85 Minuten steht Alice Cooper in Lingen bereits auf der Bühne, bis er das erste Mal mit dem Publikum interagiert. Er selbst spricht dieses eher untypische Verhalten mit ironischem Ton an. Die meisten Acts begrüßen ihre Fans nach dem ersten, spätestens nach dem zweiten Song. Doch der Schockrocker, wie man ihn vor mehreren Jahrzehnten betitelte, wartet selbstbewusst bis zur Mitte seines letzten Songs, um dann “Alice Cooper speaks to you” ins Mikro zu rufen, seine Band vorzustellen und dann die Crowd in die Oktobernacht zu endlassen. Oktober, der Halloween-Monat. Sein Monat. Wenn er nicht hierzu passe, wann dann?
Im Februar feierte der in Detroit geborene Musiker seinen 76. Geburtstag. Die meisten können ihre Rente, die für gewöhnlich bereits gute zehn Jahre eher eintritt, kaum abwarten. Alice Cooper hingegen sagt in aktuellen Interviews, dass er sich so fit fühle wie nie. Und man könnte ihm durchaus verzeihen, wenn er eigentlich keinen Bock mehr hätte. Sein Debüt erscheint 1969, da ist er 21. Sein aktuelles Album “Road” kam im August 2023 raus, es ist sein 29. Longplayer. Das davor, “Detroit Stories”, schafft erstmalig die Nummer 1 der deutschen Albumcharts. Abgebrochenes Interesse seitens der Fans sieht eindeutig anders aus. Fast jährlich tritt er in Deutschland auf.
Die aktuelle Tour nennt sich Too Close for Comfort. Los ging sie Ende April 2023 in den USA, dazwischen gab es noch mehrere Auftritte mit Rob Zombie. Wenn er zwei, drei Shows die Woche spielen kann, kommt er erst richtig in Fahrt, sagt Alice Cooper selbst. Nochmal: Der ist 76. Nach mehreren Sommershows gibt es diesen Herbst hierzulande sechs Zusatzshows. In der EmslandArena in Lingen macht man am 4.10., einem Freitagabend, die Hütte nicht ganz voll. Statt der möglichen fast 5000, sind aber geschätzt locker 4200 Zuschauer*innen am Start, um Hard Rock der alten Schule zu feiern. Wacken-Shirt angezogen? Gut!
Als Support gibt es mit Doro ein weiteres Urgestein der Szene. Die Düsseldorferin feierte vor Kurzem ihren 60. Geburtstag, durfte Mitte September Regina Halmich bei ihrem Kampf gegen Stefan Raab musikalisch unterstützen, ist bereits seit 1982 in der Metal-Mucke zuhause und spielt in Lingen mit ihrer Band fast 50 Minuten ein kultiges Warm-up. Mit Sicherheit ist die Musik von Alice und ihr nicht ganz ähnlich, dennoch teilen beide diese schier nie enden wollende Energie und die langjährige Bühnenerfahrung. Ein Teil des Publikums klatscht bei ihr trotz der vergleichsweise frühen Uhrzeit um kurz vor 19 Uhr schon ordentlich mit, andere halten sich noch etwas zurück. Mit ihrem abschließenden “All We Are” bringt sie aber dennoch viele zum Mitsingen, handelt es sich hier auch um einen Genre-Classic, den man auch als Nicht-Fan schon zig mal irgendwo gehört hat. Sie bedankt sich mehrfach äußerst herzlich und freundlich für die Chance, mit Alice Cooper gemeinsam touren zu dürfen und verlässt mit einem großen Lachen die Stage.
Bis 20:20 Uhr wird alles gefixt, um dann anderthalb Stunden den Headliner ranzulassen. Wer das nicht auf dem Schirm hat: Alice Cooper ist einer der ersten gewesen, der Showelemente in seine Konzerte hat einfließen lassen. Die Inszenierungen sorgten früh regelmäßig für ausverkaufte Hallen und sind somit obligatorisch für seine Gigs. Auch in der EmslandArena erwarten die Fans neben rund 20 Songs eine ganze Ladung an Einfällen, um die Stimmung der Titel auch optisch einzufangen.
Der Bühnenbau ist an ein Gericht angelehnt und besitzt mehrere Ebenen auf unterschiedlichen Höhen, sodass Alice und seine fünfköpfige Band, bestehend aus drei Gitarrist*innen, einem Bassisten und einem Drummer, sich mehrfach unterschiedlich für alle sichtbar positionieren können. Dazu gibt es viel schaurigen Rauch und eine vierteilige Videoleinwand, auf der permanent Visuals, Ausschnitte aus Videoclips und Liveübertragungen aus Lingen miteinander vermischt werden. Weit über 50 Spots schießen Licht durch die Halle. Der Sound ist ab der ersten Sekunde knallig laut, aber nicht zu übertrieben aufgedreht, dafür wirklich gut abgemischt, sodass kein Element untergeht.
