Die Nacht ist länger als der Tag. Das Barometer geht gen null. Bäume sind kahl. Genau die richtige Stimmung, um sich mit dem neusten Ableger unseres Plattenkrachs auf das Sofa zu fläzen. Genau vor fünf Jahren kam für Christopher das intensivste Klangerlebnis auf CD heraus, das er bis heute im Regal stehen hat. Melvin konnte immerhin mit zwei Tracks was anfangen. Augen zu & Ohren auf für London Grammars “If You Wait”.
Christopher sagt dazu:
…und dann kam im November ’13, vor ziemlich genau fünf Jahren London Grammar und “If You Wait”. Ich war irgendwo im Bachelor meines Studiums, irrte umher, wusste nicht, was alles noch geschehen wird und hörte plötzlich das in sich schlüssigste Album, das ich kenne.
“If You Wait” schafft etwas, was Künstler sonst kaum zu Stande kriegen: Einen individuellen, neuartigen Sound, der auf Albumlänge funktioniert. Der in sich geschlossen klingt. Der EINE Stimmung aufbaut und diese bis ans Ende durchzieht. Der selbst nach 100 Durchläufen nicht nachgibt. Ein Sound, indem immer wieder etwas entdeckt werden kann, was man vorher nicht gehört hat. Eine absolute Rarität, schier eine Seltenheit.
Ein Highlight zu nennen ist quasi unmöglich, da London Grammar hier 11 Songs liefern, die in etwa alle die gleiche hohe Qualität bieten. “If You Wait” ist die CD, die man anmacht und bei der man sich direkt beim ersten Track anders fühlt. Man sehnt seine persönlichen Favoriten herbei und wenn es zu Ende ist, möchte man eigentlich direkt wieder von vorn beginnen.
Wie aber klingt nun dieses wahrhaftige Meisterwerk? “If You Wait” ist zunächst kein Massenalbum, dafür ist es vom Sound her viel zu speziell. Die Stimmung ist durchgehend bedrückend, extrem schwermütig, traurig. Man reflektiert sein Leben, seine jetzige Situation, schaut unsicher in die Zukunft – und dennoch bietet die Musik so viel Identifikation, dass man sich nie allein fühlt. “If You Wait” ist depressiv, aber nicht verzweifelt. “If You Wait” ist teilweise sehr kühl und dennoch extrem einhüllend. Nie schaffte ein ganzes Album so genial Lebenslagen von mir einzufangen. Als Mittzwanziger-Student empfand ich unglaublich viel beim ersten, zweiten und nun auch beim… keine Ahnung wievielten Durchlauf.
Klanglich ist “If You Wait” in erster Linie elektronisch. Zeitgleich aber auch reduziert, ruhig und überhaupt nicht tanzbar. Wenn überhaupt kann man die Augen schließen und leicht mitschwingen. Außerdem ist der Sound poppig, aber nicht alltäglich. Alternativ, aber nicht rockig. Hannah Reid ist mit einer sehr fordernden, wehmütigen Sopranstimme ausgezeichnet, die treffender zur Musik nicht sein könnte. Dan Rothman an der Gitarre sorgt für Hooks, die genauso melodiös sind wie die Gesangsparts. Dot Major zaubert am Keyboard und am Drumcomputer keine Beats, sondern Klanglandschaften. Jeder Song hat eine Art Klimax. Es baut auf, es gipfelt, es verschwindet. Das erinnert zwischenzeitlich an Björk oder an The XX, nur in besser. In eindringlicher. In eingängiger.
Wie perfekt ein Aufbau funktionieren kann, zeigt der Opener “Hey Now”, der mir JEDES Mal beim Beatdrop eine absolute Gänsehaut beschafft. Wahnsinn. Das bekannte “Strong” stellt nicht weniger als eine der stärksten Balladen überhaupt dar, an dem ein jedes Herz für Minuten droht zu zerbrechen. “If You Wait” und “Interlude (Live)” reduzieren sich auf Piano, Gesang und wenige Effekte und liefern Musik für jeden Abspann eines eindrücklichen Arthaus-Films. Hin und wieder darf die Musik mal grooven, zeigen nämlich “Flickers” und “Metal And Dust”, dass elektronischer Indiepop mehr ist als nur ein bisschen Beat. Auch hier geht die Instrumentierung richtig tief, “Metal & Dust” schafft sogar einen gemeinen Ohrwurm. “Wasting My Young Years” beschreibt das kaum auszuhaltende Gefühl, dass man seine Zeit nicht richtig nutzt, aber jede Nutzung von Zeit ihre Berechtigung hat. Mit “Nightcall” zeigen die 3 Briten (die lustigerweise aus Nottingham und nicht aus London stammen) wie ein Cover von einem Song richtig funktioniert. Hier wurde aus einem guten Original ein opulentes Stück kreiert. “Sights”, “Shyer” und “Stay Awake” überzeugen alle auf ihre ganz eigene Art. Einige Songs zünden direkt nach dem ersten Durchlauf, andere brauchen Raum und Geduld.
