So viel Wirbel gab es im Vorfeld um den deutschen Eurovision–Song–Contest-Act wohl zuletzt bei Lena im Jahr 2010. In den darauffolgenden Jahren hat’s oft nicht so richtig geklappt. Zig letzte und vorletzte Plätze, einfach, weil entschieden zu wenig Mühe bei der Auswahl investiert wurde. Äußerst großkotzig krallte sich just Stefan Raab den deutschen Vorentscheid und sagte, dass sein Ziel Platz 1 wäre. Hat nicht so ganz geklappt. Abor & Tynna befinden sich dennoch gerade auf der Überholspur.
Das Geschwister-Duo aus dem österreichischen Wien mit ungarischen wie rumänischen Wurzeln und einem Hang zu Berlin war keinesfalls auf Anhieb der Favorit. In der vierteiligen TV-Show “Chefsache” gab es extrem große Stimmen wie die von Cage, old-schooligen Singer/Songwriter von Benjamin Braatz und Mittelalter-Rock von Feuerschwanz, die bereits den ersten Platz der deutschen Albumcharts belegen konnten. Eigentlich war da für das musikalisch gute, aber dennoch eher unauffällige Duo Abor & Tynna wenig Spielraum. Der Cover-Auftritt zu Adeles “Skyfall” war solide, mehr nicht. Allerdings befindet man sich eben auf der Suche nach den passenden Vertreter*innen für den Eurovision Song Contest, nicht für “The Voice of Germany” und auch nicht für die nächste Stadionhymne.
Völlig offensichtlich bietet der Großteil der Artists, die eben meist noch Newcomer*innen sind, zwar ganz nette, sogar selbstgeschriebene Songs an, aber der ESC-Banger fehlt nahezu bei allen. Außer bei Abor & Tynna. Die wollen eigentlich mit einem ganz anderen Song antreten, allerdings entdeckt Stefan Raab in einer Story, die als Albumpromo dienen soll, “Baller” und kriegt fortan die Hook nicht mehr aus dem Kopf. Ein wenig Überredungskunst später, ist “Baller” das komplette Gegenteil von dem, was das “Skyfall”-Cover vermuten lässt – und Abor & Tynna plötzlich ein vielversprechender, cooler, moderner Electro-Act auf Landessprache.
All zu viel erhofft hatten sich Attia und Tünde, wie die beiden eigentlich heißen, von der Teilnahme an der Show nicht. Eher eine gute Werbeplattform für das schon im Februar erschienene Debütalbum Bittersüß. Einfach ein bisschen mehr Bekanntheit. Im vergangenen Jahr traten die Beiden schon als Support für Nina Chuba auf, zu der sich einige Parallelen ziehen lassen, die selbst aber mehr im Rap verankert ist. Doch dann spricht sich Raab mehrfach dafür aus, dass “Baller” genau das ist, was der ESC braucht – und dank einiger geschickter, wenn auch nicht ganz fairer Abänderungen für die finale Auswahl lautet am Ende das Ergebnis: Abor & Tynna reisen mit “Baller” für Deutschland nach Basel.
Dass schon im Finale Tynnas Stimme angeschlagen klingt, ist ungünstig. Das Video mit der unterdurchschnittlichen Gesangsperformance macht die Runde. Zwar hypen diverse Eurovision-Fans auch international die Nummer, die nach 18 Jahren erstmalig wieder fast komplett auf Deutsch daherkommt, aber gleichzeitig macht sich das Gerücht breit, dass Tynna nicht singen könne. Auch noch Wochen später finden Auftritte statt, in denen die Stimme teilweise noch kränker klingt. Kehlkopfentzündung, lautet die Diagnose. Eine ganze Rutsche weiterer Promo-Gigs wird gecancelt. Zwar ist die Stimme größtenteils Mitte Mai in Basel wieder fit, eventuell hat aber das Vorentscheid-Video sowie die nicht stattgefundenen Gigs ein paar Votes gekostet: “Baller” landet dank guter Performance von allen Beteiligten im Finale auf Platz 15. Das ist wesentlich besser als viele andere deutsche Entrys der letzten Jahre, gleichzeitig aber schlechter als Isaak im Vorjahr – und so oder so schon eine kleine Enttäuschung.
