Eurovision Song Contest – Das deutsche Finale 2024

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Um uns und euch nicht zu langweilen, machen wir das heute mal anders. Eigentlich will man mit Traditionen ja nicht brechen: Der NDR veranstaltet den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest, der NDR versemmelt mindestens 80 Prozent aller damit einhergehenden Aufgaben, wir schauen anschließend frustriert zurück. Könnten wir nun wieder genauso machen wie die letzten Jahre – mit mal minimalen Positivabweichungen nach oben, die aber nahezu ohne Bedeutung bleiben – oder stattdessen einfach uns darauf konzentrieren, was mies läuft und was wir anders wollen. Wir sind schließlich nicht die AfD: Wir meckern nicht nur, wir machen auch Lösungsvorschläge. Acht Auffälligkeiten zu Das deutsche Finale 2024, let’s go:

1. Das Auswahlverfahren vorab:
Ständig wird davon geredet, wie viele Tausende von Bewerbungen es doch gibt. Dass so viele so gute Artists Interesse haben und der NDR zugeschüttet werde. Ernstgemeinte Frage: Wie viele von den rund 700 Acts, hat der NDR gehört? Genau 8? Also die, die dann automatisch fürs Finale gesetzt waren? Ok, vielleicht auch 20, wenn man an dem Tag ansonsten nichts groß zu tun hatte? Sorry, aber das kann doch wirklich nicht sein. Das kann einfach nicht sein, dass die Auswahl, die am Ende in dieser Show auftreten durfte, das Beste ist, was im Angebot stand.

Immer wieder hört man aus unterschiedlichen Ecken, wer sich noch beworben hat, es aber nicht geschafft hat. Diese Saison ein populärer Name: Kader Loth. Zugegeben ist das nicht die größte Sängerin, aber immerhin ein Name aus dem TV-Business. Früher gab es wirklich unzählige genau solcher Menschen, die teilgenommen haben. Legendäre, skurrile Auftritte von Moshammer oder Zlatko bleiben im Gedächtnis. Doch mit Trauen ist halt nicht. Aber wenn vor einigen Jahren bekannterweise Electric Callboy es nicht mal in den Vorentscheid schaffen, die mittlerweile auf jedem Kontinent aufgetreten sind, ist sowieso jede Argumentation für Nüsse.

Vorschlag: Mehr Diversität in der Auswahl, mehr Genres, mehr Menschen mit Charakter, mehr Menschen mit Bühnenerfahrung, mehr Mut zum Anecken, mehr Transparenz während der Auswahl.

2. Die Vergabe der Wildcard:
Mit “Ich will zum ESC” wurde parallel zu den finalen Vorbereitungen eine eigene Castingshow gestartet. 15 Acts, die sich beworben haben, durften vor Conchita Wurst und Rea Garvey antreten. Beide haben je fünf ausgesucht, mit denen sie zusammenarbeiten wollen. Dann folgten einige Challenges, in denen aussortiert wurde. Gruppensongs, Lip-Syncing, Songwriting. Das war eigentlich gar keine schlechte Idee. Die fünfteilige Doku kann man immer noch nachträglich schauen und macht sogar wirklich Spaß. Waren einige talentierte Leute dabei, die gut ins Format passen.

Doch auch hier kippt das Ganze, wenn am Ende einfach so unsagbar schlechte Songs entstehen. Dass die Teilnehmenden nicht genügend Skills mitbringen, um was Geiles selbst zu schreiben, ist völlig fein. Dass sie keine guten Songs geschrieben bekommen, ist aber gar nicht fein. Bitterwitzig: Jede Songidee, die in der Doku entstand, war besser, als die Songs, die schließlich am Ende im Livefinale eine Woche vor dem nationalen Vorentscheid zur Auswahl standen. Floryan, der das Rennen für sich entscheiden konnte, ist super sympathisch, singt toll, passt typmäßig rein – und präsentiert das Schnulli-Lulu-Jammer-Disaster namens “Scars”. Song noch nicht gehört? Völlig egal, klingt so, wie man sich ein Lied mit der bahnbrechenden Zeile “Scars are beautiful” halt vorstellt.

Vorschlag: Gerne die Castingshow im nächsten Jahr nochmal, nur vielleicht dann mit Songwriting-Teams, die auch was können. Unbedingt viel mehr Vorlauf, sodass Songs auch über einige Monate entstehen können. Oder alternativ: Menschen suchen, die selbstgeschriebene Songs gleich mitbringen.

