Wer nach dem letzten Song des regulären Sets geht, um schnell mit seinem Auto vom Parkplatz zu kommen, wird bei diesem Konzert eines Besseren belehrt: Herbert Grönemeyer spielt in seinem Hauptprogramm 100 Minuten. Die Zugaben dauern jedoch unglaubliche 75 Minuten. Ob man die verpassen sollte?
50.000 Zuschauer besuchen am 7.9., einem Samstagabend, das Stadion in Gelsenkirchen. Eigentlich war ein Open Air angekündigt. Glücklicherweise lässt sich aber die Veltins-Arena nach Belieben öffnen und schließen, immerhin ist der Septemberanfang um einiges kälter als im Vorjahr. Somit müssen die Gäste bei Grönemeyer wenigstens nicht frieren und ob es nun regnet oder nicht, ist gleichgültig.
Der mittlerweile 63-jährige Künstler hat aufgrund seiner Kindheit und Jugend einen besonderen Bezug zum Ruhrgebiet. Geboren in Göttingen, aufgewachsen in Bochum. Damit steht heute also ein halbes Heimspiel an. Leider bietet Bochum einfach nicht die passende Location, um alle Fans unter einen Hut zu kriegen. Obwohl bereits im Frühjahr Grönemeyer in NRW zweimal Köln und einmal Dortmund ausverkauft hat, besteht auch ein halbes Jahr später bei 50.000 Leuten Bedarf. Er ist eben der erfolgreichste deutsche Musiker aller Zeiten, darf das meistverkaufte Album in Deutschland sein Eigen nennen und seit 1984 geht ausnahmslos jedes Album auf Platz 1. Damit ist eigentlich auch alles gesagt.
Ein entspannter Einlass trägt zu einem angenehmen Einstieg in den Abend bei. Mit 17h zwar ordentlich früh, tritt der Hauptact doch erst drei Stunden später auf, aber sicher ist sicher. Eine Stunde vor Grönemeyer darf das österreichische Duo Oehl für 35 Minuten Songs präsentieren. Um zwei zusätzliche Musiker erweitert, spielt die noch frische Band aus unserem Nachbarland deutschsprachigen 80s-Synthiepop, der eigentlich eine gewisse Coolness und Lockerheit mit sich bringt und im Radio durchaus angenehm andocken könnte – hier aber völlig fehl am Platz wirkt. Ein Großteil des Publikums ist noch gar nicht in der Halle oder lieber mit Getränken und Würstchen beschäftigt. Der Applaus hält sich stark in Grenzen, was der Musik nicht ganz gerecht wird, aber eben zur falschen Zeit am falschen Ort passiert.
Zum eigentlichen Konzertbeginn sind dann aber alle bereit und tatsächlich muss man genauer hinschauen, um Auf Schalke freie Plätze zu finden. Das Publikum ist wenig überraschend breit gefächert, jedoch durchschnittlich geschätzt um die 40. Wer genau beobachtet, sieht, wie der Künstler um kurz nach Acht rechts von der Bühne mit Sonnenbrille die Treppe hochläuft, bereits das erste Mal ins Publikum winkt und daraufhin auch nicht mehr lange benötigt, um zu starten. Um 20:11 beginnt das leicht mystische Intro, Nebelschwaden kommen auf, die Band macht sich bereit und Grönemeyer kommt energetisch auf die Stage gelaufen.
Diese wirkt auf den ersten Blick gar nicht so spektakulär. Zwar befinden sich die Musiker auf unterschiedlich hohen Podesten verteilt, die Leinwände sind mit dem albumtypischen Artwork verziert und drei Stege führen in unterschiedliche Richtungen ein paar Meter tief ins Publikum. Ansonsten dauert es aber, bis die gut programmierte Laser-Lichtshow zum Einsatz kommt, die die Songs passend untermalt. Als besondere Überraschung gibt es sogar ein Indoorfeuerwerk.
Es fehlen gerade einmal fünf Minuten und Grönemeyer würde drei volle Stunden Stagetime in Anspruch nehmen. Über 30 Songs sind geplant, um wirklich jeden zufrieden zu stellen. Genau das soll auch funktionieren. Bereits bei den ersten Titeln ist die Stimmung angeheizt. Es gibt nicht viele Konzerte, bei denen das Publikum so fleißig mitklatscht – und noch viel frenetischer jubelt. Teilweise reißen Applausszenen nach mehreren Minuten nicht ab. Ansagen von Herbert werden ignoriert und stattdessen einfach weitergeklatscht. Genau für diese Wärme und Feierei seitens des Publikums bedankt sich der Künstler unzählige Male mit sehr authentischen, spontanen Ausbrüchen. Er vertut sich sogar das eine oder andere Mal in der Anmoderation zum nächsten Titel. Irgendwann gehen ihm schließlich die Superlative aus und er sagt, dass es manchmal besser ist, nichts mehr zu sagen. „Ich bin so übereuphorisch“. Es ist eben „sein“ Ruhrgebiet, das er besonders hervorhebt. Es steht laut ihm für Toleranz und Vielfalt. Er bindet sämtliche Städtenamen in Songs ein, auch Städte wie Castrop-Rauxel, die außerhalb des Potts kaum jemand kennt. Hier stimmt von beiden Seiten die Chemie, von Sekunde Eins bis zum letzten Taktschlag.
