Quasi Urlaub – Enter Shikari im Interview zu “A Kiss For The Whole World”

Pressefoto von Enter Shikari

Ein Wolken verhangener Apriltag in der Kölner Südstadt. Zweihundert Meter weiter kreuzen sich am Barbarossaplatz die Bahnlinien 16, 18 sowie 15 und 12. Im Luxor herrscht ähnlich geordnetes Chaos. Transportboxen verteilen sich im Raum während ein paar Menschen eine aufwändige Lichtkonstruktion auf eine eigentlich viel zu kleine Bühne hieven. Es läuft ohrenbetäubend laut irgendetwas, das Country oder Blues sein könnte, würde man mehr als Stimme und Rhythmus erahnen können. Das Interview findet deshalb nicht in der Venue statt. Stattdessen geht es in den Tourbus, in eine Lounge im Obergeschoss. Dort sitzt Rory Clewlow, Gitarrist der britischen Vielgenre-Band Enter Shikari, eine Cap auf dem Kopf, etwas zurückhaltend, mit offenem und aufmerksamen Blick.

Das Luxor dient Clewlow und seinen drei Mitstreitern am heutigen Abend als erlebbare Marketingfläche. Zwei Wochen später wird das siebte Studioalbum der Briten erscheinen, ein halbstündiger Überschlag von Alternative-Rock zu Hyper-Pop zu Drum & Bass zurück zum Hardcore. Knapp 500 Fans wird man heute drei erste Songs aus dem Album vorspielen, zusätzlich einen Zusammenschnitt aus der bisherigen Diskographie. Es hat keine zehn Minuten gedauert, da waren alle Tickets vergriffen. Entsprechend euphorisch treten sich Band und Fans schlussendlich auch gegenüber: Wer da wen feiert, bleibt eine ungeklärte Frage.

“A Kiss For The Whole World”, wie Enter Shikari besagtes Album benannt haben, passt auch fernab seines Titels zu dieser Gegenliebe, die sich Fans und Musiker reziprok zurückwerfen. Wie Clewlow berichten wird, wollte die Band einen bewussten Gegenentwurf zu den deprimierenden Pandemiejahren bieten, Optimismus verstreuen. Doch das erzählt er am besten selbst. Es folgt: Ein Gespräch über Albumaufnahmen, die mehr Urlaub als Arbeit sind, eigenwillige Entscheidungen und Vermengungen von Gitarrenmusik und Electronica.

minutenmusik: Ich möchte zuerst über den Entstehungsprozess des neuen Albums sprechen. Das Album klingt sehr triumphal und euphorisch, ist sehr energiegeladen und positiv. Könntest du vielleicht ein bisschen darauf eingehen, wie dieses Stimmungsbild zustande gekommen ist?

Rory Clewlow: Während der Pandemie haben wir überhaupt keine neue Musik geschrieben. Das lag daran, dass wir seit der Gründung der Band ständig auf Tour waren. Daraus nähren wir uns. Vor Publikum zu spielen entfacht in uns das, was wir brauchen, um Musik machen zu können, diese Begeisterung. Wenn wir also nicht vor Publikum spielen, sind wir unfähig Musik zu machen.

Dann, sobald wir wieder Konzerte spielen konnten, haben wir mit den Arbeiten am Album begonnen. Wie du schon meintest, klingt alles sehr positiv und triumphal. Alle waren während der Pandemie ein bisschen down. Als wir dann mit dem Songwriting begonnen haben, wollten wir einfach keine negativen Dinge schreiben. Wir wollten einfach nur glücklich sein. Und das ist es auch, was der Albumtitel auszudrücken versucht: “A Kiss For The Whole Word”, wir haben das Gefühl, dass jeder im Moment etwas Liebe braucht.

minutenmusik: Ihm Verlauf habt ihr zunächst Demos erarbeitet und die Songs dann in einem Airbnb auf dem Land, das ihr zu einem improvisierten Studio umgebaut habt, final aufgenommen. In diesem Prozess von Demo bis zur endgültigen Aufnahme: Gab es einen Song oder eine bestimmte Sache, die sich stark verändert hat?

Rory Clewlow: (überlegt) Der Song “Deadwood” klingt, als hätte ihn “Eleanor Rigby” von den Beatles inspiriert. Der war ursprünglich nicht orchestral, eher gitarrenlastig, aber wirklich seltsam. Das klingt absurd, aber der klang ein bisschen nach Flamenco und ein bisschen nach Biffy Clyro. Aber wir haben einfach eine Menge verschiedener Instrumentierungen und Ideen ausprobiert. Und dann hatte Rou die Idee, daraus unser eigenes “Eleanor Rigby” zu machen und mit einem Streichquartett zu arbeiten. Das war also der Song, der sich am meisten gewandelt hat.

minutenmusik: Habt ihr es mit einem richtigen Quartett aufgenommen? Teile eures letzten Albums “Nothing Is True & Everything Is Possible” habt ihr ja mit einem ganzen Orchester aufgenommen.