3. Der Sendeplatz:
Dass Das deutsche Finale 2024 in der ARD läuft, ist ja voll ok. Dass es freitags um 22:20 Uhr beginnt, wenn das Ü30-Publikum nach einer Arbeitswoche bereits dreimal auf der Couch weggepennt ist, ist nicht ok. Wirkt wahnsinnig stiefmütterlich, fast schon wie Nischenfernsehen. Klar, Dschungelcamp startet auch nicht früher, aber Dschungel unterhält wenigstens und erweckt schon beim bloßen Namen Assoziationen, auf die man Bock hat.

Wenn jedoch am Tag selbst der Sendetermin nochmal spontan um 15 Minuten nach hinten verzögert wird, ist das einfach keine gute Message. Natürlich ist der Tod Nawalnys ein ultra wichtiges Thema, das sehr betroffen macht und mehr als nur würdig für eine Berichterstattung. Aber es geht einfach ums Prinzip. Darum, dass man gefühlt alles schwerer gewichtet als die deutsche Teilnahme am ESC. ESC ist schlichtweg Unterhaltung und nicht Prio Nr. 1, aber auch nicht Prio Nr. 132. Dafür kostet die Teilnahme zu viel. Dann kann man es auch einfach lassen.

Vorschlag: Gönnt euch doch mal einen richtig prägnanten Sendeplatz. Samstags 20:15 Uhr oder auch freitags, egal. Groß aufziehen mit ordentlich Bums. Frei nach dem Motto “Fake it til you make it” kann man doch zumindest so tun, als ob man alles richtig geil findet und Relevanz in der Entertainment-Branche besitzt, dann springt der Funke auch über.

4. Die Moderation:
Barbara Schöneberger. Und damit ist dann auch alles gesagt. Man weiß, dass sie in irgendeiner Form völlig drüber und breit strahlend die Bühne betritt und irgendeinen Song aus dem Vorjahr parodiert. Dieses Mal stieg sie aus einer Sonnenbank, hatte “Edward mit den Scherenhänden”-Nägel und sendet damit eine Hommage an Loreen. Ach, das ist so lustig. Wir sind so ein witziges Völkchen.

Und genau das zieht sich durch den gesamten Abend. Man hat permanent das Gefühl, dass selbst Barbara die Show nicht ernstnimmt. Dass alles ironisch kommentiert werden muss, dass wir Deutschen zum Lachen nicht in den Keller gehen, immer heiter drollig herumblödeln, aber dann zwischendrin für einige Minuten ein völlig ernster Act auf der Bühne steht, der abgefeiert werden muss und fast schon die Post-Karnevalssitzung stört.

Vorschlag: Können wir bitte endlich die Schöneberger absägen? Es reicht doch wirklich. Stattdessen wären junge Gesichter wie eine Aminata Belli cool. Damit sich was verändert, braucht es eben Veränderung, gell?

5. Das Vorstellen der Acts:
Einen Tag vor der Sendung wird die Startreihenfolge gepostet, die nach dem Ermessen der Produktion bestimmt wurde. 9 Acts treten auf. 6 davon kennt wirklich niemand, sind sie absolute No-Names und besitzen keinerlei Bühnenerfahrung. Man hat sie weder davor noch wird man sie danach hören. Eine per se schlechte Idee für die größte Musikshow der Welt. Die drei übrigen Acts sind ein Wiederkehrer, der 2018 den Vorentscheid schon probierte, eine Tochter von zwei sehr großen Schlagerstars, die bereits selbst einige Zeit im Business ist, und ein seit 20 Jahren etablierter Musiker, der vor 20 Jahren sogar schon für Deutschland beim ESC war.

Die ersten sechs sind eben jene Unbekannten, die anderen drei die mit den Startnummern 7 bis 9. Natürlich ist Aushängeschild Max Mutzke ganz, ganz zufällig der letzte Beitrag. Direkt davor ganz, ganz zufällig Marie Reim, für die das Promo-Interview im Publikum mit ihrer Mutter Michelle länger dauert als ihr eigentlicher Auftritt.

