Silly, Tempodrom Berlin, 27.11.2021

Instandbesetzung geglückt. Bei einer Band mit einer derartig langen Geschichte wie Silly sie besitzen, ist es nicht immer einfach, überhaupt noch zu funktionieren. Zwar sind Uwe Hassbecker, Ritchie Barton und Jäcki Reznicek mit ihren teils 39-jährigen Mitwirken in der Gruppe schon durchaus treue Mitglieder, aber besonders auf der Seite der Frontsängerin scheinen Steine im Weg eher zum Standard als zur Ausnahme zu gehören.

Gründerin Tamara Danz schaffte 18 Jahre die Band zu leiten, bevor sie 1996 mit gerade einmal 43 Jahren an den Folgen von Brustkrebs verstarb. Doch Silly hatte bereits schon einige Wechsel in der Besetzung durch. Einerseits haben Fans oft Tamaras Stimme bei vielen Songs im Ohr, gleichzeitig haben die Jungs aber ihren Anteil zu den Kompositionen beigetragen, den sie für sich, aber auch für ihre eigenwillige und außergewöhnliche Sängerin weiterleben lassen möchten.

Nach mehreren Auftritten mit unterschiedlichen Gastsängerinnen, sah es zunächst so aus, als ob Anna Loos eine Konstante werden sollte. 12 Jahre mimte sie die Nachfolgerin, bis man sich nach drei Studioalben dazu entschloss, getrennte Wege zu gehen. Stattdessen stehen jedoch seit 2019 nicht mehr nur eine, sondern gleich zwei Frauen am Mikro. AnNa R., bekannt durch das sehr erfolgreiche Duo Rosenstolz, war schon bei einigen Auftritten mit wechselnden Sängerinnen dabei, Julia Neigel hingegen ist neu im Silly-Boot, aber schon seit Jahrzehnten mit Uwe, Ritchie und Jäcki bekannt.

Und genau diese Konstellation scheint irgendwie zu funktionieren. Silly-Fans sind arg kritisch und vergleichen gnadenlos mit der unverwechselbaren Größe Tamara Danz. Ein Großteil konnte sich nie mit Anna Loos anfreunden. Allerdings hagelt es nach einigen Kritiken plötzlich wieder Lob. Die vor zwei Jahren fast ausnahmslos ausverkaufte Tour „Analog“, bei der auf zehn Konzerten jeweils ein Studioalbum im Fokus stand, war der Versuch, mit AnNa R. und Julia Neigel an dem klassischen Sound anzuschließen. Mit der einen fand man eine Person für die intimen, zerbrechlichen Töne, mit der anderen die richtige Rockstimme, um mal wieder voll aufzufahren.

2021 scheinen auch die letzten Zweifler*innen überzeugt. Gab es zwar mit „Instandbesetzt“ – ein untypisches, neues Album, das sich sowohl aus Neukompositionen als auch neu aufgenommenen Versionen von großen Hits und unbekannteren Albumtracks zusammensetzte – endlich auch die ausgewechselten Stimmen aus dem Studio zu hören, aber eine richtige Sogwirkung entsteht erst live. Wie stark die ist, kann man unter anderem beim Tourabschlusskonzert in Berlin im Tempodrom sehen. Der 27.11.2021, ein Samstagabend, zeigt, dass eigentlich alles stimmt.

Dabei sieht es zunächst für die Tour alles andere als gut ist. Fünf Shows werden bereits vor Beginn gecancelt, weil man mit der in manchen Bundesländern geltenden 2G-Regel unzufrieden ist. Als die jedoch deutschlandweit zählt, möchte man nicht noch mehr streichen – muss es aber trotzdem. Zwar sind Dresden und Leipzig zwei sehr beliebte Spielstädte für die Band, doch der dort verhangene Lockdown pustet die zwei geplanten Gigs in Sachsen vom Plan. Heißt final: Sieben Auftritte statt 14. Aber besser sieben als null.

Die letzte Chance 2021 also in Berlin. Noch einmal alles geben. Für sich und für die Zuschauer*innen. Die kommen in Scharen und machen das Tempodrom fast voll. Einige Plätze bleiben leer, weil manche Karteninhaber*innen aufgrund der 2G-Regelung nun nicht mehr an der Show teilnehmen können oder wollen, aber die, die da sind, haben Bock. Die Fünf lassen mit ihren zwei zusätzlichen Instrumentalisten ihre Crowd gute 20 Minuten zu lang warten, aber um 20:22 Uhr geht endlich das Licht aus.

In den darauffolgenden, langen 140 Minuten zeigen Silly, dass sie mit den richtigen Leuten an den Instrumenten und mit den richtigen Leuten an den Mikrofonen eine sehr breite Palette an Musik bedienen können. Von lupenreinem Classic Rock über Pop-Melodien, Blues-Momenten bis hin zu starken Liedermacher*innen-Titeln ist das fast zweieinhalb Stunden Konzert nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ beachtenswert.

Silly geben jede*r Raum. Sich selbst, ihren neuen Sängerinnen und ihrer verstorbenen Galionsfigur. Uwe, Ritchie und Jäcki erzählen teils minutenlange Geschichten, um sowohl witzige als auch rührende Augenblicke zu schaffen. Julia Neigel und AnNa R. stehen oft abwechselnd, manchmal aber auch zusammen vorn und spielen sich kein einziges Mal dominant in den Vordergrund, sondern funktionieren immer als eine Komponente neben den drei Ur-Sillys. Der wohl größte Unterschied zur Vorgängerin Anna Loos.

