Interview mit Drangsal über „Exit Strategy“

Im Interview zu seinem schamlos guten Album "Exit Strategy" berichtet Drangsal von Aufbrüchen, Selbstsuche und Weiterentwicklung.

Max Gruber sitzt vor seinem Computer. Auf seinem Kopf balanciert er ein Gipsmodell seines glatzköpfigen Schädels. Er lächelt zufrieden. Dann stellt er sein Ebenbild neben sich auf den Tisch. Fans von Grubers Musikprojekt Drangsal kennen seinen kahlrasierten Kopf mehr als gut: Er wird als Schlüsselanhänger vermarktet, im Video zu „Urlaub Von Mir“ hängt er sprichwörtlich von der Decke, in einem anderen Clip zum Song „Mädchen Sind Die Schönsten Jungs“ wiederum wird er eigenhändig mit einem stählernen Baseballschläger zertrümmert. „If you’re sick of yourself, dann ist das doch das beste, was man machen kann, sein ‚Ich‘ zu zerschmettern. Und beim ‚Ich‘ denke ich immer zuerst an das Gesicht“, erklärt Gruber die Metapher. Von der Flucht vor sich selbst handelt auch das dritte Album des Wahl-Berliners. Passenderweise heißt das „Exit Strategy“, den Ausbruch aus alten Routinen und Eigenarten spiegelt also bereits der Titel. Auf dem Cover: Der 28-Jährige, wie er in den Spiegel schaut und einer teuflischen Version seiner selbst entgegenblickt. Auch das – eine lose Hommage an das Black Flag-Debüt und dessen Coverfoto aus den 1980ern – knüpft an das Flucht-Narrativ an. Statt der Flucht selber bebildert das jedoch eher deren Motivation: Das sich nicht Wiedererkennen.

Ausbrüche

Immer wieder kokettiert Drangsal in Motivik, Lyrik und Gesprächen mit dieser Ausflucht aus alten Ist-Zuständen. Immerhin: Als seine Karriere mit Anfang zwanzig Fahrt aufnahm, lenkte der frisch zurück nach Berlin gezogene Gruber die Aufmerksamkeit, die ihm und seiner Kunst zukam, in Richtungen, die die hiesige Musikpresse als Chance begriff, große Beef-Schlagzeilen auszuschreiben. Diese Tage jedoch liegen hinter dem Musiker, der letzte große Affront Jahre zurück. Bieder und langweilig ist eine Konversation mit Gruber dennoch nicht. Im Gespräch, wir sind per Videoanruf miteinander verbunden, verhält er sich so, wie man es nach ausführlichen Studien seiner Interview- und Podcast-Auftritte vermuten würde: Er kommentiert Thesen bereits bevor diese komplett ausformuliert wurden, widerspricht energisch, bejaht leidenschaftlich, wirft verbale Bälle gekonnt zurück – und ist nichtsdestotrotz immer höflich und sympathisch. Es gibt wahrlich unangenehmere und zugleich unspannendere Gesprächspartner*innen.

Doch zurück zu seinem neuen Album „Exit Strategy“. Dessen Titel setzt auch fernab seiner metaphorischen Bedeutung einen tiefen Schnitt im Schaffen Grubers. Verwiesen die Namen und auch die Cover der ersten zwei Drangsal-Alben auf dessen pfälzische Herkunft, so möchte sich Gruber nun bewusst von dieser Identität abgrenzen. Er erklärt: „Ich wohne seit fast zehn Jahren nicht mehr in Herxheim und habe das Thema für mich dementsprechend abgehakt. Da war es mir wichtig, dass man einen klaren Bruch kreiert.“ Ihrer Prominenz in Artworks und Titeln entsprechend, wurde der 28-Jährige in Berichterstattungen häufig auf diesen Teil seiner Vergangenheit reduziert. Umso einschneidender ist ebenjene Abkehr, die den Blick des Projektes Drangsal durchaus mehr in Richtung Präsenz und Zukunft richtet.

Höher, weiter, besser

Ebenfalls eine Flucht nach vorne ist die Musik, die „Exit Strategy“ voranstellt. Wem „Zores“ zu schlageresk war, den oder die werden die unzähligen Stadion-Choräle des Drangsal-Drittlings noch weit mehr verstören, denn Hymnen wie der antreibende Titelsong, das fast schon grungige „Liedrian“ oder der Blink-182 Klon „Benzoe“ zündeln mehr denn je am großen Arena-Rundum-Feuerwerk. Tatsächlich setzt sich Gruber im Schreibprozess sehr früh die Aufgabe, die neuen Stücke besonders live-tauglich zu gestalten. Erste Corona-konforme Konzerte geben zwar nur eine frühe Tendenz, heben aber bereits hervor, dass das gelungen scheint. Fernab davon, so erzählt der Musiker, gilt während des Songwritings ansonsten lediglich das Credo: Es muss noch besser werden. 

