Historie im Musicalgewand – geht das? Spotlight Musicals haben genau das zum eigenen Steckenpferd gemacht und in den letzten Jahren viele berühmte Geschichten aus längst vergessenen Zeiten aufgepeppt und mit Kompositionen ergänzt. Besonders viele Fans fand das 2011 uraufgeführte Die Päpstin, das seitdem fast jährlich auf nicht ganz so riesigen Bühnen läuft, dafür aber quasi der größte Geheimtipp eines Musicals ist, das aus deutschen Federn stammt. Im Theater Hameln kehrt es anlässlich des längst etablierten “MusicalWinter” für gute drei Wochen nach einer fünfjährigen Abstinenz zurück.
Etwas mehr als 650 Gäste finden zur Premiere am 14.12., einem Samstag, nur wenige Tage vor Weihnachten zusammen. Festtagsstimmung liegt in der Luft. Pünktlich zum offiziellen Start gibt es seitens der Veranstalter*innen und aus dem Produktionsteam ein paar herzliche Worte ans Sponsoring und mehr. Außerdem erwartet viele der geladenen Personen eine pompöse Premierenfeier im Anschluss. Das Theater Hameln zeigt sich als enorm guter Gastgeber und fährt ganz in klassischer Premierenmanier voll auf. Schön.
Dazwischen folgt mit einem zunächst 80 Minuten dauernden ersten sowie einem 70 Minuten lagen zweiten Akt ein Musical, das immer wieder an die ähnlichen deutschen Genreklassiker von Levay und Kunze wie “Elisabeth” oder “Mozart!” erinnert, dann aber doch auch ganz eigene Akzente setzt. Die Päpstin – Das Musical ist ein intensives Erlebnis, das besonders den Seh- und Hörsinn vollends befriedigt.
Unter Anhänger*innen, die das Stück schon mehrere Jahre verfolgen, hört man besonders 2024 einige kritische Stimmen, da Dennis Martin und Christoph Jilo, die für Musik und Libretto verantwortlich zeichnen, diesen Sommer in Fulda unter der Regie von Gil Mehmert eine Neuinszenierung präsentierten. Diese kommt für Kenner*innen leider schlechter weg als das Original. Eine nicht ganz außergewöhnliche Reaktion, tun sich viele auch mit auffälligen Veränderungen bei “Starlight Express”, “Tarzan” oder “Wicked” immer wieder schwer. Da wir Die Päpstin erstmalig sehen, können wir keinen Vergleich ziehen und lassen uns ohne hohe Erwartungshaltung darauf ein.
Kurz zum Plot: Johanna wächst im neunten Jahrhundert auf. Mädchen und Frauen ist das Lesen und Schreiben verboten. Doch sie lauscht regelmäßig bei ihrem Bruder Johannes, der zwar mit Worten so seine Probleme hat, sie aber wissbegierig alles aufsaugt. Ihr Vater, der Dorfpriester, ist ein Tyrann und verbietet Johanna sich weiterzubilden. Allerdings ist der Gelehrte Rabanus von Johannas Fähigkeiten begeistert und lädt sie gemeinsam mit ihrem Bruder ein, um ihr Glück an der Domschule in Dorstadt zu versuchen. Johanna schafft es, tatsächlich aufgenommen zu werden. Sie wird gemobbt, stiehlt sie mit ihrem geballten Wissen nämlich allen die Show. Immer wieder schafft sie es, ein Schlupfloch zu finden und als erste Frau in Posten vorzudringen, von denen sie niemals zu träumen gewagt hätte – auch wenn sie dafür tun muss, als wäre sie ein Mann…
Die Päpstin beruht auf einer alten Sage. Über den Wahrheitsgehalt wird auch heutzutage immer noch spekuliert. Mehrere Romane sowie Verfilmungen nahmen den Stoff auf, um daraus eine packende Geschichte zu machen. Einiges funktionierte auch kommerziell ziemlich erfolgreich. Das Musical, das 2011 in Fulda uraufgeführt wurde, hat es sich alles andere als leicht gemacht. Historische Handlungen sprechen doch ein eher eingeschränktes Publikum an – wird das Ganze jedoch in ein Musicalgeflecht gepackt, ist das Interesse noch geringer. Das ist schon arg Special Interest. Aber der Mut zahlte sich aus: Für die Hauptrolle gewann man Sabrina Weckerlin, die schon damals zu den erfolgreichsten Darstellerinnen des Landes zählte. Nicht selten liest man, dass es sich bis heute um ihre beste Performance drehen soll und sehr viele Hunderte von Kilometern auf sich nehmen, um Weckerlin als Johanna sehen zu dürfen. Kurios hingegen, dass das Stück bis heute weder in Hamburg noch in Berlin oder NRW lief. Es bleibt eben das Musical für die etwas alternativeren Bühnen.
Auch wenn Weckerlin 2019 in Hameln spielte und diesen Sommer in Fulda zum wiederholten Male zu sehen war, so ist diesen Winter in der Stadt in Niedersachsen eine ganz neue Päpstin gecastet worden. Verena Mackenberg, 37 Jahre alt und aus dem Ruhrgebiet, fehlt zwar bisher noch “diese eine bestimmte Rolle”, für die man sie ganz automatisch vor dem inneren Auge aufblitzen sieht, aber die Chancen stehen nun nach ihrer Performance in Die Päpstin ziemlich gut.