Wer noch die Möglichkeit hat an die Deluxe Edition zu kommen, sollte das unbedingt tun. Hier zeigen London Grammar nämlich ihre kreative Ader, weichen teilweise von ihrem Grundmuster ab und machen genau das Richtige: Sie geben eine Bonus-CD mit 6 Tracks hinzu, die etwas wagen und das Gesamtbild von CD1 nicht stören, sondern weiterspinnen. DAFÜR sind Deluxe Editions gemacht, nicht um B-Seiten zu verbraten oder mit Remixes unnötig aufzufüllen. Gerade das mit Trommeln verzierte und leicht nach Latin klingende “Darling Are You Gonna Leave Me” ist gar kein Vergleich zum Rest. Ebenso wie das Bossa-artige “Maybe”, das extrem coole “High Life” und der wohl außergewöhnlichste Song der Platte, “Help Me Lose My Mind”, das Dank dem DJ-Duo Disclosure in jedem Club gespielt werden könnte. Dance der allerfeinsten Sorte. “Maybe” und “When We Were Young” runden mit ihrer wehleidigen Darbietung ab und spucken einen zurück in die Realität. Nach einer Stunde Traumwelt.
London Grammar haben sich in meinen Augen mit “If You Wait” ein absolutes Denkmal gesetzt. Ohne übertreiben zu wollen. Ein Album, das von Anfang bis Ende die Qualität hält, eine Stimmung erzeugt und dabei zu keiner Sekunde langweilt. Mittlerweile gibt es einen Nachfolger namens “Truth Is A Beautiful Thing”, der auch unglaublich abliefert, aber leider nicht ganz an den Vorgänger heranreicht. Völlig egal. Auch nach einer Hand voll Jahren hat es von seiner Aura nichts verloren und wird dies auch in 20 Jahren nicht tun. Danke für ein Stück Musik, das ein Lebensgefühl von mir für immer festhalten wird.
Melvin findet eher:
London Grammar ist also die Band, mit der ich mich im Plattenkrach dieses Mal beschäftigen soll. Den Namen hatte ich schon öfter gehört, einen konkreten Song konnte ich der Gruppe aber vor dem Anhören des Albums „If You Wait“ nicht zuordnen. Natürlich konnte ich auch mit der Meinung meiner Freundin („Ich liebe London Grammar!“) und Christophers Drohung („Pass auf, was du schreibst!“) komplett unvoreingenommen an die Sache herangehen. Aber ich ahnte von Anfang an: London Grammar und mein Musikgeschmack? Das wird schwierig. Nachdem ich das Debütalbum des britischen Trios angehört habe, bestätigte sich diese Prognose.
Die Songs auf “If You Wait” lassen sich für mich in drei Kategorien einordnen. Erstens Songs, die mir richtig gut gefallen, die ich sehr gerne noch einmal hören möchte und teilweise sogar bereits meinen „Monatsfavoriten“-Playlists hinzugefügt habe. Zweitens Songs, die ich noch ganz nett finde, aber nicht unbedingt noch einmal anhören werde. Drittens Songs, die mich außerordentlich langweilen und mir ungefähr so viel Freude bereiten wie vier Stunden Regionalbahn fahren.