Glücklicherweise hält die aber gar nicht so lang an: Der Mega-Ohrwurm beißt sich gekonnt in allen Gehörgängen des Kontinents fest und kann in der Woche nach dem Wettbewerb die besten Chartplatzierungen von allen 37 Beiträgen einheimsen – und das in zig Ländern. In Deutschland und Österreich geht’s bis auf die 3, in der austragenden Schweiz auf die 5, in Litauen (!) sogar auf die 1 und selbst in UK macht man mit einem soliden Platz 34 mit. Das Credo lautet also: Eigentlich geht’s jetzt erst los. Und käme da nicht ein Re-Release von Bittersüß gerade recht? Ach, guck! Kam einen Tag vorm ESC-Finale. Praktisch.
Aus der schon mit 16 Songs recht vollbepackten ersten Version wird mit nun krassen 25 Tracks ein richtiges Package. 70 Minuten lang zieht Bittersüß (Baller Deluxe) durch und beweist, dass Abor & Tynna noch einige Asse im Ärmel haben. Ob “Baller” überhaupt das stärkste Brett war? Ansichtssache. Tatsächlich gibt es nämlich locker noch drei, vier weitere Titel, die mit einem ähnlich guten Händchen eine schicke Balance zwischen hookigem Chorus, Lyrics mit Identifikationsfläche und catchy Produktionen zwischen Techno-Club und Nachtfahrt auf der Autobahn oder E-Scooter in der diesigen Innenstadt präsentieren.
Schon das Klavier-Intro zu “Parallele Linien” mit klassischen Arpeggien wirkt auf Anhieb vertraut. Dass zwei Menschen, die irgendwie nebeneinanderher leben, manchmal nicht den Punkt finden, in dem sie sich kreuzen, um gemeinsam zu verschmelzen, ist ein schönes Bild, das mit viel Choreffekt, entspannter Rhythmik und einem guten Pop-Flow wirklich ein sehr starkes Opening anbietet.
Das laszive “Psst” mit viel Autotune gibt den Eindruck, der die LP gut repräsentiert. Etwas bouncig, gut elektronisch, atmosphärisch. Dass es manchmal besser ist, wenn das Gegenüber einfach mal den Mund hält und nur guckt, kennen wir ja alle.
Auch wenn das Niveau auf Albumlänge nicht gehalten werden kann, so gibt es trotzdem wenige Negativausreißer. Bittersüß ist ein Album, das zwar nicht so wahnsinnig viel Abwechslung im Klang liefert, dafür aber auch keinen Moment stört. Das clubbige “Engel in Jeans”, das sehr kühle “Katana” mit Trance-Elementen oder auch der 90er-Drum’n’Bass-Ausritt “Mama” sind alle keine so großen Würfe, müssen aber auch nicht geskippt werden.
Wie eine kleine Hymne an Berlin wirkt “Coco Taxi”, das lupenreines Chartpotenzial mitbringt und mit überraschender Summer-Vibes-Reggae-Bridge sofort zieht. In “Babylon” und “Tan Lines” klingt Tynna wie Domiziana. Ähnlichkeiten sind da keinesfalls von der Hand zu weisen, was aber auch ok ist – so klingt deutsche Musik made in Germany eben 2025. Im Eurodancer “Winnetou” greift Tynna auf ihre ungarischen Wurzeln zurück und singt einige Zeilen auf der richtig schön klingenden Sprache. Sowieso kommt immer der musikalische Einfluss des Vaters durch, der bei den Wiener Philharmonikern spielt – Abor spielt mehrfach auf der Platte Cello-Soli, Tynna ist übrigens eine mit Preisen ausgezeichnete Querflötistin.
Dieses Spiel zwischen klassischen Elementen und diversen elektronischen Beats macht Spaß. Nach dem stripped down Rauswurf “Songs gehasst” hat die Deluxe-Edition des Longplayers leider nur einen wirklich neuen Song zu bieten. “Rotkäppchen” ist jedoch mit seiner feministischen Partygirl-Attitüde wieder hitverdächtig. Ergänzt wird das Bonusmaterial durch akustische Versionen von “Winnetou”, “Parallele Linien” und “Baller” sowie mehreren Remixen von dem ESC-Sieger der Dance-Herzen.
Für ein Debüt, das vor dem Hype fast komplett im Alleingang zwischen den Beiden entstand, ist das verheißungsvoll. Bittersüß hat viele solide Tracks sowie einige herausragende Bretter parat, die von einem richtig coolen wie entspannten Geschwister-Duo interpretiert werden. Abor & Tynna bekommen völlig zurecht gerade ordentlich viel Aufmerksamkeit. Mit ein wenig Unterstützung im Songwriting könnte da noch sehr, sehr viel mehr gehen. Da kommt noch einiges. Safe. Kauft schon mal Tickets für die Tour im Herbst.
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