Menschen mit Erfolg schaffen es schnell, noch erfolgreicher zu werden. Warum? Weil über sie viel berichtet wird. So lassen sich auch ausverkaufte Konzerte trotz Pandemie und Inflation erklären. Doch in erster Linie trifft das, was nun seit drei Jahren irgendwie anders ist als vorher, die kleineren Acts wesentlich härter. Die, die sich sowieso immer den Arsch aufreißen, viel mehr spielen müssen als die großen Fische im Teich und aktuell reihenweise ihre Gigs absagen dürfen. Miss Allie ist aber eine Künstlerin, die nahezu nur live funktioniert und sich auf der Bühne in Gefühlswelten verliert.

Die 32-jährige hat vor Corona weit über 100 Gigs pro Jahr gespielt. Das sollte 2020 eigentlich so weitergehen. Sollte, sollte, sollte. Ein Konzert in Wesel stand ebenfalls auf dem Tourplan und drehte rekordverdächtige Ehrenrunden, wie es die in Lüneburg aufgewachsene Künstlerin selbst erzählt. Fünf- oder sechsmal verschoben? Weiß sie selbst nicht mehr genau. Der Termin im Dezember ’22 scheiterte zuletzt jedoch nicht an Erkrankungen oder insolventen Venues, sondern an Kacke-Duft. Ja, richtig gelesen. Das wollte man niemandem zumuten. Dabei ist „Kacke“ zweifellos eines von Miss Allies Lieblingsworten, das immer mal wieder in ihren Songs auftaucht.

Stattdessen zieht man zwei Monate später ins 15 Kilometer entfernte Dinslaken und versammelt sich in der wirklich hübschen Kathrin-Türks-Halle. 400 Personen haben ihre Tickets nicht zurückgegeben. Das Publikum ist doch ein wenig älter, geschätzt meist über 40 und der Location entsprechend eher casual chic gekleidet. Gelacht wird bereits wenige Minuten vor Showbeginn, ist Miss Allie nämlich selbst für den Gong zuständig, um ihre Schäfchen rechtzeitig ins Trockene zu holen. Gong 1, der ankündigt, dass noch Zeit sei, um Pipi zu machen, Gong 2, um zum Platzeinnehmen zu animieren, Gong 3 als Zeichen dafür, dass es losgehen kann.

Schon 2020, als eines der letzten Konzerte vor dem ersten Lockdown, wusste die „Kleine Singer/Songwriterin mit Herz“, die stets barfuß auftritt, uns zu begeistern. Damals besonders stark: Die Tatsache, nicht zu wissen, was passiert. Denn genau dann, wenn man mit wenig Vorahnung ihre Show besucht, weiß Miss Allie gnadenlos zu überraschen und viel Esprit zu hinterlassen. Funktioniert das auch ein zweites Mal? Ist ein Miss–Allie-Konzert auch gut, wenn man hohe Erwartungen hat?

Fast drei Stunden nach ausgegangenem Licht kann die Befürchtung aus dem Weg geräumt werden. Mit einer unglaublichen Spiellänge von 150 Minuten, unterbrochen von gut 20 Minuten Pause, unterhält die wahnsinnig sympathische, natürliche und sehr sensible Person auf richtig hohem Niveau. „Learning by doing“ ist eben immer noch das Motto vieler Dinge, so scheint auch Miss Allie trotz wesentlich weniger Auftritte in der Corona-Zeit extrem viel dazu gelernt und sich einfach nochmal um eine ganze Ladung an Professionalität verbessert zu haben.

Die Allzweckwaffe: Das Alleinstellungsmerkmal. Und mal ganz ehrlich, wer besitzt das schon noch groß? Um vom großen Erfolgs-und-Airplay-Kuchen ein Stück abzubekommen, ist Einheitsbreit die Devise. Das in Berlin geborene Talent bewegt sich aber genau davon äußerst weit weg und wählt lieber eine Kombination, die so in Deutschland niemand auf die Bretter bringt. Tatsächlich ist Sängerin auch keinesfalls weit genug gefasst, denn Miss Allie ist keine Person, von der man im Nachhinein sagen würde, dass sie so super toll gesungen hat. Sie singt gut, aber das allein macht’s eben nicht. Stattdessen ist der Mix aus selbstgeschriebenen Songs, ziemlich gutem Gitarrenspiel auf drei Modellen, kabarettistischen Anmoderationen, politischer Satire, feministischer Haltung, liebestrunkener Nostalgie und gekonnter Gestik und Mimik ein wahres Feuerwerk an Kleinkunst.

