„Wir gucken hier auf die Spree drauf“, sagt David Frings und schaut demonstrativ am Handybildschirm vorbei aus dem Autofenster. Gemeinsam mit seinem Bandkollegen Chris Hell sitzt er an einem Novembernachmittag im Ost-Berliner Stadtdschungel und führt das Interview aus dem Auto heraus. In ebenjenem Gefährt sind er, Hell und Frank Schophaus – gemeinsam bilden sie die Gruppe Fjørt – in den Stunden zuvor durch die halbe Republik in die Hauptstadt gereist, um für einen Nachmittag standhaft den neugierigen Nachfragen von Presse- und Radiomenschen zu begegnen. Eine knappe halbe Stunde haben wir Zeit, es wird schlussendlich ein bisschen mehr, denn es gibt vieles zu besprechen. Doch dazu an anderer Stelle mehr.
Lückenmalerei
„Das fing so an, wie immer bei uns“, sendet Hell wenige Minuten später per digitaler Videopost nach Köln. „Das“ ist in dem Fall „nichts“ und „nichts“ ist die neue, vierte Langspielplatte der Aachener. Sie wird einen Tag nach unserem Gespräch für alle Ohren erhältlich sein. Endlich, denn seinen Anfang nimmt „nichts“ bereits während und nach den abschließenden Tourneen zum Vorgänger „Couleur“ im Jahresverlauf 2019 im Aachener Proberaum. Ideen verdichten sich zu Liedern. Aus wenigen werden flugs viele Songs. Und irgendwann möchte all das in Tonspuren und später in physischen Tonträgern festgehalten werden. So weit, so normal. Letzterer Schritt vollendet sich vorläufig im Frühjahr 2020 in den von den Arbeiten an „Couleur“ altbekannten Toolhouse Studios, in denen die Band gemeinsam mit Tontüftler Beray Habip („wunderbarer Typ“) das zusammenschustert, was über Umwege dann „nichts“ wird. Weitere externe Hilfen nimmt die Band nicht in Anspruch. „Wir fanden da ist so viel von uns drin und das wollten wir so roh halten“, erklärt der Bassist die Entscheidung auf eine*n Produzent*in zu verzichten.
Von da an nimmt der Entstehungspfad von „nichts“ einen Pandemie-typischen Verlauf. Nach den Aufnahme-Sessions verordnet die höhere Macht eines: Ruhe. „Wir wollten nicht in eine Pandemie reinreleasen“, erklärt Frings und betont es gäbe in solchen Zeiten weitaus wichtigeres. „nichts“ liegt daher zunächst einige Monate still. Dann jedoch kribbelt es der Band in den Fingern, die Rohmixe werden ausgepackt, Kontrolle gehört. Von da an beginnt ein Feinjustierungsprozess, in dessen Zuge ganze Zeilen auf den Kopf gestellt werden und existentes Musikalisches in andere Form gepresst wird. Man habe hier und da „mit dem Pinselchen etwas beigefügt“ und „ein paar Lücken ausgemalt“, erklärt Gitarrist Hell. Ein Sinnbild dieses Vorgangs ist der Einstieg in das nach der belarussischen Auswanderermaus aus dem gleichnamigen Zeichentrickspielfilm benannte Stück „feivel“. Frings berichtet: „Der ging direkt sehr groß los. Wir haben aber gemerkt, dass uns das too much ist und ein anderer, intimerer Vibe besser passt.“ Wer einen Eindruck davon gewinnen möchte, wie das einst klang, kann sich die Rockpalast Live-Session anschauen, die die Band 2020 in einem Hürther Kino aufgezeichnet hat. Dort nämlich spielen Fjørt das Stück – samt altem Einstieg – als instrumentales Intro.