Bühnentechnisch ist neben stimmigem Licht und großen Tüchern mit dem Bandlogo nichts zu beobachten, was aber in keinem Moment auch nur einen Hauch zu wenig ist. Stattdessen sorgen hervorragende E-Gitarren-Soli von Uwe, unglaublich treibende Basssounds von Jäcki und die gewohnt eingängigen Pianotasten von Ritchie für oft knallige, aber eben auch stark berührende Lieder, die alle ab Sekunde 1 auch von der Tontechnik hervorragend abgenommen werden.

Gesanglich gab es besonders 2019 zwischen Julia und AnNa ein arg großes Gefälle. Weiß AnNa R. zwar mit ihrer Fragilität in guten Augenblicken abzuholen, wirkte sie gleichzeitig jedoch mit ihrer Unsicherheit und fehlenden Körperspannung ein wenig deplatziert und teils auf die Bühne gezerrt. Die wesentlich routiniertere Rockröhre Julia hingegen konnte schon bei „Analog“ vollends überzeugen. Doch tatsächlich scheint sich die Ex-Rosenstolz-Sängerin nach einer Tour und gemeinsamen Zeiten im Studio sehr an die Runde gewöhnt zu haben.

Dass sie die großen sozialkritischen und traurigen Balladen wie „Verlorne Kinder“, „Bataillon D’Amour“ und „Wo bist du?“ trägt, überrascht nicht – dass sie aber bei schauspielerischen und erzählenden Titeln wie „Puppe Otto“ plötzlich voll aus sich rausgeht und über die Bühne tanzt, scheinen wohl die Wenigsten erwartet zu haben. Ein genialer und stark herausstechender Moment. Im Gegenzug dazu macht Julia mit der gruseligen Rocknummer „Halloween in Ostberlin“ das ganz große Fass auf und ballert in Hochform die richtig starken Töne.

Die Setlist setzt sich sowohl aus dem Album „Instandbesetzt“, das bis auf „Leg mich fest“ komplett gespielt wird, und einigen Highlights der Tour 2019 zusammen. Zwar wurden „Ich sag nicht ja“, „Zwischen den Zeilen“, „Tanzt keiner Boogie“ und besonders bedauernswerterweise „Hurensöhne“ gestrichen, dafür machen sich aber die neuen Kompositionen „Werden und vergehn“ im Duett und auch „Lautes Schweigen“ von Julia solo hervorragend. Ansonsten sind aber die besonders auffallenden Songs wie „Schlohweißer Tag“, „S.O.S“, „Asyl im Paradies“ und auch das Gänsehaut erzeugende „Abendstunden“ als Finale geblieben. Bei einer derartigen Auswahl an Liedern ist es unmöglich, es jede*r rechtzumachen – es gelingt aber vorzüglich.

Fans von altem, handgemachtem, deutschem Classic Rock mit Tiefgang sehen hier erneut nicht weniger als ein nahezu perfektes Konzert, bei dem die Akteur*innen wissen, was sie tun und sich untereinander die Karten zuspielen, statt eine eigene, unerwartete aus dem Ärmel zu schütteln. Silly sind Kult, Silly sind für Ostdeutschland lebende Legenden, Silly sind hoch musikalisch und beweisen mit ihrer gerade endenden Tour abermals, dass sie in ihrer Liga nahezu konkurrenzlos sind. Die Sängerinnen dürfen, nein, müssen bleiben – und die nächsten Liveshows dürfen, nein, müssen nun gern verkündet werden.

Und so hört sich das an:

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Foto von Christopher

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6 Kommentare zu „Silly, Tempodrom Berlin, 27.11.2021“

  1. Ich habe nur bis zur Hälfte gelesen, dann habe ich wegen der Gendersterne aufgegeben, schade. Ich hoffe andere Leserinnen und Leser akzeptieren meine Meinung. K-D Grünbein

    1. Hey Klaus-Dieter,
      ob andere Leser*innen deine Meinung akzeptieren, kann ich nicht beurteilen.
      Ich akzeptiere sie jedenfalls. Aber du könntest ja im Umkehrschluss auch akzeptieren,
      dass wir gerne gendern möchten und einfach trotzdem bis zum Ende lesen.
      Der eigentliche Inhalt sollte sich ja durchs Gendern weder verbessern noch verschlechtern.
      Viele Grüße!

  2. Danke für den tollen Konzertbericht. Ich durfte dabei sein und war begeistert!
    Die Verspätung ergab sich daraus, dass 2G+ ganz kurzfristig angesagt war und noch nicht alle die Äbderubg mitbekommen hatten. Somit wartete man doch gern auf Testergebnisse, dass dann auch alle das komplette Konzert erleben konnten.

    1. Schön, dass du es auch so toll fandest, Steffi! Das freut mich sehr zu lesen. Und danke für den Hinweis, das ergibt Sinn, jap! Vlg Christopher

  3. Bericht gelesen und für gut befunden, Daumen hoch. In der zweiten Reihe entging uns nichts. Habe jetzt deinen Namen gelesen und denke… wir kennen uns wohl schon länger (RS Veranstaltungen mit Ron).

    1. Hey Petra 🙂 Ach witzig, dass du nun wirklich auf unserer Seite vorbeigeschaut hast!
      Danke dir fürs Lesen und natürlich fürs Feedback.
      Ja, ich hab dann im Nachhinein auch erfahren, dass du Rosenstolz-Fans bist und sich unsere Wege somit schon häufiger mal gekreuzt haben müssen.
      Viele Grüße aus Dortmund!!

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