2019 ist in Gesellschaft und Politik so einiges passiert. Anhaltende weltweite Debatten über Umweltschutz, der Brexit hat sich immer noch nicht ereignet und immer mehr Deutsche verzichten für Silvester auf Raketen oder befürworten gar ein Verbot. Aber auch, oder viel mehr vor allem, hat sich einiges in der Musikwelt ereignet. Für mich persönlich und für ganze Szenen.
Anlässlich Kurt Cobains 25. Todestag habe ich Nirvanas Diskografie erneut ausgiebig studiert – und mich dabei glatt neu in die Band aus Seattle verliebt, die in den frühen 90ern alles verändert hat. Tool haben nach 13 Jahren den Nachfolger von „10.000 Days“ veröffentlicht und Have Heart spielten einmalige Reunion-Shows. Denzel Curry coverte die Bad Brains und Rage Against The Machine, vor kurzem haben letztere ihre lange herbeigesehnte Reunion angekündigt. Außerdem bin ich zu Minutenmusik gekommen und dieser Jahresrückblick ist der erste Text, den ich für Minutenmusik verfasse und gleichzeitig der letzte, den ich in diesem Jahrzehnt überhaupt verfasse.
Viele Künstler, die ich seit Jahren schätze, haben wundervolle Alben veröffentlicht und es ist mir gelungen die Kunst von zahlreichen Bands, die mir bis vor wenigen Monaten noch gänzlich unbekannt waren, für mich zu entdecken. Mein 2019 ist vor allem von selbst-ironischen Garage-Punk, melancholischen Alternative Rock, anmutigen Post Punk/Hardcore und nahezu perfekten Sludge Metal geprägt. Es folgen Alben, die mich in diesem Jahr bewegt haben, Songs, die meine Mitbewohner genervt haben, erinnerungswürdige Konzerte und Bands, von denen ich hoffe noch sehr viel mehr zu hören.
Alben:
10. Darkthrone – Old Star
Die Black-Metal-Ikonen beweisen mit „Old Star“ erneut, dass sie nach über 30 Jahren Bandbestehen, zahlreichen Meilensteinen und Szene-Klassikern immer noch Lust haben, ihre Musik in unbekannte Gefilde zu bewegen. Ein Bein weit ausgestreckt in Hard-Rock-Klassiker, das andere bleibt dabei stehts im „true norweigian Black Metal“.
9. Leonard Cohen – Thanks For The Dance
Posthum sorgt „Thanks For The Dance” für Gänsehaut. Leonard Cohens warme Stimme legt sich wie ein schwerer Teppich über die Instrumentals und der Fakt, dass der Spoken-Word-Künstler bereits 2016 gestorben ist, verleiht der ohnehin schon melancholischen Musik einen bitteren Beigeschmack der ganz besonderen Sorte. Betroffen und wunderschön zugleich.
8. Frank Carter & The Rattlesnakes – End Of Suffering
Frank Carter und seine Rattlesnakes haben die Metamorphose vom wütenden Hardcore Punk hin zum optimistischen Alternative Rock vollendet und hüllen ihre persönlichen, positiven Texte in ein weiches Laken aus Spielfreude und musikalischer Könnerschaft. Auf „End Of Suffering“ scheint das Licht am Ende des Tunnels so hell wie lange nicht.
7. Bad Religion – Age Of Unreason
In Zeiten, in denen Staaten von rassistischen Populisten regiert werden und es für viele Menschen eine ernsthafte Option darstellt, Faschisten zu wählen, haben Bad Religion ihre innersten Überzeugungen wie Vernunft, Weltoffenheit und Gleichberechtigung in einen wunderbaren halbstündigen Melodicore-Ritt gepackt. Das durchdachte und kluge Coverartwork steht dabei Pate für die komplexen Ideen, die sich hinter Bad Religions Songs tummeln. Vielleicht eines der wichtigsten musikalischen Statements in Zeiten der Unvernunft.
