Sie macht es einem aber auch wirklich nicht einfach. War man in der Szene nicht bewandert, gab es bereits 2014 bei Conchita Wurst Schwierigkeiten die passenden Pronomen zu finden. „Das ist doch ein Mann mit einem Frauenkleid und einem Bart!“. Ja, richtig! Allerdings mit einem weiblichen Vornamen, mehreren typisch weiblichen Attributen und somit als Kunstfigur, die die Öffentlichkeit zu sehen bekommt, eine „sie“. Das ist fast sechs Jahre nach dem großen Sieg beim Eurovision Song Contest anders. Mittlerweile ist Tom Neuwirth, wie Conchita Wurst bürgerlich heißt, ordentlich trainiert, trägt eine Kurzhaarfrisur, betont sämtliche Muskeln und kombiniert aufreizende, knappe Kleidung mit trendigen Extras. Außerdem nennt sich der Künstler nur noch Wurst.
Doch da liegt nun genau das Problem. „Wurst“ ist im Deutschen bekanntlich ein feminines Substantiv – die Person, die am Samstagabend, den 08.02.2020, ab 19:50 auf der Bühne des ausverkauften Luxor-Clubs in Köln steht, hingegen eindeutig männlich. Wie gesagt, alltäglich sind die Klamotten keinesfalls, aber in den passenden Undergroundläden geht das klar als Partyoutfit durch. Hohe schwarze Stiefel, eine Art schwarzer Bauchwegslip, Ohrringe und Armbänder, viel Kajal und eine bunte 80s-Joggingjacke. Im Hintergrund eine gleich siebenköpfige Band, bestehend aus Drums, Gitarre, Bass, zwei Keyboardern und zwei Ladies an den Backgroundvocals. Das 31-jährige Phänomen aus Österreich will sich offensichtlich gar nicht entscheiden oder festlegen müssen. Das spricht für den enorm hohen Anspruch und die in deutschsprachigen Ländern so wahrscheinlich einzigartige Künstleridentität, über die sich mühevoll Gedanken gemacht wird. Und in der LGBTQ-Community sprengt man eben gern Grenzen und pfeift auf Konventionen. Pronomen sind halt völlig überbewertet.
Bevor Wurst jedoch mit einer genau 90-minütigen Show die 500 Anwesenden unterhält, darf sich das Publikum eine gute halbe Stunde von Amy Wald bespaßen lassen, was oberflächlich betrachtet auch funktioniert. Die junge Künstlerin, ebenfalls aus Österreich, wirkt auf den ersten Blick wie eine harmlosere Variante von Jennifer Weist. Buntgefärbte Haare, Tunnel im Ohr, viele Tattoos. Dazu eine Gitarre in der Hand und drei Männer an weiteren Instrumenten als Verstärkung. Am Ende des Supports ist der Applaus für eine Vorgruppe überdurchschnittlich groß. Viele singen sogar nach Aufforderung einige Textzeilen mit, tanzen ein wenig. Somit ist der Aspekt des Anheizens in der Tat geglückt – im Vergleich zu der leider fast schon peinlichen Musik. Zwar bietet Amy Wald leicht konsumierbaren Pop-Rock, verfeinert den aber mit Lyrics, die doch ordentlich Fremdscham auslösen. Zwar soll mit LGBTQ-Themen die Crowd erreicht werden, jedoch ist das Durchschnittsalter bei Wurst eher um die 30 – die Inhalte, die Amy transportiert, sprechen anderseits maximal 14-jährige an. Das ist Coming-Of-Age-Storytelling mit viel zu oft gehörten Bildern, verpackt in glatten Pop-Rock mit Möchte-Gern-Punk-Attitüde. Sehr sympathisch und bemüht, aber mit wenig Mehrwert.
Conchita (Wurst ist schon ein eher holpriger Künstlername) macht quasi in jedem Detail das Gegenteil. Sie berichtet davon, so langsam zu sich gefunden, ihren alten Drag-Queen-Charakter zwar nicht völlig begraben, aber für heute im Schrank verstaut zu haben. Das dritte Album und das erste, an dem Tom Neuwirth als Songwriter bei jedem Titel beteiligt ist, steht nun auf der Agenda. Deswegen auch der Name Truth Over Magnitude mit den Initialen „T.O.M.“. Ein Album mit mehr Persönlichkeit, mehr Authentizität. Demnach bleiben auch größtenteils die alten Songs unberührt oder werden dem neuen Sound angepasst.