Die einen bekommen ein Drumherum, die anderen nicht. NinetyNine, Startnummer 1, wird als bester Freund von Mathieu Carrière vorgestellt – wtf – Leona auf der 2 bekommt eine Videobotschaft von Max Giesinger, mit dem sie schon mal auf der Bühne stand. Fanliebling Ryk, der seit Wochen in sämtlichen Social-Media-Kanälen als Favorit gehandelt und sogar in der internationalen Bubble schon als einer der ganz Großen für den Mai gesehen wird, bekommt nichts davon. Voll fair.

Vorschlag: Entweder alle oder niemand. Beides ok. Aber lieber NDR, versteckt es doch etwas besser, wen ihr als Favoriten habt. Ihr habt schon die Macht und könnt die Vorauswahl übernehmen, dann bleibt doch zumindest in der Liveshow neutral.

6. Die Inszenierung der Auftritte:
Wenn der Eurovision eins kann, dann ist das Inszenierung. Nicht selten wird ein durchschnittlicher Song durch geile Effekte plötzlich das große Highlight. Im deutschen Finale ist das fast schon umgekehrt. Wenn man dem Großteil der Acts so wenig Chancen gibt, gut auszusehen, wirkt das bieder und unattraktiv. Richtig gut funktioniert das einzige elektronische Lied am Abend, “Katze” des Duos Galant, bei dem auch optisch das Thema umgesetzt wird. Bei Floryan, der die Woche zuvor die ConchitaRea-Show gewann, hat man das Gefühl, dass gar keine Zeit mehr war, um ein Bühnenbild zu entwerfen. Armselig. Einmal kommentiert Schöneberger nach einem Auftritt sinngemäß, dass der NDR hier wieder gezeigt hat, was er drauf hat. Man möchte vor Wut fast schon persönlich vorbeifahren.

Vorschlag: Wir wollen groß, wir wollen Glamour, wir wollen Camp, wir wollen Feuerwerk, wir wollen ESC-Feeling nicht erst im Mai, sondern schon im Kleinen. Wir wollen mehr solcher Inszenierungen wie “Katze”, bei denen aus unscheinbaren Nummern plötzlich etwas Überraschendes wächst.

7. Das Abstimmungsverfahren während der Show:
Zwei Votings sorgen für ein vermeintlich faires Ergebnis. Beide sind jedoch alles, nur nicht fair.
Im ersten entscheiden 8 Fachjurys aus unterschiedlichen Ländern, was ihnen am besten gefallen hat und vergeben typische ESC-Punkte von 1 bis 8 plus 10 und 12, lediglich die 7 Punkte fallen weg. Auch hier wieder sehr irritierend: Die Fachjury sind teilweise ehemalige Teilnehmende wie Luca Hänni für die Schweiz oder Katrina von Katrina & The Waves für UK. Ist es nicht etwas komisch, wenn Teilnehmende, die wahrscheinlich mit ihrem Land solidarisch handeln, den besten Beitrag für die Konkurrenz auswählen sollen? Hat Geschmäckle, nicht wahr? Noch unangenehmer wird’s, wenn der in Deutschland lebende und arbeitende Álvaro Soler für Spanien die Punkte verlesen darf, weil offensichtlich keine weitere authentische Person für irgendein Land mehr zur Verfügung stand. Auch merkwürdig: Die Punkte werden anschließend in normale ESC-Punkte umgewandelt. Isaak erhält von den Jurys insgesamt mit 74 die meisten, was dann aber doch wieder nur 12 Punkte bedeutet. Max Mutzke, der mit 55 Punkten eine ganze Ecke dahinter liegt, bekommt aber dennoch wegen des kuriosen Verfahrens 10. Bubble-Favorit Ryk hat zwar 51 Punkte, was dann aber wegen des engen Kopf-an-Kopf-Rennens nur noch für 5 umgewandelte reicht. Schwer auszuhalten: Der gecastete Floryan bekommt aus allen acht Ländern exakt einen Punkt. Das sind am Ende gleich 28 (!) Punkte weniger als der Platz vor ihm. Hat gut geklappt mit dem Casten – nicht.

