Felix Dautzenberg ist sichtlich gerührt. Eigentlich habe er damit gerechnet, dass quasi niemand zu seinem ersten richtigen Auftritt auftauchen würde, sagt er. Immerhin habe er nur zwei Songs veröffentlicht und bislang ausschließlich Support gespielt. Wenige Minuten zuvor außerdem warteten an jener Stelle gerade mal ein paar Handvoll Menschen. Doch nun steht er vor einem fast vollem Yuca, etwa 200 Personen hören ihm gebannt zu. Dautzenberg ist jung, nichtmal 20 und spielt unter dem Künstlernamen Berq pathos-triefenden Indie-Pop für die Generation Z. Mal sitzt er am E-Piano, mal steht er neben seinen zwei Live-Musikern lässig auf der Bühne, die braunen Locken hinters Ohr gegeelt, die rechte Hand locker in der Anzugshose vergraben. Performt er nicht auf einer Bühne, singt er seine großartigen Songs in das Internet hinein. Genauer in die Social Media-App Tiktok. Vorbeiswipen möchte da niemand. Ähnlich verspürt heute niemand das Bedürfnis den Raum vorzeitig zu verlassen. Und das obwohl Berq nichtmal genug Material hat, um die eigentlich angepeilten 45 Minuten zu füllen (psst: eine erste EP soll noch im Mai erscheinen). Als Zugabe gibt es stattdessen erneut seine bisherigen Singles. Für die zweite Runde “Echo” steht er also, den Arm theatralisch in die Höhe gestreckt inmitten des eingeschworenen Eingeweihten-Kreises, der jede Zeile zurückwirft. In der Luft eine gewisse Spannung. Vorfreude auf das, was dieser spannende Künstler noch von sich hören lassen wird.
Für das Setting verantwortlich zeichnet sich das Kölner c/o pop Festival. Einmal im Jahr versetzt jenes das ehemalige Arbeiterviertel Ehrenfeld in Ausnahmezustand. Straßenfestvibes im tiefen Frühling. Clubkonzerte hoffnungsversprechender Jungkünstler*innen. Blicke in die Glaskugel. Branchenaustausch (auch auf der begleitenden Convention). Gerade nach der Pandemie folgten dem Ruf der Veranstalter*innen eine zunehmende Zahl von Branchen- und Medienvertreter*innen. Auf der Suche nach Austausch und Zukunftsmusik. Ein Auftritt wie ebenjener des aufstrebenden Berq dort keine Seltenheit. Ein Jahr zuvor etwa stand an quasi gleicher Stelle Paula Hartmann, gleicher Kontext, gleicher Anlass, nur nebenan im Club Bahnhof Ehrenfeld. Auch sie – damals 21 – spielte ihr erstes richtiges Konzert. Auch damals lag etwas kaum Greifbares im Raum. Ein Jahr später, zufällig parallel zur c/o pop, verkauft die problemlos in wenigen Atemzügen das Gloria Theater aus.
Auch dieses Jahr gibt es solche Momente en Masse: Das Gefühl etwas Großes zu erleben, noch im Miniformat, sich aufschwellend. Da wäre etwa die Band Blumengarten aus Velbert nahe Köln, schon 2022 viral gegangen mit ihrem überschwänglich romantischen Stück “Paris Syndrom”. Zwei kleine EPs sind seitdem erschienen. Nicht viel, aber genug, um den Club Bahnhof Ehrenfeld schon lange vor Beginn bis auf den letzten Zentimeter voll zu machen. So drängen sich Fans, namenhafte Produzenten und Musiker*innen, Industriemenschen vor der Bühne als Sammy und Rayan an ihre Mikrofone treten. Es folgt eine ein wenig chaotische Reise durch Veröffentlichtes, Unveröffentlichtes und Halbfertiges (der Song “Rosa” etwa, bereits heimlicher Fanlieblings, läuft komplett vom Band). So manches begegnet auch hier doppelt, so manches ist Fremdkomposition. “Vielleicht Vielleicht” etwa von den Lokalhelden “AnneKayMantereit” (Zitat), den quasi jede*r im Raum mitsingt (nicht ganz freiwillig: “Jeder, der nicht mitsingt ist kein echter Kölner”, ebenso Zitat). Generell, die Stimmung ist fantastisch, viele schon jetzt textsicher, die Band bestens aufgelegt (Rayan bringt so manchen Witz gleich zweimal). Zum Schluss dann der zweite Durchlauf “Paris Syndrome”. So verliebt war noch niemand im Raum jemals. In eine Band, in deren Schaffen. Es fließen Tränen – auch auf der Bühne. Auch das: Ein Moment, der nachhallt.