Die Band, die fast zwei Hände voll an Musikern umfasst, sorgt für einen druckvollen Klang, zeigt, dass Grönemeyer stets die Waage zwischen Singer/Songwriter-Elementen und gutem Deutsch-Rock hält. Gehäuft nehmen die Gitarristen die Stege für sich ein, währenddessen Grönemeyer mal an den Tasten im Hintergrund verweilt. Er selbst switcht zwischen Keys, Flügel und Tamburin. Besonders das letzte scheint ihm viel Spaß zu machen – es ist laut eigener Aussage das Siebte, das er auf dieser Tour schrottet.
Der Künstler wird zwar nicht jünger, hat aber an Power nichts eingebüßt. Es ist unglaublich beeindruckend mit wieviel Energie Grönemeyer über die Bühne rennt, springt und tanzt. Keine Nummer vergeht ohne Publikumsinteraktion. Es wird angeheizt zum Winken und noch mehr zum Mitsingen. Bereits beim 5. Song, „Bochum“ mit dem „Steigerlied“ als Intro, ist pure Gänsehaut angesagt [seht HIER einen Ausschnitt auf unserem Instagram-Channel]. Das hat schon was sehr Besonderes und berührt tief. Gleiches wiederholt sich mindestens noch sieben oder acht Mal. Egal, ob 80s-Classics wie „Männer“, Ohrwürmer a la „Musik nur, wenn sie laut ist“, große Worte in „Mensch“ oder oft vergessene Meisterwerke wie „Land unter“ – Gelsenkirchen ist textsicher. Gelsenkirchen hat Bock. Und Grönemeyer packt das Adrenalin. Ekstase. „Der Weg“ und „Flugzeuge im Bauch“ sorgen trotz riesiger Halle für Intimität und gehen direkt dahin, wo’s am meisten wehtut.
Trotz einer so großen Bandbreite an Songs schafft es die Setlist nichts auszulassen. „Mambo“, „Bleibt alles anders“, „Demo (Letzter Tag)“, „Ein Stück vom Himmel“, „Kopf hoch, tanzen“, „Was soll das“, „Halt mich“, „Vollmond“, „Alkohol“, „Kinder an die Macht“. Die Zuschauer wollen alles und bekommen tatsächlich alles. Wer hier nörgelt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Als Ruhrgebiets-Sahnebonbon ist selbst „Currywurst“ exklusiv dabei, was ansonsten fehlt. Gesanglich zeigt Herbert, dass er problemlos drei Stunden durchhält und mit seinem einzigartigen Sound weiterhin beliebig in den Oktaven springt. Leider ist ihm bei „Alkohol“ und „Kinder an die Macht“ das Publikum wichtiger. Er springt beim ersten Beispiel in den Graben und klatscht viele Fans in den ersten Reihen ab, entscheidet sich aber dafür gegen die Töne und brüllt den Song mehr, als ihn gerade zu singen. Gleiches bei „Kinder an die Macht“ – aber geschenkt.
Letztendlich zeigt die 175 Minuten starke Show, dass Herbert Grönemeyer nicht der erfolgreichste deutsche Künstler ist, weil er mit mainstreamigem Pop, zu dem man sich ordentlich die Kante gibt für leichte Unterhaltung sorgt. Stattdessen beweist der kluge Kopf, dass man auch mit starker Metaphorik und Worten, die mehrere Anläufe brauchen, viele Menschen erreichen kann. Gepaart mit echten Instrumenten, ein paar griffigen Melodien, dem Hang zur Hymne, einer guten Portion Selbstironie und vor allen Dingen dem Mut, unangepasst zu sein. Dass das Unangepasste für immer in ihm bleiben wird, unterstreicht er in einer kraftvollen, lauten Rede, dass wir mit der Politik keinen Millimeter nach rechts wandern wollen und werden. Außerdem möchte er 212 Jahre alt werden, um weiterzumachen. Bitte, tu das! Ein perfektes Konzert von einem Künstler, den jeder, der nur einen Hauch von Interesse an Musik besitzt, mindestens einmal im Leben sehen sollte. Aber bei dem einen Mal wird es bestimmt nicht bleiben. Ob die Veltins-Arena wohl auch hierfür Dauerkarten anbietet?…
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Bild von Christopher.
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