Die auffälligste Neuerung: die Lichttechnik. Dafür ist Fynn (oder Finn?) zuständig, der am Freitag, dem 17.10., in Münster nicht nur Geburtstag hat, sondern auch einen ganz fantastischen Job macht. War Miss Allie doch schon mit ihren zwei Männern auf Tour absolut sehenswert, erscheint sie nun noch in perfekt abgestimmten Farben. Das macht das Erlebnis gleich nochmal schöner.
Eine Sache hat sich ganz besonders in ihren letzten Jahren verändert, erzählt sie. Nämlich die Größe der Hallen. Seit Mitte der 2010er tritt Miss Allie in allen möglichen Locations auf. In allen noch so kleinen wie großen Städten. Immer wieder. Sehr oft. Ganz langsam erreicht „die kleine Singer-Songwriterin mit Herz“, so ihre Selbstbeschreibung, Bekanntheit und spielt sich von Slam-Bühnen auf Theater-, dann auf Kleinstadtbühnen – und mittlerweile in den Admiralspalast in Berlin. Den hat sie erst vor wenigen Tagen vollgemacht. 1500 Menschen kamen, um sie zu sehen. Jeder einzelne sitzt dort völlig zurecht. Münster hingegen hat diese Saison offensichtlich ziemlich gepennt. Obwohl die ersten rund 20 Gigs der Paradiesvogel-Tour im Herbst 2025 fast alle ausverkauft melden, ist der Congress Saal in der Halle Münsterland ungefähr nur zur Hälfte besetzt. Merkwürdig und schade.
Elisa aka Miss Allie ist es unglaublich wichtig, live zu spielen. Ihre Songs dem Publikum zu zeigen. Als Corona die Welt lahmlegte, schlägt die Depression bei ihr zu. Wahrscheinlich auch, weil ihre Berufung nicht ausgeführt werden kann und das Ventil für Gefühle, Alltagsphänomene und Weltstress fehlt. Wie schon bei den beiden vorigen Auftritten, die wir von der einfühlsamen, authentischen Künstlerin im Jahr 2020 und 2023 sehen durften, macht sie sich angreifbar. Wirklich persönliche Geschichten zu erzählen, ist immer noch mutig, nicht selbstverständlich, aber dennoch wichtig, um eine Connection herzustellen und Sichtbarkeit für Probleme anderer Menschen zu zeigen – und das gelingt wieder hervorragend.
Pünktlich um 20 Uhr beginnt das 125 Minuten lange Konzert, das von 25 Minuten Pause unterbrochen wird. Miss Allie startet mit einem verblüffend guten E-Gitarren-Solo. Eigentlich ist die Akustikgitarre ihr Instrument to go, aber jetzt darf sie mal zeigen, wie krass sie flexen kann – oder auch nicht, denn schon nach kurzer Zeit wird demonstriert, dass es sich um ein Solo vom Band handelt. Der erste Lacher sitzt perfekt und gibt vor, was auf einen zukommt. Die Mischung aus verdammt witzig – übrigens sogar sehr viel witziger als viele Shows von Comedians, die aktuell so auftreten – gleichzeitig feministisch wie selbstironisch, gut beobachtet, äußerst politisch und herzzerreißend traurig ist das, was es braucht. Im Fokus steht dieses Mal das Album Paradiesvogel, ihre vierte LP, die erst Anfang September erschien. Über drei Jahre musste man auf den Nachfolger von „Immer wieder fallen“ warten, von dem Miss Allie nun bis auf wenige Ausnahmen alle live präsentiert. Der Albumtitel ist ihrem Cover „Paradiesvögel“ der Band Silly entlehnt. Als Kind aus dem Osten hörte sie die Musik der Kultband oft und fühlte besonders bei jenem Song etwas Intensives. Mit Erlaubnis der Gruppe darf sie ihn nun selbst singen, was textlich wie melodiös auch toll zu ihr passt.
An zwei akustischen und einer E-Gitarre sowie auf einer Ukulele und am E-Piano spielt die in Lüneburg lebende Musikerin knapp 20 Titel. Eine Hälfte Neues, eine Hälfte Bekanntes, das durch ihre nicht mehr zählbaren Auftritte der Vergangenheit zu kleinen Hits wurde. „Schweinesteak Medium“, „Du bist wunderschön“ und das „Liebeslied“ sind dank „Ich bin wieder Single, yeah!“-Chören und anderen geflügelten Worten ein Muss in der Allie-Show und fühlen sich an, als wären sie ein fester Bestandteil der alternativen Deutsch-Pop-Szene. „Dieter – das Regeltagebuch“ ist der perfekte Abschluss für den ersten Teil, „Papiertütenkackimperium“ der Opener für die zweite Hälfte und bringen beide erneut die Crowd zum Grölen und Beben.