Wo wir doch schon mittendrin in der Bewertung sind: Die Päpstin – Das Musical in Hameln hat eine ausnahmslos grandiose Cast zu bieten. Ganz besonders gesanglich hat man hier einen gigantischen Abend, der zweifelsfrei zu den besten des Jahres zählt. Verena Mackenberg darf gleich mehrere Male Soli singen, die wirklich Meisterklasse sind, und nimmt selbst die höchsten Beltingtöne mit 100-prozentiger Sicherheit. Ob das extra für die Neuinszenierung komponierte “So viel mehr”, das traurige “Einsames Gewand” oder der Showstopper “Das bin ich” – das ist für beide Ohren absolut berauschend.
Doch trotz fantastischer Hauptfigur ist Die Päpstin besonders auch in den männlichen Rollen wahnsinnig hochkarätig. Jeder kann hier im Gesang alle Register ziehen und die komplette Bandbreite offenlegen. Stark im Gedächtnis bleibt Mathias Edenborn als Gerold, der übrigens schon 2011 in der Uraufführung diese Rolle spielen durfte. Selbst wenn man an kleinen Stellen hört, dass der Schwede eben kein deutscher Muttersprachler ist, stimmen Gefühl und Intonation jederzeit. Das Duett “Wehrlos” löst wunderbare Schauer aus, bei “Ein Traum ohne Anfang und Ende” gibt es Drama, wie es nur im Musical funktioniert. Auch Thomas Hohler, der sein Die Päpstin-Debüt gibt, ist so, wie man es erwarten durfte, als Anastasius verrucht, gemein und zielorientiert und hat in “Ein Paradies auf Erden” seinen großen Moment. “Hinter seinen Klostermauern”, gesungen von André Bauer als Rabanus, gehört ebenso zu den Musikhighlights. Nicht zuletzt verdient auch Anke Fiedler als Marioza Erwähnung, die den nötigen Spice in die Handlung bringt und ebenfalls glänzt. Wir könnten ewig so weitermachen, denn auch die Eltern von Johanna spielen fantastisch – und sogar die 10-jährige Luna als Johanna als Kind macht ihr Spiel überzeugend. Bravo.
Weil Lob zu verteilen, besonders viel Spaß macht, geht es damit direkt weiter: Die Päpstin – Das Musical bekommt neben der Cast vor allen Dingen im Bühnenbild und noch etwas mehr im Licht die volle Punktzahl. Selten sieht man in einem so kleinen Theater eine so riesige Produktion. Wow. Die düsteren, kühlen, altertümlichen Bauten zaubern gepaart mit den stilvollen Kostümen ab der ersten Sekunde genau die richtige Atmosphäre, um sich mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit katapultieren zu lassen. Riesige Mauern werden hier alle paar Minuten in unterschiedlichen Anordnungen aufgebaut, doch am besten funktioniert das wahnsinnig gelungene und hervorragend choreografierte Licht. Schattenspiele, Projektionen und wilde Spotfahrten durch den Zuschauerraum sorgen für wiederholte Gänsehaut und machen das Stück fürs Auge zu einem echten Erlebnis, wie man es heute selbst von den ganz großen Häusern nicht immer bekommt.
Ein paar Abstriche hingegen muss man beim Sound machen. Auch wenn sich enorm viel Mühe gegeben wird, durch starke Halleffekte, die Figuren in hallenden Gebäuden glaubwürdig erscheinen zu lassen, was in vielen Soli auch brillant klingt, so tut man sich mit dem Tutti eher schwer. Je mehr Darsteller*innen singen, desto schwieriger wird das Verständnis. Besonders im ersten Akt gibt es, wenn das zwölfköpfige Orchester unter der Leitung von Marcel Jahn ordentlich loslegt, einige Momente, in denen der Text untergeht. Ebenso werden locker fünf- oder sechsmal Mikrofone zu spät oder gar nicht eingeschaltet, was häufig der Premierenaufregung geschuldet ist. Ein wenig nervig sind jedoch die ebenso häufigen Versprecher seitens der Darsteller*innen in Dialogen. Da hätte wohl ein Schauspielablauf mehr nicht geschadet. Kann man natürlich aber durchaus verschmerzen.
Das Libretto ist solide. Natürlich lässt sich aus einem derartig alten Stoff nicht die sensationellste Geschichte erzählen, dafür funktioniert sie aber über einige Strecken doch recht spannend. Mit 150 Minuten Spielzeit geht das Stück aber schon gute 20 Minuten zu lang und könnte womöglich an ein paar Stellen etwas gekürzt werden. In den Kompositionen muss man dann hingegen zweimal überlegen, welche man rauswirft, da doch viele berühren und eben starke Leistungen hervorbringen können. Hinsichtlich Logik irritiert, dass Johanna als einzige Figur eine von einer jüngeren und einer älteren Darstellerin gespielt wird. Da wirkt so mancher Zeitsprung etwas wild, sodass die Figuren im Erwachsenenalter nicht mehr ganz matchen. Na gut.
Die Päpstin – Das Musical ist zu Recht eines der meist gefeierten Musicals aus deutschem Lande des vergangenen Jahrzehnts und verdient wesentlich mehr Aufmerksamkeit. In Hameln bekommt man bis zum ersten Sonntag im neuen Jahr eine wirklich hervorragende Produktion zu sehen, in der Fans von Bühnenbild und anspruchsvollen Vocals uneingeschränkt auf ihre Kosten kommen. Zwei, drei kleine Makel bügelt man noch fix aus – so oder so ist es aber der richtige Besuch, um 2024 würdig abzuschließen.
Und so sieht das aus (Trailer zur Neuinszenierung 2024 in Fulda):
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Foto von Christopher Filipecki
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