Beginnen wir mit Kategorie 1. Hier gibt es für mich zwei Stücke zu nennen. Einmal „Hey Now“, mit dem London Grammar ihren Durchbruch schafften. Ein sehr emotionaler Song bei dem das außerordentliche Talent, welches Sängerin Hannah Reid besitzt, gleich zum Vorschein kommt. Diese Stimme ist selbst bei nüchterner Betrachtung sehr sehr sehr sehr gut. Der zweite Song, der mich schwer beeindruckt hat, heißt „Nightcall“ und kam mir gleich beim ersten Hören sehr bekannt vor, warum auch immer. Gerade der musikalische Aufbau ab Minute 2:30, beginnend mit ein paar leisen Klaviertönen und dann immer lauterer und breiterer Instrumentierung hat mir gefallen. Für meinen Geschmack war das jedoch noch viel zu wenig – zu leise und zu wenig Energie. Ich höre ansonsten überwiegend schnelle und laute Musik, was nicht heißt, dass mir Popmusik nicht grundsätzlich zusagt. Aber hier hätte man meiner Meinung nach das Gaspedal nochmal richtig durchdrücken können. Ich hätte mir gewünscht, dass Hannah Reid ihre Stimme bis in die höchsten Tonregionen hochjagt, so wie eine Sia es beispielsweise macht. Nichtsdestotrotz ein toller Song, der gleich in meine „Monatsfavoriten“-Playlist gewandert ist.
In der zweiten Kategorie, den mittelmäßigen Songs finden sich insgesamt fünf Stücke: „Stay Awake“, „Wasting My Young Years“, „Metal & Dust“, „Interlude (Live)“ und der Titelsong „If You Wait“. Alle diese Songs enthalten Elemente, die mir gefallen, aber auch vieles, was mich stört oder mich schlichtweg langweilt. „Wasting My Young Years“ lebt meiner Meinung nach zum Beispiel nur von dem, wie oben schon hervorgehoben, wirklich tollen Gesang der Frontfrau, musikalisch passiert mir da viel zu wenig. „Stay Awake“ und „Metal & Dust“ plätschern ebenfalls so vor sich hin, werden aber zumindest durch die Schlagzeugbeats noch etwas interessanter. Die Band scheint auf jeden Fall ein Faible für „Drum & Bass“ zu haben, denn einige Schlagzeugtakte auf der Platte erinnern stark an dieses Genre. Neben dem Schlagzeugspiel gefallen mir vor allem die Streicher, die besonders im Titelsong sowie dem „Interlude“ zu hören sind und einen großartigen Klangteppich bilden, über den Reid dann ihre Stimme legt. Besonders das „Interlude“ zeigt einmal mehr, warum ich mit London Grammar lediglich auf Raumtemperatur komme und mir nicht wirklich warm ums Herz wird. Das besagte „Interlude“ dauert vier Minuten, braucht aber gefühlte Ewigkeiten bis überhaupt mal wirklich was passiert. Erst ab Minute 3 ist ein Höhepunkt des Stückes absehbar, die Instrumente werden immer lauter, Reid erhebt ihre Stimme und ein weiterer epischer Moment entsteht. Das ist toll, aber gleichzeitig ist nicht auszublenden, dass davor circa drei Minuten lang genau gar nichts passiert.
In die dritte Kategorie an Songs fallen die Stücke „Shyer“, „Sights“, „Strong“ und „Flickers“. Dazu kann ich gar nicht so viel sagen, außer, dass sie mich stark gelangweilt haben. Sogar so stark, dass ich mich quasi direkt nach dem Anhören schon nicht mehr daran erinnern kann, was da gerade passiert ist oder, ob überhaupt etwas passiert ist. Irritierenderweise beginnen die erstgenannten Stücke auch noch alle mit dem gleichen Buchstaben und haben eine beinahe identische Wortlänge. Da ich alle gleichermaßen langweilig finde, führt das auch noch dazu, dass ich die besagten Stücke nicht einmal auseinanderhalten kann. Laut Spotify ist „Strong“ übrigens der meistgehörteste Song. Ich kann mir absolut nicht erklären, warum, aber so gehen die Geschmäcker halt auseinander.
Übrigens: Die Deluxe Version des Albums hält für mich noch einige positive Überraschungen bereit: „Darling Are You Gonna Leave Me“ ist ein richtig schöner Sommersong und zusätzlich befindet sich im Bonusteil auch noch ein Song mit Disclosure, die ich generell super finde.
London Grammar haben zwei absolut geile Songs, vielleicht noch ein paar Stücke mehr, die ganz nett sind, aber in Gänze ist das nicht mehr als ein durchschnittliches Album.
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Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.
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