Auffällig: Gut gesungen hat sie schon immer, aber die tonale Sicherheit mit dem smoothen Sliden zwischen Brust- und Kopfstimme hat Miss Allie offensichtlich sehr gut trainiert, denn so sicher im Gesang klang sie noch nie. Es reichte ja nicht, ganz toll Gitarre zu spielen, super eloquent zu moderieren und starke Texte zu schreiben – nun spielen auch noch die Vocals auf exakt demselben Niveau mit. Sehr stark. Zweimal bricht ihre Stimme etwas weg, was aber an den Emotionen liegt. Das passiert nämlich einmal bei dem Klassiker „Gelernt ham‘ wir nicht viel“, der offensichtlich von Jahr zu Jahr leider an Aktualität gewinnt, und bei ihrer Geschichte über den Ex-Boy aus Australien, der vor Kurzem verstarb. In „Die Kiste“ lässt sie Erinnerungen aufleuchten und berichtet davon, wie sie ein letztes Mal für ihn auf die andere Seite der Welt flog, nämlich für seine Beerdigung. Dass man da an manchen Stellen doch kurz gedanklich während des Singens abgleitet, ist menschlich und macht das Ganze noch charmanter.
Über die Jahre hinweg erzählt Allie in Alben plus in Livegigs immer wieder ihre Lebensgeschichte. Schnell hat man das Gefühl, sie schon gehört zu haben und zu kennen. Und doch kommen wieder berührende oder auch irritierende und amüsante Aspekte hinzu. „Paris“ ist ein verträumter Lovesong voller purem Glück, „Chinchilla“ super bekloppte Gedankenspinnerei, „Ukulele“ naughtiges Bettgeflüster.
Seit Anbeginn zeigt Allie grenzüberschreitenden Männern die rote Karte. Das macht sie dieses Mal in „Nein“. Gleichzeitig schimpft sie über viel zu häufig nörgelnde Menschen auf Social Media, denen sie mit „Augenringe“ trotzig und selbstbewusst gegenübertritt und zeigt, dass müde Gesichter oft für geile Erlebnisse stehen, die viel wertvoller sind als unerwünschte Meinungsäußerung. „Bye Bye“ fasst in drei Minuten erschreckend zusammen, wie absurd unser Alltag ist und wie schnell man sich mit schrecklichen Entwicklungen abgefunden hat. Nach dem sensationell starken „Europa“ möchte man am liebsten direkt aufstehen, protestieren, Idioten wachrütteln und weinen. Letztes konnten einige an dem Abend in Münster sicherlich nicht dauerhaft unterdrücken.
Es klingt ein wenig schräg, aber irgendwie macht Miss Allie Kinderlieder für Erwachsene. Die Kompositionen regen schnell zum Mitsummen und Mitsingen kann, der Text ist selten verschleiert oder metaphorisch. Stattdessen erklärt sie auf sehr direktem, klarem Weg, was Sache ist. Und das ist sehr viel schwieriger als schwammige, nebelartige Lyrics, die man unbedingt auf sich selbst und seinen Herzschmerz ummünzen mag. Neben den Songs sind auch die Ansagen nicht bloßes Zeitschinden, sondern herrlich spontane Interaktionen mit dem Publikum. Allen voran Allies ironisches Angewidert-Sein von einem frisch verliebten Knutschi-Pärchen in Reihe 3 oder einem kaum mitklatschenden Herrn, der sich trotz freier Platzwahl in Reihe 1 gesetzt hat, aber nicht mitmacht. Miss Allie ist ihre eigene Nische. Und dass diese mittlerweile anerkannt und von genug Publikum wertgeschätzt wird, ist exakt richtig so. Eine total sichere Bank, etwas Perfektes im Unperfekten, das sich immer wieder lohnt.
Weitere Termine in 2025:
18.10. Paderhalle, Paderborn
30.10. Volkstheater, Rostock
06.11. FZW, Dortmund
08.11. Capitol Theater, Düsseldorf
09.11. E-Werk, Köln
21.11. Stromwerk, Dresden
22.11. Alte Oper, Erfurt
27.11. Theaterhaus, Stuttgart
28.11. Roxy, Ulm
29.11. Paulussaal, Freiburg
Und so hört sich das an:
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Foto von Christopher Filipecki
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