Rory Clewlow: Ja, wir haben die Demo in Midi gemacht, sind dann aber nach Prag gefahren, um  dort das Quartett aufzunehmen.

minutenmusik: Wie beim letzten Album, habt ihr euch wieder dafür entschieden, nicht mit einem externen Produzenten zu arbeiten. Stattdessen hat wieder Rou [Reynolds, Gesang] produziert. Wie kam diese Entscheidung zustande?

Rory Clewlow: Wir kommen aus der DIY-Hardcore-Szene. Früher zum Beispiel haben wir noch unsere T-Shirts selbst bedruckt. Wir hatten also schon immer eine DIY-Ethik. Wir wollten immer die Kontrolle über unsere Musik haben. Es gab immer schon Gespräche mit unserem Management darüber, dass wir selbst produzieren wollen. Man hatte aber immer ein wenig Sorge uns von der Leine zu lassen. Als Kompromiss haben wir daher meistens koproduziert. Jetzt vertraut uns unser Manager genug. Bei der letzten Platte hatten wir keinen Produzenten, sind aber in ein richtiges Studio gegangen. Jetzt wollten wir noch einen Schritt weiter gehen und haben gesagt: Wir brauchen das Studio gar nicht. Also haben wir uns einfach ein Airbnb gemietet und nur einen Engineer mitgebracht, der uns beim Setup und bei den Aufnahmen hilft. Das war der Unterschied bei dieser Platte: Wir haben es nicht einmal für nötig gehalten, in ein Studio zu gehen.

minutenmusik: Wo wir gerade bei dem Airbnb-Studio sind, lass uns ein wenig über die Aufnahmen sprechen. Besagtes Airbnb lag mitten auf dem Land. Wie nimmt man dann ein Album auf, das so euphorisch und gutlaunig ist? Habt ihr irgendetwas getan, um diese Energie in dieses sehr ruhige Leben zu bringen?

Rory Clewlow: Die Musik war quasi bereits geschrieben, als wir im Ferienhaus ankamen. Außerdem ist Musik niemals ein vollständiges Abbild ihrer Umgebung. Aber der Prozess war wahrscheinlich meine liebste Aufnahmeerfahrung überhaupt. Das war quasi ein entspannter Urlaub mit Freunden auf dem Land. Man hat keine Autos gehört, man hat keine anderen Häuser gesehen, nur Felder. Es gab keinen Strom, alles war solarbetrieben. Es gab kein Gas und keine Zentralheizung. Jeden Tag mussten wir Holz hacken, um Feuer zu machen und zu heizen. Und wir sind oft spazieren gegangen. An manchen Tagen sind wir früh aufgestanden und ans Meer gefahren, waren dann am Strand joggen und später im Meer schwimmen. Das war einfach eine sehr schöne Zeit.

Als Studio haben wir eine alte, baufällige Scheune genutzt. Eine Wand war nichtmal eine richtige Wand, sondern nur eine Spanplatte, an deren Seiten Efeu wuchs. Also haben wir Holzfassungen und Bettdecken genutzt, um die Akustik des Raumes zu verbessern. Der ganze Prozess hat viel Spaß gemacht. Es gab überhaupt keine Spannungen. Wenn man in einem Studio ist, spürt man sonst immer Druck. Etwa das Schlagzeug auf eine bestimmte Art und Weise aufzunehmen, den Raum wirklich zu nutzen. Oder der Studioeigentümer kommt vorbei und checkt, dass auch niemand ein Getränk auf das Mischpult gestellt hat. Der Prozess ist dann ein bisschen angespannt. Davon gab es jetzt gar nichts. Die Aufnahmen waren komplett entspannt. Und das trägt wesentlich dazu bei, dass man richtig kreativ sein kann und komplett in diesen Flow-Zustand übergehen kann. Das hat uns das Haus gegeben.

minutenmusik: Gab es in technischer Hinsicht irgendetwas, das ihr in dieser improvisierten Studioumgebung anders gemacht habt oder das euch bestimmte Grenzen gesetzt hat, die dann vielleicht die Platte so geformt haben, wie sie ist?