6. La Dispute – Panorama
La Dispute inszenieren ihre Kunst auf „Panorama“ mitreißend und lebendig. Ekstatischer Post Hardcore harmoniert mit rührenden Spoken-Word-Passagen und lässt den Zuhörer staunend zurück. Als Inspiration für das Album dienten lange Autofahrten und „Panorama“ fühlt sich über weite Teile tatsächlich wie ein Roadtrip durch verregnetes Niemandsland an.
5. Refused – War Music
1998 haben Refused mit „The Shape Of Punk To Come” die Welt der alternativen Musikrichtungen ein für alle Male verändert. Die Erwartungen an eine Band, die vor über 20 Jahren einen solchen Meilenstein hervorgebracht hat, sind hoch, verdammt hoch. Auf „War Music“ bewegt sich die Gruppe zurück zu ihren metallischen Hardcore-Wurzeln. Sie begeistern mit eindeutigen Parolen, experimentierfreudigen Melodien und ungezügelten Hardcore-Ausbrüchen. Erwartungen erfüllt, Chapeau.
4. Swain – Negative Space
Einst spielten Swain Hardcore Punk mit heftigen Grunge-Einschlägen, auf „Negative Space“ zelebrieren sie nun 90er-Nostalgie in hervorragender Manier. Radiohead und Pearl Jam schauen über die Schulter und gelegentlich grüßen Nirvana. Ihre neue melancholische und gefühlsbetonte Seite steht dem Quartett verdammt gut. So gut, dass Casper glatt im Refrain von „Skin On Skin“ mit dabei sein wollte.
3. Ceremony – In The Spirit World Now
Das vor-vor-letztes Album, „Rohnert Park“, der fünf Herren aus Kalifornien dampft vor Wut und hat 2010 nicht im Entferntesten vermuten lassen, in welche musikalischen und lyrischen Richtungen diese Band sich noch bewegen würde. Ceremony haben mit „In The Spirit World Now“ Post Punk mit Hardcore-Elementen verbunden und scheinen auf dem Album immer wieder neue Seiten von sich und anderen Musikern zu entdecken.
2. Fidlar – Almost Free
Das Quartett aus dem sonnigen Los Angeles hat mit „Almost Free“ ein Mixtape abgeliefert, das auf der einen Seite eine unterhaltsame Reise durch die Plattenschränke der Mitglieder unternimmt. Auf der anderen Seite verarbeitet Frontmann Zac Carper seine destruktiven Drogenprobleme auf maximal selbstironische Art und Weise: „Yeah, I started from the bottom and I’m still at the bottom. Then I spent the night in jail, turned out it wasn’t the bottom”. Bewegende Kunst, die durch intelligente Texte intime Einblicke in die bewegte Gefühlswelt der Musiker ermöglicht.
1. Baroness – Gold And Grey
“Gold And Grey” besteht aus zwei Arten von Songs: Meisterwerke und Brücken zwischen diesen Meisterwerken, die kurze Zeit zum Luftholen bieten. Baroness‘ jüngstes Werk begeistert wie seine Vorgänger durch vertrackte Stücke, persönliche Lyrics und scheint bis ins kleinste Detail durchdacht zu sein. Gitarren-verliebte Jam-Momente wechseln sich mit kraftvollen Schlagzeug-Fill-Ins ab. Selten harmonierten Prog Rock und Sludge Metal so wunderbar und kompromisslos miteinander. Das Quartett aus Savannah, Georgia hat erneut einen Meilenstein abgeliefert.
Songs:
10. Kummer – Aber Nein
Gemeinsam mit L Goony und Keke verteilt Kummer auf „Aber nein“ verbale Ohrfeigen an Texte ohne Messages. Unterhaltsam in kluge Wortspiele verpackt, die mit allerlei amüsanten Anspielungen gespickt sind.
9. Thees Uhlmann – Danke für die Angst
Indie-Rock als Liebeserklärung an das Lebenswerk von Steven King, übersät mit zahllosen Anspielungen auf seine Werke. Natürlich ist das unheimlich nerdig, aber auch wunderschön und humorvoll inszeniert.
