Jules Ahoi ist Singer-Songwriter, Begründer des “Saltwater Folk”, Surfer, ehemals-rastlos-Reisender und mittlerweile Wahl-Kölner mit ganz viel Liebe für sein Veedel Ehrenfeld. Am 12. Juni hat er sein neues Album “Dear ____” veröffentlicht (hier geht´s zur Review) und ist aktuell mit einer kleinen Pop-up-Store-Tour durch deutsche Städte und Surfläden unterwegs. Wir haben ihn im été clothing in Berlin getroffen und mit ihm über seine Musik und veraltete Geschlechterrollen gesprochen, aber auch darüber, wie man die aktuelle Zeit am besten nutzen kann.
minutenmusik: Du hast letzte Woche dein neues Album „Dear ____“ herausgebracht. Wie ist es für dich, in dieser komischen „Corona-Zeit“ ein Album zu veröffentlichen?
Jules Ahoi: Ja, gute Frage. Mir wurde nahegelegt, das Release-Datum zu überdenken und das Album passend zur Tour zu veröffentlichen. Ich habe mich aber ziemlich dafür eingesetzt, dass wir es jetzt rausbringen. Ich denke, es ist auch ganz interessant zu sehen, wie so eine Platte in so einer komischen Zeit ankommt. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich mich freimachen muss, für das, was jetzt kommt. Ich bin jemand, der viel Inspiration aus dem zieht, was um mich herum passiert. Ich habe das Gefühl, dass es sehr wichtig ist, jetzt aufmerksam zu sein. Es geht halt im Moment sauviel in der Welt ab. Ich wollte das Album nicht unbedingt „loswerden“, aber ich wollte es fertig haben, damit ich wie ein kleiner Schwamm wieder neue Sachen aufsaugen kann. Deswegen bin ich froh, dass wir es jetzt gemacht haben. Ich glaube auch, dass die Leute neue Musik brauchen, Krise hin oder her. Sie freuen sich wahrscheinlich darüber, wenn irgendwas passiert. Deswegen habe ich mir gedacht, dass ich das jetzt einfach rein gebe und den Leuten etwas zum Hören gebe, damit sie ein Lebenszeichen haben. Ich bin voll zufrieden, dass es jetzt da ist.
minutenmusik: Sehr schön, gerade weil eben so viele Künstler ihre Releases verschoben haben. Du machst gerade eine kleine Pop-up-Store-Tour. Ist das für dich ein guter Ersatz für das eigentliche Promo- und Release-Programm, das es normalerweise gegeben hätte?
Jules: Für das Promo-Programm natürlich schon. Das ist eine schöne Erweiterung. Die Promo-Tour mache ich ja gerade trotzdem, für die Radios und alle möglichen anderen Journalisten, Blogs und Instagram-Seiten. Es ist aber gerade noch schwierig, weil viele Radio-Studios momentan noch keine Gäste empfangen und alles über das Telefon geht. Ich habe mir wirklich das Ohr abtelefoniert in den letzten Wochen. Aber manche beharren eben auch trotzdem noch darauf. Deswegen mache ich diese Promo-Runde. Weil ich aber noch ein bisschen Zeit habe und ich nicht mit der Band reisen kann, habe ich mir gedacht, dass ich ein paar Läden anfrage und mich da hinsetze und wenn jemand Bock hat, zu kommen, dann freue ich mich, und wenn nicht, dann quatsche ich eben mit den Jungs. Deswegen ist das jetzt echt okay so.
minutenmusik: Aber die normale Release-Aufregung bleibt wahrscheinlich trotzdem etwas auf der Strecke, oder?
Jules: Auf jeden Fall. Normalerweise hätten wir jetzt zumindest in Köln ein Release-Konzert gespielt oder eine Release-Party gemacht. Das ist jetzt gerade eine komische Phase. Am Anfang gab es noch diese Zoom-Release-Parties. So haben wir auch die erste Single gedroppt, als die Corona-Zeit gerade losging. Da haben wir uns alle in Zoom getroffen und virtuell mit einer Flasche Sekt angestoßen. Aber nach vier Monaten hat darauf auch keiner mehr Bock. Deswegen haben wir uns letzte Woche mit Abstand im Park getroffen und haben da einen Korken knallen lassen. Aber klar, normalerweise wären jetzt Konzerte. Wir hätten eine Tour gespielt, die komplett verschoben wurde. Der Festivalsommer wäre ja jetzt gerade in vollem Gange und der sah bei uns eigentlich exzellent aus. Den hätte ich gerne gespielt. Ich sehe gerade dein Kytes-Shirt, mit denen hätten wir auch ein paar Festivals gespielt. Bist du Kytes-Fan?
minutenmusik: Ja!