Eine Stunde später ist der Vibe ein gänzlich anderer. Wa22ermann hat übernommen, eine Rapperin aus Berlin Kreuzberg, auch hier der Laden komplett dicht. Gemeinsam mit ihrem männlichen Kollegen Apsilon steht die für eine neue Generation migrantischem Deutschrap mit politischem (Selbst-)Bewusstsein (aktueller Stand: zwei gemeinsame Songs). Heute aber begleitet Wa22ermann ihre DJ Sirin. Die Ansagen sind klar: Hände, jetzt. Warte, noch kein Moshpit. Moshpit, jetzt. Dann droppt der Beat und mit ihm kollidieren Körper. Besonders gut kommen jene Songs und Remixes, die instrumental mehr Techno denn Rap sind. Auch das also, vielversprechend. Ähnliches einen Tag vorher, auf der anderen Seite der Venloer Straße, vorbei an Essensständen und Menschenmassen, im Helios 37. Brockhoff spielt dort ein tightes Set vor Jung und Alt. Sie und ihre dreiköpfige Band konstruieren aus Songwriter, Indie und 90s-Rock einen nach vorne gerichteten Gitarrenmix. Auch das auf deutsch neu, eine Szene für diese Art Musik in der Entstehung. The future (of indie) is female – das ist klar, steht nicht zur Debatte.
Eine Querstraße weiter, Lichtstraße. Die Live Music Hall bietet über die Woche etablierteren Acts mit Hype-Faktor eine Bühne. Domiziana und Ski Aggu etwa am Festivaldonnerstag (leidige Überschneidung mit Paula Hartmann inklusive). Und am Freitag erst Ennio und dann Betterov. Letzterer tritt mit seiner Band eine knappe Stunde bei bester, leicht alkoholvernebelter Stimmung vor einer bis auf den letzten Meter vollen Halle auf (kein Wunder: die meisten Tage ist die c/o pop ausverkauft). Seinen Hit “Viertel Nach Irgendwas” spielt er zwar nicht, dafür gibt es in der Zugabe eine euphorische Darbietung von “Dussmann”. Anschließend verteilen sich die Anwesenden auf Büdchen, Aftershow-Get-togethers und Parties. Es gibt viele Eindrücke zu besprechen nach einem intensiven Festivaltag. Und es gibt hungrige Mägen zu befüllen. Die zum Straßenfest umgestaltete Venloer Straße, der Wohlfühlort für ebenjene Bedürfnisse. Eine Vielzahl an Essensangeboten sowie andere Freizeitangebote gibt es dort. Und auch Konzerte (SALÒ auf einem Bus etwa – generell, es gibt zu viel zu sehen, alles lässt sich gar nicht mitnehmen). Die Stimmung traut und gelöst. Die Zungen lose. Auch ein paar Meter weiter, im Park neben dem Bürgerzentrum Ehrenfeld. Zu später Stund treffen dort am Samstagabend junge und alte Hiphoper zusammen. Ein Kreis bildet sich, ein Beat läuft von der Boombox, Bars werden gespittet, es ist Cypher-Zeit. Auch das ist c/o pop. Herrlich.
Mehr c/o pop gibt es hier.
Im nächsten Jahr findet die c/o pop vom 24. bis zum 28.04 statt. Also: Save the date! Mehr Informationen gibt es im Jahresverlauf dann hier.
Und so sah das letztes Jahr aus:
Fotorechte: Jonas Horn.
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