Ganz ernsthaft: Jede einzelne Komponente, die Miss Allie für sich auswählt, scheint in den guten sieben Jahren, die sie Deutschland bereits unterhält, wie mit der anderen verschmolzen zu sein. Durch wirklich schönes, ruhiges und entspannendes Licht sowie einigen kleinen Bühnenrequisiten holt die Liedermacherin in nicht mal zehn Minuten das Publikum ab und darf schon anfangs großen Applaus genießen. Alltagsmomente, die mal schwermütig im Bauch liegen, dann aber naughty und ein wenig anstößig aufgelockert werden und einfach gut und klug beobachtet wurden, geben eben genug Identifikationsfläche, um sich dem Ganzen wohlwollend hinzugeben.

Auf der laufenden Immer Wieder Fallen-Tour 2023 finden selbstredend auch viele neue Songs den Weg auf die Setlist. Menschen, die bisher von der leicht naiv, verträumten, aber immer authentischen Persönlichkeit noch nicht gehört haben, könnte man natürlich nun empfehlen, einfach mal bei Spotify ein paar Titel durchzuhören. Allerdings ist, wie eingangs erwähnt, Miss Allie wirklich eine Bühnenfigur. Sicherlich zünden einige Songs durchs bloße Zuhören, aber bei vielem ist dann doch auch der ausgelassene Tanz, das virtuose Rumzupfen an der Gitarre, die skurrile Gesichtskirmes und die Atmosphäre im Raum von Nöten, damit auch die Tracks der letzten LP überzeugen.

Bei drei Alben ist es leider nicht mehr möglich, alles zu spielen. Besonders dann nicht, wenn Improvisation zwischendrin ein wichtiger Bestandteil ist. So schaffen es die zwei wirklich berührenden Songs „Dein Lied“ und „War das nicht gestern“ nicht den Weg nach Dinslaken, aber ansonsten kann man bei „Schweinesteak Medium“, „Du bist wunderschön“ oder „Papiertütenkackimperium“ schon fast von Klassikern sprechen. Zwar sind nur wenige im Saal schon vormals bei einem Konzert der Künstlerin gewesen, trotzdem wird bei jeder Aufforderung lauthals mitgesungen, geklatscht, geschunkelt und sich einfach mal ein wenig bräsig verhalten, weil’s ja alle tun.

„Dieter – Das Regeltagebuch“ löst wenig überraschend erneut Begeisterungsstürme aus. Bei „Liebeslied“ wird dank schwarzem Humor viel Gelächter hörbar, ähnlich schafft auch der Neuzugang „Ukulele“ als Zugabe sofort zu fruchten. Spannend ist aber die emotionale Vielfalt, die aufgefahren wird, sodass „Feuer und Flamme“ und „Luftschloss“ Märchenstunden gleichen, „Weltsicherheitsrat“ Parolen liefert, die zeigen, dass Kritik an politische Entscheidungen auch ohne Rumgeschwurbel funktionieren – und wenn die Künstlerin sich ausnahmsweise ans Klavier setzt und bei „Verkackt“ völlig ungefiltert ihr Herz in den Saal wirft, ist das großes Kino. Um irgendwie aus dem melancholischen Moment wieder entfliehen zu können, spielt sie spontan mit noch feuchten Augen „Wonderwall“ von Oasis. Das wurde sich eh immer von ihr gewünscht, als sie damals noch in Pubs auftrat.

Zweieinhalb Stunden von einer einzigen Person ohne jegliche aufkommende Langeweile. Miss Allie vergreift sich einige Male an ihrem Instrument, weil einfach alles live und im Moment passiert, ohne den Anspruch zu haben, perfekt zu funktionieren. Denn das, was funktioniert, funktioniert auch so ganz fantastisch. Comedy, Musik, Schwermut, Muskelkater im Bauch. Unbedingt Tickets kaufen, unbedingt unterstützen. Ein Beispiel dafür, dass deutsche Musik so viel mehr kann, als gleich und berechenbar zu sein.

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Foto von Christopher

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