Am Donnerstag, dem 27.02.2020, schneit es in Mettmann. Das amerikanische Restaurant und Motel Road Stop ist im Innenhof und auf den Dächern weiß gepudert. Draußen sind es gerade einmal 3°C. Im Inneren befinden sich trotzdem knapp 150 Zuschauer in dem kleinen, stylischen Mehrzweckraum, der sich im hinteren Teil des Restaurants abgetrennt befindet, und die gespannt auf Miss Allie warten, für die sie teilweise bereits vor Wochen Tickets ergattert haben. Das Konzert ist ausverkauft.
Miss Allie, fast 30 und aufgewachsen in Lüneburg, beschreibt die letzten Jahre selbst als unwirklich. 2019 hat sie über 130 Konzerte gespielt und ist mit kurzen Auftritten in der Show NightWash einem breiteren Publikum bekannt geworden. 2020 ist der Kalender nur geringfügig leerer. Man muss in der Tat lange ihre Termine durchscrollen, bis man ans Ende kommt. Da gibt es einerseits viele Auftritte auf Festivals oder in Comedyshows, andererseits aber auch eine erschlagende Anzahl an Solo-Gigs. Einen davon haben wir eben in Mettmann besuchen dürfen, zwischen vielen anderen „Mettmännern und Mettfrauen“ und weiteren, die sich da nicht so klar definieren möchten, wie Elisa Hantsch – so ihr gebürtiger Name – es somit jedem selbst überlassen mag.
Singer/Songwriter und Deutsch-Pop sind zwei Genres, die mittlerweile beim Großteil der musikaffinen Menschen nur noch Gähnen hervorrufen. Man muss schon etwas Kreativität mitbringen, um in diesen überfrachteten Richtungen noch was reißen zu können. Das scheint wohl auch Miss Allie klar zu sein. Die studierte Kulturwissenschaftlerin, die sich sogar in ihrer Masterarbeit mit den Singer/Songwritern der letzten zwei Jahrzehnte auseinandergesetzt hat, kombiniert Harmonien auf der Akustikgitarre mit humoristischen Erzählungen auf Deutsch. Das ist zwar nicht die Neuerfindung des Rades, auch nicht die revolutionäre Hitstrategie für die Charts, aber das kleine Quäntchen Andersartigkeit, das doch genügend Leute zu begeistern scheint.
130 Minuten, die durch eine knapp 25-minütige Pause unterbrochen werden, singt, spielt und erzählt die Künstlerin fast im Alleingang und schafft trotz wenig technischem Aufwand keine Minute zu langweilen. Lediglich Timm Beckmann darf für einen Song mit ihr auf die Bühne. Als Gründer der „Liga der außergewöhnlichen Musiker“ lud er sie in seine Showreihe und ist damit Teil des aufstrebenden Erfolgs von Miss Allie gewesen, die ihn deswegen bei einem Titel ans Klavier setzt und sich mehrfach für seinen Support bedankt.
Den Rest trägt „die kleine Singer/Songwriterin mit Herz“ – so ihr etwas plakativer, aber irgendwie auch liebenswerter, selbsternannter Titel – bar- und leichtfüßig ohne Unterstützung und macht das auf solch eine herrlich komische, gleichzeitig berührend traurige, realitätsnahe und naive Art, dass trotz ordentlicher Spielzeit der Zuschauer selten bis gar nicht den Blick von der Bühne abwendet oder mit den Gedanken abschweift. Obwohl die Wortwahl an vielen Stellen auch von pubertierenden Teenagern so benutzt werden könnte, macht es letztendlich das große Ganze aus, was Miss Allie abhebt. Viele Songs erinnern an Kurzgeschichten vom letzten Poetry Slam und ergeben gern erst in den letzten Zeilen und der damit einhergehenden Pointe Sinn. Wer also zunächst denkt, er hätte diese Idee schon x-Mal gehört, wird meist doch eines Besseren belehrt.
Das mehr als zweistündige Konzert setzt sich ungefähr gleichwertig aus Musik und Erzählungen zusammen. Erzählungen, wie Miss Allie zur Musik kam, wie oft sie von Liebhabern verletzt wurde, warum Psychotherapien mehr toleriert werden müssen, warum sie auf die aktuelle Situation in der Welt häufig einen Groll hegt und welche Personen ihr am nächsten stehen. Über all diese Themen witzelt sie mit teils trockener, teils derber und direkter Komik, die sich durch Wortwitze, Gestik und Mimik zusammensetzt und auch in tieftraurigen Momenten für Lacher sorgt. Lacher, bei denen man nach wenigen Sekunden sich selbst ohrfeigen möchte, dass die Ernsthaftigkeit und Betroffenheit dem Lacher unterlagen, obwohl sie hätten dominieren sollen. Ein paar Minuten später wischt man sich eine Träne aus dem Auge.
Verrückte Liebeslieder wie „Schweinesteak Medium“ und „Du bist wunderschön“ sind lustig und unterhaltsam, stehen Songs zum Schlussmachen gegenüber („Liebeslied“) und funktionieren genauso gut wie politische Gedanken in „Gelernt ham‘ wir nicht viel“ (der Erlös des Songs wird Ende des Jahres an Fridays For Future gespendet), Titel für Familienmitglieder und Freunde („Der Alte“, „Dein Lied“, „War das nicht gestern?“) und Texte mit Selbstreflexion („Das kleine Mädchen“, „Mein Herz und die Toilette“, „Ärgertherapie“). Was fast schon dabei untergeht: Miss Allie spielt überdurchschnittlich Gitarre und lässt trotz wenig Instrumentierung vieles unterschiedlich klingen. Ergänzt wird das eh schon gelungene Potpourri durch eine mädchenhafte, niedliche Stimme, die tonal stets richtig liegt und gesanglich trotz der hörbaren Leichtigkeit gar nicht so leicht nachzumachen ist.
Miss Allie wird mit Sicherheit nicht der Überflieger Deutschlands. Dafür ist das gesamte Konzept doch zu speziell. Aber es ist durchdacht, trifft durch seine alltäglichen und greifbaren Themen den Nerv des konzentrierten Zuhörers, hat ein Alleinstellungsmerkmal und wird mit so viel Sympathie präsentiert, dass wirklich zu wünschen ist, dass es nicht bei zwei Alben bleibt. Ein rundum berührender Abend, der durch den Schnee hinter den Fenstern noch das optische i-Tüpfelchen bekommt.
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Bild von Christopher.
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