Der stärkste Überraschungsmoment wird eigentlich nach wenigen Sekunden klar: Der Typ ist offensichtlich irgendwann in einen geheimen Zaubertrank gefallen. Wie man in dem Alter diese Figur haben kann und ohne erkennbare Anstrengung 90 Minuten so durchzieht, das ist schon heftig. Als ob die Zeit stehen bleibt, hört sich die Stimme von Alice Cooper auch 2024 noch an, als wären wir in den 80s. Seine klar definierten Posen sitzen bei jedem richtigen Taktschlag und kommen nie zu spät. Man darf durchaus von einer bedeutungsstarken Gestik und Mimik sprechen. Der Künstler transportiert das, was er transportieren möchte, mit Leichtigkeit. Wo andere, wenn sie denn überhaupt noch auftreten, auf einem Hocker Platz nehmen und sich auf den Gesang konzentrieren, läuft der Kultstar hin und her, Treppen rauf, Treppen runter, zieht die eine Lederjacke an und die andere aus, hält Zepter oder Degen in die Luft und ist in der locker zu Zweidrittel durchperformten und getakteten Show immer am Start. Krass dickes Kompliment.
Früher durfte man seine Gigs erst ab 18 Jahren betreten. Heute sorgen die Effekte, die an Horrorfilme erinnern, nicht mehr ganz so für Furore, gut unterhalten können sie aber immer noch. Da gibt es bei “Feed My Frankenstein” eine riesige Monsterpuppe, die Alice ähnlich sieht und über die Stage läuft. Bei “He’s Back (The Man Behind The Mask)” läuft zunächst eine junge Frau mit Polaroidkamera hinter ihm her, um ihn zu fotografieren – daraufhin wird sie von einer Person mit Jason-Maske mit einer Machete ermordet und von der Bühne gezerrt. Jason? Natürlich kein Zufall, handelt es sich nämlich um einen Song zu einem alten “Freitag der 13.”-Soundtrack. Von solchen teils skurrilen, gruseligen, aber auch schwarzhumorigen Einlagen gibt es immer wieder welche. Manche gehören fest zum Konzert, wie den Tod Alice Coopers zu “I Love The Dead” unter einer Guillotine, die in Lingen von seiner Frau Sheryl ausgelöst wird. Sheryl und er sind seit über 45 Jahren verheiratet, auch sie hat den Spaß an den Gigs nicht verloren. Lachend stolziert sie daraufhin mit einer Attrappe seines Kopfes. Einzig und allein wenn Cooper für einen Song eine große Puppe mit weiblichen Rundungen über die Bühne trägt, diese schlägt, hinter sich herzieht, würgt und quasi vergewaltigt, ist das ein paar Level übers Ziel hinausgeschossen und schlichtweg geschmacklos.
Musikalisch gibt es eine wilde Mischung aus insgesamt zwölf Alben, angefangen bei dem ersten erfolgreichen Werk “Love It To Death” aus 1971, endend beim aktuellen “Road”, aus dem er aber nur einen Track auf die Setlist packt. Natürlich sind die drei bekanntesten Hits “No More Mr. Nice Guy”, “Poison” und “School’s Out” dabei. “School’s Out”, seine einzige Nr. 1 (1972 in UK), kommt prominent als Zugabe in einem weißen Anzug mit Zylinder. Dazu fliegen große mit Konfetti gefüllte Ballons durch den Innenraum. Das Auge bekommt also non stop Abwechslung. Etwas schade, dass das Publikum nicht richtig in Fahrt kommt. Im Vergleich zu Alice ist das doch durchschnittlich eher Mitte 40 bis Anfang 50, aber gefühlt nur halb so gut drauf. Lieber Filmen statt Headbangen. Ob es daran liegt, dass bis zur persönlichen Begrüßung bei der Zugabe alles ein wenig zu glatt und abgespult wirkt?
Auch wenn das Konzert in der EmslandArena nicht sehr persönlich ist, so ist Alice Cooper eine lebende Showlegende. Einfach ein cooler, witziger Typ, der seinen Job gnadenlos bis zum Ende durchzieht und für viele Nachfolger*innen eine Inspiration darstellte. Musikalisch super, dynamisch inszeniert – ein Konzert, das auch Nicht-Fans kurzweilig unterhalten sollte.
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Foto von Christopher
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