Jules: Die Echoes-Platte (Anm. d. Red.: seine EP aus 2019) haben wir zusammen mit Thomas Eifert produziert. Der macht ganz viel mit den Kytes. Der hat glaub ich das erste Album von denen mitproduziert, vor allem diesen geilen Song „I Got Something“ hat er mitgeschrieben.
minutenmusik: Ach cool! Die Kytes waren damals eines meiner ersten Interviews, auch hier in Berlin.
Jules: Cool! Die sind sau lieb!
minutenmusik: Das stimmt! Du hast gerade schon mal Köln erwähnt und in Interviews hast du gesagt, dass du das Gefühl hast, dort „angekommen“ zu sein. Wie ist es dazu gekommen? Kannst du sagen, warum du gerade in Köln oder gerade jetzt dieses Gefühl hast?
Jules: „Angekommen“ ist so ein großer Begriff. Es stimmt, dass ich das mal so gesagt habe, aber ich weiß nicht, ob man jemals ankommen kann. Aber ich für meinen Teil fühle mich gerade das erste Mal in meinem Leben „zuhause“. Das ist eher das Ding. Ob das „angekommen“ ist, weiß ich nicht. Aber dieses Zuhause-Gefühl ist total neu für mich. Ich habe jahrelang diesen Ort gesucht und bin durch die Weltgeschichte getingelt, aber ich war irgendwie nicht zufrieden und so getrieben. Ich habe immer gedacht: „Du musst immer weiter und weiter und weiter und hierhin und dahin.“ Ich habe auch viel daraus ziehen können, dass ich so viel unterwegs war. Aber jetzt gerade ist es so, dass ich in Köln zum ersten Mal meine komplette Band an einem Ort habe, mein Label, mein Management, meinen Proberaum, das ist alles um die Ecke. Und ich wohne in einem tollen Viertel mit vielen Künstlern und habe einfach mehr kreativen Austausch als in den letzten zwanzig Jahren zusammen. Das ist etwas, was mich gerade super glücklich macht und mich „zuhause“ fühlen lässt. Ich habe alles um mich herum, außer das Meer. Aber das ist auch ganz gut, dass es nicht da ist, weil es dadurch ein Ort bleibt, an den ich mich zurückziehen kann, wenn mir mal alles über den Kopf wächst.
minutenmusik: Inwieweit hat sich dieses Gefühl in deiner Musik niedergeschlagen?
Jules: Ich war dadurch insgesamt offener für neue oder andere Themen. Ich habe viel Musik geschrieben mit dem Kopf in den Wolken. Ich habe mich viel an Orte geträumt, die meiner Idealvorstellung entsprochen haben. Und jetzt bin ich an einem Ort, der für mich gerade gut funktioniert. So bin ich freier, um Themen wie zum Beispiel Geschlechterrollen anzusprechen. Oder auch persönliche Rückschläge, die habe ich viel in dem neuen Album verarbeitet.
minutenmusik: Wie du schon gesagt hast, warst du ja vorher viel unterwegs, zum einen geographisch gesehen, zum Beispiel in Frankreich und Spanien, aber auch musikalisch hast du schon viele Stationen wie eine Ska-Band und Hip-Hop hinter dir. Hat das alles Spuren in deiner aktuellen Musik hinterlassen?
Jules: Ja, gerade die musikalische Reise geht an keinem Künstler spurlos vorbei. Alles, was man mal so gemacht hat, kommt irgendwann wieder zurück. Eine Persönlichkeit ist ja wie ein Puzzle von vielen verschiedenen Geschichten, Erlebnissen und Eindrücken. Und das ist jetzt gerade ein Abbild von meinem Jetzt-Zustand. Da kommt auf jeden Fall einiges zusammen. Ich habe das Gefühl, in dieser Platte laufen so viele Wege und Geschichten der letzten 1,5 – 2 Jahre zusammen.
minutenmusik: Du hast vorhin gesagt, dass vieles auf dem Album sehr persönlich ist. War es für dich schwierig, das zu schreiben, oder eher eine Art Befreiung, um die Themen zu verarbeiten?
Jules: Ich bin niemand, der so gut über seine innersten, tiefsten Gefühle reden kann. Die Musik ist für mich mein einziges Ventil, wie ich das loswerden kann, damit sich das nicht in mir staut und mir nicht irgendwann aus den Ohren herauskommt. Das ist für mich, als wenn man den Stöpsel aus der Badewanne zieht. „Loslassen“ ist ein gutes Wort dafür. Ich habe das so lange im Kopf und klammere mich daran und denke das tausende Male durch, bis ich das in Musik verarbeite. Aber dann kann ich es gehen lassen.
minutenmusik: Gibt es einen Song auf dem Album, der für dich eine ganz besonders persönliche Bedeutung hat?