Das Publikumsvoting setzt sich aus SMS, Anrufen und einem sogar kostenlosen Onlineverfahren zusammen. Per Anruf und SMS darf man maximal 20 Mal abstimmen, Online genau einmal. Coole Idee, jedoch: Nach dem Verteilen der Punkte von den Jurys ruft Barbara Schöneberger erneut zum Anrufen auf, es folgt ein weiterer Schnelldurchlauf. Die letzten Minuten Voting sind also komplett durch die Vergabe der Fachjury beeinflusst. Wie kann das passieren? Unglaublich. Aber Hauptsache ein Notar bringt das Ergebnis per Kuvert auf die Bühne, das ist natürlich für den Gesamteindruck ganz entscheidend…

Vorschlag: Nehmt einen großen Pool aus Menschen, die in irgendeiner Form mit Musik arbeiten. Musiker*innen, Komponist*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen. Lasst das Publikum und die Zuschauenden abstimmen. Lest beide Ergebnisse vor. Ende.

8. Der Umgang mit Kritik:
Am Ende gewinnt mal wieder irgendwas. Isaak, ein Straßenmusiker aus Minden, Ende 20. Sein Song klingt wie eine neue Single von Rag’n’Bone Man. Das ist sicherlich kein schlechter Vergleich und für ihn als Musiker womöglich sogar ein Kompliment. Aber Rag’n’Bone Man gibt es schon. Rag’n’Bone Man war mal erfolgreich, so vor acht Jahren. Der Sound von “Always on the Run” ist überhaupt nicht zeitgemäß, nicht auffällig, nicht herausfordernd. Er ist einfach nett. Netter, mainstreamiger Radio-Pop.

Und schon jetzt wissen wir alle, ohne auch nur einen anderen Beitrag aus einem anderen Land gehört zu haben, dass es auf gar keinen Fall der beste im Mai beim Finale in Malmö sein wird. Wir wissen alle, dass niemand Isaak als letzten Platz sieht, er aber höchstwahrscheinlich genau diesen macht, weil “Always on the Run” einfach niemanden juckt. Niemanden dazu animiert anzurufen, geschweige denn dafür wirklich hooked zu sein.

Genau hier liegt das Problem. Dass einfach erneut sehr viele Songs im Angebot waren, die so gefällig klingen, dass sie durchschnittlichen Radio-Hörer*innen sofort zusagen, Musik- und ESC-Fans aber so gar nicht. Schuld daran ist niemand geringeres als die NDR-Redaktion, die eben genau das auf diese Bühne stellt und behauptet, das wäre Material für den Eurovision Song Contest – dem größten Musikwettbewerb der Welt. Die wiedermal aus den Vorjahren nichts mitgenommen und angepasst haben. Gewinnen will man mit der 2024-Auslese nicht, gewinnen wollte man die Jahre zuvor nicht. Zweifelt daran noch jemand?

Vorschlag: Lieber NDR, ihr habt es jetzt sehr oft probiert und sehr oft nicht hinbekommen. Passiert, niemand kann alles. Seid fair und gebt endlich anderen die Chance, es besser zu machen. Denjenigen, die Geld in die Hand nehmen, die sich Mühe geben und zeigen, dass Deutschland sowohl auf Muttersprache als auch auf Englisch unendlich viele gute Künstler*innen hätte, die jedoch nur mit einem attraktiven Konzept ihre Bewerbung einreichen. Hört endlich auf Kritik. Bitte. Tut es für euch, tut es für uns. Danke.

Der Punkteentstand im Überblick:
1. Isaak, „Always on the Run“ (24 Punkte; 12 Jury-Voting + 12 Zuschauer*innen-Voting)
2. Max Mutzke, „Forever Strong“ (20 Punkte; 10 Jury-Voting + 10 Zuschauer*innen-Voting)
3. Ryk, „Oh Boy“ (13 Punkte; 5 Jury-Voting + 8 Zuschauer*innen-Voting)
4. Bodine Monet, „Tears Like Rain“ (12 Punkte; 8 Jury-Voting + 4 Zuschauer*innen-Voting)
5. Galant, „Katze“ (11 Punkte; 6 Jury-Voting + 5 Zuschauer*innen-Voting)
6. Marie Reim, „Naiv“ (10 Punkte; 4 Jury-Voting + 6 Zuschauer*innen-Voting)
7. NinetyNine, „Love on a Budget“ (6 Punkte; 3 Jury-Voting + 3 Zuschauer*innen-Voting)
8. Floryan, „Scars“ (3 Punkte; 1 Jury-Voting + 2 Zuschauer*innen-Voting)
9. Leona, „Undream You“ (3 Punkte; 2 Jury-Voting + 1 Zuschauer*innen-Voting)

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Und so hört sich der Gewinnersong an:

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