Musikdiktat
Dieser nachträgliche Feinschliff jedenfalls tut dem Album gut. Erstmals – so scheint es – grenzen sich Fjørt nicht strikt von früheren Schaffensphasen ab, sondern lassen auch markanten Elementen des Frühwerks Raum. Es gibt das unruhige Rauschen von „demontage“, die langen, oft ewig wiederholten Satzpattern von „d’accord“, das Monumentale sowie das Piano von „Kontakt“ und die Riff-Gewalt von „Couleur“. „nichts“ ist trotzdem mehr als all das und lässt auch neue Impulse zu. Die Band nämlich treibt ihren Sound in die Extreme. Stücke wie „sfspc“, „bonheur“ und „fünfegrade“ sind melodischer und vor allem gesangslastiger als alles, was die Drei bislang angefasst haben. Gäbe es das stellenweise doch scharfe Gebrüll nicht, man könnte den Stücken gar eine gewisse Indie-Leichtigkeit attestieren. Kontrastiert wird das auf der anderen Seite von widerspenstigen, kantigen Hardcore-Brettern wie „lod“ oder „schrot“. Gefragt nach den Ursprüngen dieses musikalischen Doppelwumms, kommt Frings auf die Rolle von Intuition und Bauchgefühl zu sprechen. Er führt aus: „Effektiv entsteht ein Song immer aus einem gewissen Gefühl. Woher eine Idee kommt, kann ich dir nie sagen.“ Wichtig sei im weiteren Verlauf, dass die Zahnräder ineinander greifen. Ob das Endergebnis dann hart oder melodisch ist, sei abschließend egal.
All das trägt eine gewisse Romantik in sich. Da sind die Ideen, die einfach so auftauchen und sich im Fluss irgendwann zu vollwertigen Songs verfestigen. Und da sind die Erschaffer dieser Ideen, die selbst nicht ganz Herr ebenjener sein wollen. Ähnlich schaut das auch im Hinblick auf die Texte aus, die trotz der Fjørt-typischen Chiffren ebenfalls offener und greifbarer werden. „Die Musik gibt dir ein Feeling und anhand dessen formt sich eine Art von Text“, versucht Hell diese Entwicklung zu erklären. Wenn also die instrumentale Grundbasis ohne Umschweife Mauern zerbombt, dann diktiert diese auch dem zunächst geschriebenen, später geschrieenen Wort einen ähnlichen Auftritt auf. Wo die Band dann früher noch kleinere Schleifchen einfügte, bleiben diese direkten Gefühlsausbrüche nun einfach stehen. Frings resümiert: „Das muss dann auch genauso in den Song, weil es das Gefühl widerspiegelt.“
Ein solcher Song, auf den das zutrifft, ist „kolt“. „Ich tue gar nichts, weil es gemütlich ist hier bei uns“, stellt Frings dort die eigene Untätigkeit an den Pranger. Den eigenen Privilegien nämlich stehen vieldimensionale soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten gegenüber. Dass diese Erkenntnis eine gewisse Ohnmacht hervorruft, ist eigentlich nachvollziehbar. Frings aber geht hart mit sich ins Gericht und resümiert grade heraus: „Fick dich, David!“. Die Frage nach dem Ursprung des Songs jedoch bleibt zunächst unbeantwortet. Die Band muss weiter, das Radio ruft. 80 Minuten später – nun sind wir per Telefon verbunden – gibt es dann aber doch noch Aufschluss. „Wenn man Texte schreibt, geht man schnell auf das ‘wir’. Man setzt seine eigene Person in einen gesellschaftlichen Kontext und zählt sich als einer von vielen. Das schiebt die Schuldfrage weg“, führt der Urheber der Zeilen aus. Frings beginnt den Text stattdessen ganz bewusst von einer anderen Perspektive aus und hält sich den Reflexionsspiegel vor, um die eigene Rolle in alldem nicht aus dem Bewusstsein zu verlieren. Denn: „Auch wenn du in einer Bubble sozialisiert wurdest, die dir gute Werte mitgegeben hat, ist man selbst Kern des Problems.“ Selbst wenn Fjørt nämlich durch ihre Songs wichtigen Problemfeldern zu Reichweite verschaffen, die Bäuche der Ärmsten und Schwächsten werden sie nicht füllen können.