8. Bad Religion – Paranoid Style
“Hey, kids on the right and left, do you feel dispossessed?” frag Gregg Graffin die Zuhörer von “Paranoid Style, der ersten Single-Auskopplung ihres aktuellen Werkes. Bissig kommentieren Bad Religion aktuelles politisches Klima und verpacken ihre Beobachtung in treibenden Skate Punk.
7. Ceremony – Further I Was
In „Further I Was” zitieren Ceremony New Orders vorzeige-Klassiker „Blue Monday” auf wunderbare Weise. Dabei verkommen sie nicht zur Kopie, sondern setzen gekonnt ihre Einflüsse in Szene.
6. Refused – Blood Red
Mit “Blood Red” haben Refused im Sommer einen ersten Vorgeschmack auf „War Music” gegeben und erahnen lassen, welch geballte Mischung aus politischer Überzeugung und kraftvollem Hardcore den Hörer erwarten würde. Obendrauf hat die Single eines der besten Musikvideos des Jahres bekommen.
5. Death Cab For Cutie – Kids In 99
Death Cab For Cutie haben mit „Kids In 99” ihre wunderbare „Blue EP“ angekündigt. Auf dem Song verarbeiten sie ein Unglück, dass sich 1999 in ihrer Heimatstadt ereignete und bei dem drei Jungen ums Leben kamen. Mitreißend gedenken die Indie-Pioniere den auf tragische Weise ums Leben gekommenen jungen Menschen.
4. Kvelertak – Bårtebrann
Eigentlich haben Kvelertak für 2019 ein Album versprochen. Das ist 2019 nicht erschienen, womöglich hat das etwas mit der Tatsache zu tun, dass Sänger Erlend Hjelvik 2018 die Band verlassen hat, womöglich hat man sich einfach verschätzt. Bråtebrann ist die erste Studioaufnahme mit Ivar Nikolaisen am Mikrofon und macht mächtig neugierig auf das nächste Album der Black-Metal-Punk-Rocker, das 2020 definitiv erscheinen wird.
3. Fidlar – Get Off My Rock
Fidlar verbeugen sich mit “Get Off My Rock” vor den Beastie Boys und spielen die Rolle von entnervten Kaliforniern, die keine Lust auf Touristen vor der Haustür haben. Dabei ist ihr einziges Ziel die eigene Nüchternheit mit allem was ihnen in die Finger kommt zu bekämpfen. Aber Halt, spielen sie da überhaupt eine Rolle?
2. Baroness – Borderlines
Emotional, mitreißend und musikalisch unverkennbar geben sich Baroness auf „Borderlines“. Über sechs Minuten spielt das Quartett um die Wette. Schwere Schlagzeug-Solos wechseln sich mit Gitarren-verliebten Passagen ab, außerdem hat das Stück das vielleicht beste Musikvideo des vergangenen Jahres bekommen und steht stellvertretenden für die Intensität des jüngsten Albums der Gruppe.
1. Beachheads – Death Of A Nation
Das melodieverliebte Quartett, aus dem wunderschönen Norwegen, setzt mit „Death Of A Nation“ ein klares Statement gegen Faschismus. Durch mitreißende Indie-Passagen und nerdigen Power Pop macht „Death Of A Nation“ hungrig auf ein neues Album der Beachheads, welches hoffentlich zeitnah erscheinen wird.
Konzerte:
5. Zeal & Ardor, Full Force Festival, 29.06.2019.
4. Turnstile, Lionheart Hardcore Fest Skaters Palace Münster, 16.08.2019.
3. Mastodon, Schlachthof Wiesbaden, 30.01.2019.
2. Have Heart, Essigfabrik Köln, 20.07.2019.
1. Gorilla Biscuits, Garage Saarbrücken, 07.06.2019.
Newcomer:
5. Lurk
4. Civic
3. Superbloom
2. The Needs
1. Daufodt
Die Rechte für die Albencover liegen bei Peaceville, Sony, International Death Cult, Epitaph, Spinefarm, End Hits, Relapse, Mom + Pop, Abraxan Hymns.
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