Welche Stile „Exit Strategy“ schlussendlich abbildet, determinieren währenddessen ausnahmslos die Interessen des 28-Jährigen. Da sich der Mensch Max Gruber in den letzten fünf Jahren gewandelt hat, entwickelt sich folglich auch seine Kunst weiter. Er konkretisiert: „[I]ch mache einfach, worauf ich gerade Bock habe. Das verändert sich eben. Es kann sein, dass ich morgen irgendwas höre, mit dem ich mich dann die nächsten drei Jahre musikalisch beschäftigen möchte.“ Dass ihn in den letzten Jahren nicht unbedingt die 1980er und deren Musik umhertrieben, hört man den Songs an. Der Post-Punk-Spirit von „Harieschaim“ ist zwar stellenweise noch existent, sein Anteil wird aber zurückgeschraubt. „Diese Art Musik wird mir immer gefallen, war aber einfach das erste, was ich jemals gemacht habe. (…) Für mich fühlt sich das gerade nicht mehr so an als wäre das Teil von meinem Leben“, führt Gruber aus.

Abhanden gekommen ist in der Fortentwicklung auch der Wille, eine komplette Platte lang nur einem kohärenten Soundbild nachzueifern. Neben den großen Live-Hymnen stehen daher einige Stücke, die so offen für Pop und Experiment sind wie wenig, was der 28-Jährige bislang mit Hand und Geist formte. „Ich Bin Nicht So Schön Wie Du“ etwa sieht ihn mit butterweicher Kopfstimme und hoch-gestapelten Gesangsdoppelungen über gesetztem Piano von ungleichen Schönheitsverhältnissen sinnieren. Die Absicht der einzelnen Lieder bleibt trotz deren Vielschichtigkeit dieselbe: Die verständlichste Form ihrer selbst sein. Da seine Musik ihren Ursprungs wegen von Grund auf ungewöhnlicher anmutet – er höre eben wenig kontemporäre Pop-Musik – braucht es zur Glättung der Drangsal’schen Ecken und Kanten auf dem Weg dahin vor allem eines: Zeit. Ohne den Druck von Deadlines arbeitet Gruber daher erstmals über ein Jahr lang an einzelnen Liedern, lässt diese auch mal einige Wochen ruhen, beschneidet Inhalte oder setzt von vorne an. Tatsächlich trägt das Endprodukt diesen Vibe – möglichst vielen Ohren offenherzig gegenüber sein – in sich, ohne an den Kernelementen seines Songwritings zu sparen.

Jenseits von gut und böse

Dass „Exit Strategy“ sich traut, noch weniger Acht auf äußere Zuschreibungen von „gut“ und „schlecht“ zu geben, hängt wiederum auch mit der persönlichen Weiterentwicklung seines Erschaffers zusammen. Drangsal dazu: „Das Album jetzt kann man als Ikonoklasmus verstehen – als jemand, der alle Grenzen des guten und schlechten Geschmacks missachtet und macht, worauf er Lust hat – oder man findet es eben total gefällige, hohle Schlagerscheiße. Das spannende ist: I don’t care. Vielleicht ist das diese Selbstsuche.

Das beste Beispiel für diese Ignoranz gegenüber Geschmacksgrenzen, ist das Ankündigungsstück „Urlaub Von Mir“. Drangsal selber – an anderer Stelle deutet er an, er habe den Song lange Zeit nicht wirklich gemocht – attestiert: „[D]en hast du schon geschnallt, wenn du 30% vom ihm gehört hast.“ Und tatsächlich: Die Synthesizer-Keys sind schmandig, der Chorus trieft vor schlageresken Chorälen sowie Pomp und dennoch wippen Kopf und Fuß beschwingt im Takt. Hibbeliger und doch nicht weniger offenherzig schließt „Schnuckel“ in seine Arme. Dessen klebrige Hartnäckigkeit hat besonders eine markant-herausgehobene Gesangs- und Instrumentallinie zu verantworten. Die Inspiration für deren Vocoder-Ästhetik zog Gruber aus dem Prefab Sprouts-Song „Appetite“ und nicht, wie man auch dank ironisch-augenzwinkernden Live-Darbietungen zunächst vermuten könnte, von Wir Sind Helden’s „Nur Ein Wort“.