Generell ist „nichts“ oft im Kleinen politisch. Zeuge davon ist auch das sechsminütige Titelstück, das die Auswirkungen gesamtgesellschaftlicher Erwartungshaltungen thematisiert. „Was macht eigentlich Annegrets Sohn? Der war immer schwer in Ordnung. (…) Nur in letzter Zeit frag ich mich: Was ist los? (…) Diese Larifari-Scheiße“, heißt es dort fast wie einem direkten Dialog entnommen. Hell, der die Zeilen zu Papier gebracht hat, erklärt: „Dieses Gespräch hat nicht exakt so stattgefunden. Aber jedes einzelne dieser Teile schwirrte schonmal im Kopf herum. Zusammengesetzt bildete das ein Abbild davon, wie man schon im Kleinen diesen Druck verspüren kann, der heute in allem präsent ist. Der Protagonist ist eben jemand, der mit dieser Art von Druck nicht gut klarkommt.“ Was dauerhaft bewertet wird, ist der oberflächliche Eindruck. Die Gedankentürme, die sich tatsächlich in einem auftun, spielen dafür nur eine marginale Rolle – auch wenn diese für das eigene Wohl sehr viel wichtiger sind. All das kulminiert schlussendlich zu einer Schlüsselzeile, die eine vermeintliche Auflösung des Problems bereithält: „Wenn wir nicht wahr sind, dann tu so als ob.“ Es bleibt fraglich, ob ebenjene Strategie tatsächliche Erfolgsaussichten bereithält.
Los, Auftischen!
Über ein Jahr lang wartet „nichts“ nun schon darauf, aus dem Schatten ins Scheinwerferlicht treten zu können. An neuem Material will die Band in der Zwischenzeit noch nicht gearbeitet haben. Einen Großteil des noch laufenden Jahres stecken die Drei in die Proben für die zwei „Ein Tag. Alle Platten“-Konzerte in Köln und Hamburg. Dort spielen Fjørt sich im August jeweils in vier verschiedenen, zunehmend in der Kapazität anschwellenden Lokalitäten quer durch alle ihre bisherigen Veröffentlichungen, bloß um das abschließende Momentum zur Ankündigung des „nichts“-Zyklus zu nutzen. Und auch generell fühlen sich Frings, Hell und Schophaus noch nicht bereit, schon das nächste Kapitel aufzuschlagen. Man habe so lange an „nichts“ gearbeitet, da sei man nun froh das Ganze endlich der Welt zeigen zu können. Frings findet die passenden Abschlussworte: „Wir haben lange eine richtig geile Pizza belegt und jetzt futtern wir die. Aber die wird ja nicht weniger lecker, nur weil du sie länger belegst. Die ist gerade richtig frisch, die dampft. In der Phase sind wir jetzt. Da nimmt sich nun jeder ein Stückchen und wenn der Pizzakarton leer ist, schauen wir mal, wo wir den Teig für die Nächste Pizza hernehmen.“ Guten Hunger.
Mehr Fjørt gibt es hier.
„nichts“ kannst du dir hier (physisch) und hier (digital) kaufen.*
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Und so hört sich das an:
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Fjørt live 2023:
18.01. Rostock, Peter Weiss Haus
19.01. Leipzig, Werk 2 Halle D
20.01. Münster, Sputnik Halle
21.01. Bremen Schlachthof
26.01. Essen, Zeche Carl
27.01. Hannover, Musikzentrum
28.01. Stuttgart, Im Wizemann (Halle)
29.01. München, Ampere
30.01. Wien, Arena Halle
31.01. Erlangen, E-Werk
01.02. Dresden, Beatpol
02.02. Berlin, Metropol
03.02. Hamburg, Fabrik
04.02. Wiesbaden, Schlachthof
05.02. Köln, Gloria
Die Fotorechte liegen bei Sophia Roßberg.
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