Jules: Alle. Ich kann dir zu jedem Song eine persönliche Geschichte erzählen. Eine offensichtlich sehr persönliche Geschichte ist „3 AM“. Das ist ja das Intro von der Platte und das ist tatsächlich ein Song über Loslassen und Verlust. Das ist ein Song, der mir nach wie vor sehr nahegeht. Den haben wir auch schon live gespielt und da ist irgendwie alles für mich sehr besonders. Aber auch „Oh, Agnes“ ist für mich ein sehr, sehr persönlicher Song meine Kindheit betreffend. Und so könnte ich dir zu jedem Song etwas erzählen.
minutenmusik: In „Oh, Agnes“ geht es um Geschlechterrollen. Also ist das auch etwas, wo du dich selbst hineingedrängt gefühlt hast?
Jules: Auf jeden Fall. Ich habe als Kind immer mehr Mädels als Freunde gehabt. Ich konnte nie etwas mit Fußball anfangen. Ich bin mit meiner Cousine aufgewachsen und habe mit ihr mit Puppen gespielt. Für mich stand das gar nicht zur Debatte, etwas Anderes zu machen, weil mir das total Spaß gemacht hat. Irgendwann kam ich aber in einen anderen Kindergarten und dann fing es auf einmal an, dass die Leute das komisch fanden. Ich habe das überhaupt nicht verstanden. Ich wurde dann von Menschen gehänselt, von denen ich eigentlich dachte: „Ihr seid doch meine Freunde gewesen. Warum seid ihr jetzt so zu mir?“ Das hat mich schon ziemlich geprägt in meiner Kindheit, dass es da offensichtlich eine ganz krass unterschiedliche Sicht auf die Dinge gibt. Für mich war es nie und ist es bis heute nicht klar, warum eigentlich. Diese Geschlechtergrenzen sind mir nicht so geläufig. Ich finde, das ist einfach ein absolut überholtes Thema.
minutenmusik: Das kann ich auch ein bisschen aus der entgegengesetzten Sicht bestätigen. Bei mir ist es so, dass ich Dinge wie Fußball und Eishockey mag und dafür Sprüche zu hören bekomme wie „Du bist ja ein halber Kerl.“
Jules: Genau. Ich habe mal eine Zeit lang Sport studiert. Da ist das auch ganz krass bei Mädchen, die Handball spielen. Das sind toughe Ladies, die einfach eine Kontaktsportart ausüben, aber die werden von den Typen im Sportstudium behandelt, als wären es Außerirdische, nur, weil sie auch mal blaue Flecken oder vielleicht ein etwas breiteres Kreuz haben. Das finde ich einfach absolut überholt, aber das ist immer noch so in den Köpfen verankert. „Oh, Agnes“ ist nicht unbedingt so ein klassisches Gender-Ding, sondern es geht eher darum, wie sich die Erziehung von unseren Eltern auf die Geschlechterrollen, die wir heute leben, auswirkt.
minutenmusik: Das ist auf jeden Fall ein spannendes Thema! Um nochmal auf den ausgefallenen Festivalsommer zurückzukommen und darauf, dass du alles wie ein Schwamm aufsaugen willst: Steigst du jetzt nach dem Release sofort wieder in die kreative Phase ein, dadurch, dass die Live-Auftritte erstmal wegfallen?
Jules: Ich habe nochmal ein bisschen was geschrieben. Aber ich finde, alle sind irgendwie wie in so einer Lethargie gerade. Ich fühle mich wie in einem Vakuum. Man weiß nicht so richtig, was passiert. Das war ja vor ein paar Wochen noch viel schlimmer, als jede Woche der nächste Beschluss kam. Ich habe gerade gar nicht das Bedürfnis, so viel von mir zu geben, also zu schreiben, sondern wirklich einfach nur zu beobachten. Gerade nehme ich eher die Beobachterrolle ein, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ich im letzten Jahr so viel geschrieben habe. Ich habe mich so leer geschrieben mit diesem Album. Das Album hat jetzt 15 Songs, aber wir haben doppelt so viele gemacht. Im Grunde ist das nächste Album schon fertig. Gerade habe ich einfach das Gefühl, dass ich erstmal wieder aufladen muss und auf jeden Fall Urlaub machen muss.
minutenmusik: Wahrscheinlich am Meer…
Jules: Auf jeden!
minutenmusik: Dann wünsche ich dir dabei schon mal viel Spaß! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast.
Jules: Danke dir!
Das Album „Dear ____“ kannst du dir hier kaufen.*
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