Und der ist bekanntlich wirklich neu. Bewegte man sich beim Debüt noch zwischen Glamour-Pop, großen Balladen und viel Drama, setzen sämtliche zwölf Tracks der neuen Platte, die sich auch alle auf der Setlist befinden, im Elektro-Bereich. Die Atmosphäre des Luxors passt ganz gut, sodass sich trotz sehr wenig Platz und einer oftmals extrem eingeschränkten Sicht viele im Beat bewegen. Generell geht es bei dem gesamten Gig um Beats und Bässe. Die Boxen sind bis zum Anschlag aufgedreht und unnötig laut. Der Sound dafür ist hervorragend ausgepegelt und klingt top.
Deswegen funktioniert besonders der Konzerteinstieg gut. Klangspielereien, die einen gegen die Wand drücken, mysteriös anmuten und überraschen. Obendrauf die unverkennbare Stimme von Wurst, die gefühlt von Jahr zu Jahr noch besser wird. Eine atemberaubende Range, die in den Tiefen beginnt und in Höhen endet, die viele Frauen nicht singen können – alles tonal stets richtig. Die erste Single des neuen Werks „Trash All The Glam“ eröffnet und zaubert Sphäre. „Somebody To Love“ klingt im neuen Gewand besser als vorher. Doch leider bekommen zwei Faktoren, die einen erheblichen Part des Künstlers ausmachen, bei der Vorstellung zu wenig Raum: der Gesang und der Hang zur Gay-Hymne.
Stattdessen kommen die neuen Stücke bis auf wenige Ausnahmen leider mit viel zu wenig Melodie und einschlägigen Hooks aus. Das ist im Auto durchaus mal spannend zu hören, in den Musikvideos fesselnd und nebenbei zuhause auch anregend tanzbar – beim Konzert, wo der Fokus jedoch klar darauf liegt, der Musik zu lauschen und dem Treiben auf der Bühne zuzuschauen, zu wenig. Nach einigen Songs ist der Ideenreichtum auserzählt. Gerade der Mittelteil der Show fällt zäh, uninspiriert und langweilig aus. Man wartet sehnlichst darauf, einfach mal Pop zu bekommen, einfach mal die Wurzeln von Conchita zu erkennen. Diese sucht man jedoch fast vergeblich. Fünf Songs des ersten Albums sind in anderen Arrangements mit dabei und dank ihrer Melodien auch schnell Publikumslieblinge. Besonders der Ohrwurm „Firestone“ funktioniert.
Absoluter Schockmoment und wie aus dem Programm gerissen: Genau in der Mitte greift der Gitarrist nach einer akustischen Ausgabe seines Instruments und Conchita singt ihre beiden Eurovision-Beiträge „That’s What I Am“, das 2012 im österreichischen Vorentscheid den zweiten Platz belegte, und DEN Song, „Rise Like A Phoenix“ – jedoch in einem Medley, das gemeinsam keine drei Minuten dauert. Erste Strophe und finaler Refrain. Das war’s dann auch schon mit dem Phönix und dem einzigen Moment, in dem fast alle Handys oben sind und der ganze Raum begeistert mitsingt.
Man kann nicht sagen, dass Wurst die Wurzeln verleugnet, immerhin ist der Klassiker mit auf der Setlist. Dass aber nach einem so kleinen Ausschnitt schon Schluss ist, lässt doch viele Zuschauer enttäuscht zurück. Es bleibt das einzige akustische Lied und wirkt deplatziert. Die beiden ebenfalls bekannten Nachfolgesingles „Heroes“ und „You Are Unstoppable“ sind gar nicht zu hören. Die Diva ist nicht mehr da, ok. Aber ihre Musik auch nicht mehr? Letztendlich ist die breite Masse heute Abend gekommen, weil sie aus ESC-Fans besteht und nicht aus Electro-Anhängern. Das ist ziemlich offensichtlich.
Trotzdem ist der Applaus groß. Wurst bedankt sich mehrmals, macht für die sozialen Netzwerk zum Abschied ein Foto mit der Band und dem Publikum im Hintergrund. Sie bewegt sich stilsicher und äußerst galant zu jedem ihrer Tracks, bleibt ansonsten dem Publikum über jedoch eher distanziert und wenig nahbar. Bis auf ein paar Lichtinstallationen fallen weitere Showelemente aus. Die zwei Mädels im Background sind gut gelaunt und machen einen tollen Job. Schlussendlich geht man nach anderthalb Stunden mit einem nicht wirklich befriedigten Gefühl nach Hause. Zwar liegen die zwei stärksten Songs, „To The Beat“ und „Hit Me“, gekonnt am Ende des Konzerts und zeigen, dass der neue Sound doch mit radiotauglichen Melodien klappt und so noch viel lieber angenommen wird – aber ob der Sprung in der Künstleridentität nicht doch etwas zu groß war…? Man möchte auf Teufel komm raus anders und eigen sein, macht das musikalisch gesehen auch gut, reißt dann aber doch zu wenig mit. Mal schauen, was als nächstes passiert und welche Fans auch diesen Schritt dann mitgehen werden.
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Bild von Christopher.
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