„I just like ooomph!“

Ein anderes Stück mit dem Titel „Rot“, ein bassig-galoppierendes Indie-Lied, trägt Drangsal bereits seit nunmehr zehn Jahren mit sich herum. Schon auf „Zores“ sollte das eigentlich Platz finden, doch irgendwie sollte es nicht sein. Das ändert sich für „Exit Strategy“. Ein zweites Mal holt Gruber den Song hervor, reduziert dessen Tempo, beschneidet einige Parts und ergänzt ein zumindest ansatzweise aggressives Outro. Dass „Rot“ nun so monumental klingt und endlich einen Platz bekommt, daran trägt wohl auch Patrik Majer Schuld, Produzent einflussreicher Pop-Rock-Platten von Rosenstolz und Wir Sind Helden und erstmals auch eines Drangsal-Albums. 

Dabei hätte Gruber beinahe gar nicht erst mit Majer zusammengearbeitet. Aus der Lust heraus sich selbst bei den Aufnahmen aus der Komfortzone herauslocken zu wollen, möchte Gruber nach Platten mit seinen Freunden Markus Ganter und Max Rieger etwas Neues wagen. Doch irgendwie will es zuerst nicht so richtig laufen. Er trifft sich zunächst mit mehreren Produzenten – unter ihnen auch Grönemeyer-Stammproduzent Alex Silva –, doch der Funke springt niemals über. Der Musiker umschreibt die Lage: „Das Batman-Nottelefon, auf dem ‚Markus Ganter’ steht, hat schon geblinkt und ich war kurz davor das mit dem Nothammer einzuschlagen.“ Rettung jedoch eilt in anderer Form herbei: Podcast-Partner Benjamin Griffey alias Casper schlägt vor, Drangsal solle sich mit Majer treffen, der zu der Zeit noch ein Studio in Berlin betreibt. Und Tatsache: Endlich stimmt das Gefühl – auch wenn er sich noch nicht wirklich vorstellen kann, dass der 50-Jährige gebürtige Tscheche den Sound der Platte so gestalten kann und möchte, wie er sich das vorstellt.

Majer jedoch treibt Gruber zu Höchstleistungen. Gleich drei Mal an verschiedenen Tagen schickt er den Wahl-Berliner in die Kabine, um die Gesänge für das bereits erwähnte „Urlaub Von Mir“ einzusingen. Das schimmernde Introstück wiederum – eigentlich nur eine knappe Minute andauernd – streckt er für den geeignet-oppulenten Einstieg auf nahezu drei Minuten. Und der anfänglichen Skepsis zum Trotz ist der Produzent in der Lage dem Drangsal-Sound den notwendigen Druck zu verleihen. Gruber führt aus: „Patrik weiß einfach, wie man eine gute Platte aufnimmt und mischt. Der Klang ist mir super wichtig. Ich will ja, dass das so glattgebügelt ist. Wenn die Snare bei „Liedrian“ reinkickt und der Sound dann stereo wird, dann hat das „oomph“. I just like „oomph“.

Das finale Produkt tatsächlich schafft einen anfangs bereits angedeuteten Spagat: Die Produktion ist breit, das Songwriting einladend, die Songs jedoch tragen dennoch Energie und Kraft in sich. Für die weitere Entwicklung des Projektes Drangsal lässt das alle Türen offen. Gruber jedenfalls war nie ein Künstler, der für Stillstand bekannt war. Er selbst resümiert: „Wenn ich das dem 21-Jährigen „Harieschaim“-Max zeigen und sagen würde, dass er diese Platte in fünf Jahren macht, würde der sagen: ‚Ach was? Auf gar keinen Fall!’ Das ist ja das Schöne: Man entwickelt sich immer weiter.“ Es gibt doch kaum eine willkommenere Erkenntnis, als die, dass man sich selbst zu überraschen weiß. Wir sprechen uns spätestens in fünf Jahren für eine erneute Rückschau wieder.

Hier könnt ihr das Album „Exit Strategy“ kaufen.*

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Mehr Drangsal gibt es hier.

Und so hört sich das an:

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Drangsal live 2021/2022:

26.08.2021 Neustrelitz, Immergut Festival
28.08.2021 Berlin, Kulturbrauerei
29.08.2021 Berlin, Marienpark
03.09.2021 Mannheim, Maifeld Derby
31.03.2022 Nürnberg, Hirsch
01.04.2022 München, Backstage
02.04.2022 Chemnitz, AJZ
08.04.2022 Hamburg, Markthalle
09.04.2022 Frankfurt, Batschkapp
17.04.2022 Berlin, Huxleys
21.04.2022 Hannover, Faust
22.04.2022 Münster, Sputnikhalle
23.04.2022 Köln, Live Music Hall
29.04.2022 Karlsruhe, Substage
30.04.2022 Leipzig, Conne Island

Die Bildrechte liegen bei Max vom Hofe. 

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