Rory Clewlow: Wir haben einfache Bedürfnisse. Wir arbeiten nur mit einem Laptop. Wir haben keine analogen Verstärker, nur meinen Kemper, einen digitalen Amp. Und wir benutzen eine Menge Plugins auf dem Computer. Alles ist also wirklich computerbasiert. Für das letzte Album haben wir außerdem in ein super teures, sehr gutes Gesangs-Mikrofon investiert. Und dann haben wir wieder eine improvisierte Gesangskabine aus Holzrahmen gebaut. Wir haben zwar ein paar Synthesizer und ein paar zusätzliche Percussion-Elemente mitgebracht, nur für den Fall, dass wir sie brauchen, haben die am Ende aber nicht benutzt. Solange wir unsere Instrumente aufnehmen können, haben wir sehr einfache Bedürfnisse. Also: Es gibt nichts, was uns gefehlt hätte.

minutenmusik: Als nächstes möchte ich über den Sound und die Ästhetik des Albums sprechen. Schon immer bestand der Enter Shikari-Sound aus einer Mischung aus gitarrenlastigerer Rock-Musik und elektronischer Musik. Auf euren bisherigen Platten schlug das Pendel mal mehr in Richtung Rock, mal mehr in Richtung Electronica. Mal wurde beides vermengt, mal eher voneinander getrennt. Ich hatte den Eindruck, dass eure letzten Alben die elektronischen Elemente manchmal mehr in den Hintergrund gerückt haben, während  “A Kiss For The Whole World” jetzt wieder mehr Electronica zulässt. Es gibt etwa das Outro oder die Songs “Leap Into The Lightning” und “Feed Your Soul”. Wie blickst du auf diese Dichotomie, diese beiden Stile und deren Entwicklung über die Zeit?

Rory Clewlow: Wir sehen beides nicht als unterschiedliche Stile. Wir sehen da keine Dichotomie. Für uns ist das so: Wir haben einen Werkzeugkasten mit verschiedenen Sounds und entscheiden immer jeweils, welchen dieser Sounds wir für einen Teil eines Songs verwenden. Das kann dann eine Gitarre, ein Synthesizer, Streicher oder was auch immer sein. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir unsere Musik nicht mehr als Mix verschiedener Stile begreifen, sondern als einen Stil. Wenn wir Songs schreiben, spielen wir aber natürlich mit Instrumentierung. Manchmal klingt ein Stück besser mit einer Gitarre, manchmal mit einem Synthesizer. Bei diesem Album nun gibt es eine Menge Sounds, die viele wohl für Synthesizer halten werden, aber in Wirklichkeit hört man Gitarren. Eine Gitarren, die wie ein Synthesizer klingt, gibt dem Sound eine organischere Note. Da verschmelzen die digitale und die organische Seiten unseres Sounds nochmal mehr.

minutenmusik: Jedes Album, nehme ich an, soll eine ganz eigene Soundästhetik haben, damit Schaffensphasen auch voneinander zu unterscheiden sind. Ich würde zum Beispiel sagen, dass “The Spark” ein ganz eigenes, eher verträumtes und seichtes Klangbild hat. Was würdest du sagen ist nun die Ästhetik von “A Kiss For The Whole World”?

Rory Clewlow: Mit “The Spark” haben wir zum ersten Mal wirklich versucht, mit Sound und Look eine einheitliche Ästhetik zu verfolgen. Das war quasi ein Experiment für uns, zu sehen, was passiert, wenn wir unsere kreative Spielwiese ein wenig eingrenzen und nur innerhalb bestimmter Parameter arbeiten. Bei dieser Platte nun war die einzige Vorgabe, dass jeder Song ein Banger sein sollte. Jeder Song sollte in seiner eigenen Welt funktionieren und auch fernab vom Album Sinn ergeben. Es gab also kein intendiertes Oberthema. Aber unabsichtlich wird es immer eine Verbindung zwischen den verschiedenen Songs auf einem Album geben, weil sie ungefähr zur gleichen Zeit aufgenommen wurden.

Eine solches unbeabsichtigtes Band, was sich durch die zehn Songs und zwei Pre- sowie Interludes von “A Kiss For The Whole World” zieht, ist wohl wie dicht die Gruppe Arrangements beisammen rückt und wie ungewohnt schnell sie zum Punkt kommt. Eingangs etwa braucht es nur ein kurzes “Be embraced, billions” und knapp 20 Sekunden Fanfaren-Pomp bis der erste feuchte Körper-Zusammenschluss in die Wege geleitet wird. Positive Resonanz erfährt das Material auch einige Stunden nach unserem Gespräch im Konzertsetting. Die drei Vorabsingles schmettern nicht nur von der Bühne in den von flachen Decken gerahmten Publikumsraum, sondern auch textsicher aus diesem zurück. Da hat sich der Band-Urlaub gelohnt.

Mehr Enter Shikari findest Du hier.

Das Album „A Kiss for the Whole World“ von Enter Shikari kannst Du hier (physisch) kaufen.*

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Fotorechte: Jamie Waters.

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