Über eine Dekade hat “Wildlife” schon hinter sich: Im Oktober 2011 erschien La Disputes Zweitlingswerk. Dass diese mitunter doch spezielle Band aus dem 200.000 Menschen Städtchen Grand Rapids zwölf Jahre später mit ebenjenem Album reihenweise Hallen im niedrig-vierstelligen Bereich vollmachen würde, erschien damals absurd. Immerhin spielte die Band noch vor allem in selbstorganisierten Venues mit anderen DIY Hardcore- und Punk-Bands. So etwa im Mai 2011, wenige Monate vor dem Erscheinen des Albums, im Club Scheisse, jener autonom verwalteten Geheimlocation irgendwo im Kulturherzen Kölns.
Von da an jedoch schritt die Professionalisierung voran. “King Park” ging erst auf Tumblr viral, dann auf Spotify und wird nun auf Tiktok fleißig herbeigeswiped. Und auch das zugehörige Album hob sich in den folgenden Jahren zu einem Klassiker des modernen Post-Hardcore empor. Aus Clubs wurden so im Laufe der Jahr Hallen und die wiederum verkauften sich zunehmend aus. Oberflächlich ist der Band am heutigen Abend – die Jubliläumstour zu “Wildlife” bringt sie in die Kölner Live Music Hall – also dieser ursprüngliche DIY-Ethos nicht anzumerken.
Jordan Dreyer, als Kommunikationsrohr am Mikrofon, macht die Zurückhaltung seiner vier Kollegen mit ekstatischen Katharsis-Tänzeleien und Körperverrenkungen wet. Pirouetten inklusive. Manchmal auch, da streckt er seinen Arm spitz von sich in die Höhe, den Körper in die andere Richtung gewandt, das Kabel eng zwischen Körper und Hand verlaufend. Zweimal begibt er sich außerdem in den Graben zwischen Bühne und Publikum, tritt an die ersten Reihen heran, um der emotionalen Nähe ein wenig körperliche beizusetzen.
Der Rest der Band jedenfalls steht konzentriert an Ort und Stelle, jeden Ton, jeden (An)Schlag mit Perfektion ausführend. Song für Song wird so das “Wildlife”-Album auf die Bühne gebracht. Bis auf zwei Zugaben bleibt es dabei. So mancher Song wird euphorisch begrüßt, inklusive stellenweise gar zu partywütigen Moshpits – nebst “King Park” und “Andria” etwa “The Most Beautiful Bitter Fruit” oder “All Our Bruised Bodies And The Whole Heart Shrinks”. Andere kommen live besonders intensiv (besonders: “Safer In The Forest/Love Song For Poor Michigan”).
Schaut man genauer hin, setzt die Brille auf um kleinere Unschärfen auszugleichen, ist die Nähe zur Szene, der Wille besonders inklusiv zu sein, dann doch klar ersichtlich. Der Lichteinsatz zum Beispiel ist effektiv, aber fernab stimmungstechnischer Akzente unaufällig. Die Band nämlich möchte eine Lichtshow, die auch für Menschen mit Epilepsie genießbar ist. Schaut man in den Fotograben, erhascht man zudem besonders viele FLINTA-Personen. Die Band ruft bewusst FLINTA-Fotograf*innen dazu auf, sich bei ihr zu melden und ist scheinbar darauf bedacht systematische Geschlechterungleichheiten auszugleichen. Erkennbar ist das auch daran, was passiert bevor La Dispute die Bühne betreten. Erst gehört die Aufmerksamkeit Elise Okusami aka Oceanator, die nur mit ihrer Gitarre für Bandsetup geschaffene Songs zusammenzurrt. Später dann Pool Kids um Gitarristin und Sängerin Christine Goodwyne, die aus Punk-Rock, Emo und Indie ein dichtes Paket schnüren. Der Spirit also Dinge – so seien es gesellschaftliche Transformationsprozesse – selbst in die Hand zu nehmen, ist geblieben.
Erhalten geblieben ist auch die nachdenkliche Note, die in jeglichem Schaffen von La Dispute mitschwingt. Kurz vor Ende des Hauptsets hält Dreyer einen minutenlangen Monolog über die oft tragischen Geschichten hinter “Wildlife” und den verlorenen, nun neu gefundenen Bezug zu den Liedern. Damals schon sei der Antrieb daraus entsprungen Missständen und misslichen Lagen aus der eigenen Community eine Fläche zu geben. Für “Wildlife” war diese Community die Menschen aus und um La Dispute’s Heimat Grand Rapids. Die Stadt nämlich verfiel dank sich ausbreitender Deindustrialisierungsprozesse in eine tiefe Rezession samt der vielschichtigen Folgen von aufkeimender Armut und Arbeitslosigkeit. Wenn Dreyer so in seine Gedankenwelten blicken lässt, hängen ihm geduldig über tausend Paar Ohren an den Lippen. Als die Musik wieder ansetzt, gesellt sich ein geschrieener Chor hinzu. Vielen, das wird deutlich, bedeuten die Songs die Welt. Augen schließen und Körper schlängeln sich, Nacken erbeben. Im Kleinen Dinge bewegt.
Mehr La Dispute gibt es hier.
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Foto von Jonas Horn.
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