man seine Kräfte schont. Aber klar: Manchmal wird danach gefeiert und dann bist du am nächsten Tag im Arsch.

minutenmusik: Apropos „zwei Stunden“. Ihr habt sehr früh schon verhältnismäßig lange Konzerte gespielt, in denen ihr nahezu eure gesamte Diskographie durchgezockt habt. Ist das ein Ziel eurer Live-Shows, das ihr euch gesetzt habt?

Matthias: Auf jeden Fall. Ich fand das immer kacke, wenn man auf ein Konzert einer Band gegangen ist, die man richtig geil fand, und die dann nur eine Stunde gespielt haben. Wir haben auf unseren eigenen Konzerten schon immer alles gespielt, was wir können. Für diese Tour gibt es jetzt vier bis fünf Songs, die wir nicht spielen, weil wir die nicht mehr feiern. Aber sonst spielen wir wirklich alles.

minutenmusik: „Kafka Luise“ ist rausgeflogen.

Matthias: Genau. Den feiern wir nicht mehr. (lacht) Wobei wir mal überlegt hatten, ob wir den nicht nochmal rauskramen.

minutenmusik: Nächstes Zitat: „Sie ist so unbeschreiblich schön und dazu so unfassbar schlau. und ihr perfekter, nahezu makelloser Körperbau.“ (aus „Anne Will“ von Harry Hurtig)

Matthias: (lacht) Das haben wir geschrieben, da waren wir 14 oder 15!

minutenmusik: Bist du immer noch sad, dass du ohne Anne Will bist?

Matthias: Sehr sad, ja. Ich finde die immer noch toll.

minutenmusik: Das wars. Ich danke dir sehr für das Gespräch.

Die Rechte für das Beitragsbild liegen bei Nils Lucas.

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