Kerstin Ott, Mitsubishi Electric Halle Düsseldorf, 22.11.2019

Was genau braucht man, um ein erfolgreicher Musiker zu werden? Eine große Stimme? Aufreizende Klamotten? Trendige Sounds? Einen durchtrainierten Body, der tanzen kann? Offensichtlich scheint all das längst nicht mehr vonnöten. Immer häufiger wird deutlich, dass Sprachrohre und Identifikationsfiguren gefragt sind. Lieber Nische statt Everybody’s Darling. Genau in diese Kategorie fällt auch die 37-jährige Kerstin Ott.

Wie so oft half ein Remix eines recht unspektakulären Liedchens zum Durchbruch. Die Berlinerin macht seit zig Jahren Musik, nur eben für sich auf der Gitarre. Sie schreibt Lieder für Freunde, so auch 2005. Der Song nennt sich „Die immer lacht“ und behandelt die Depression einer ihr nahestehenden Person. Elf Jahre später nehmen sich die DJs von Stereoact die Nummer vor, verpassen der einprägenden Hook einen aktuellen Feinschliff und landen einen Riesenhit, der über 60 Wochen in den Charts verweilt und es bis auf Platz 2 schafft. Doch wer ist die Sängerin dahinter? Ein Teil eines One-Hit-Wonders?

Tatsächlich nicht. Schon während der Hochzeit von „Die immer lacht“ erscheint das Debütalbum „Herzbewohner“, das Platin einsackt. Nur wie geht man musikalisch voran, wenn man zunächst Teil eines DJ-Projekts war? Mit Dance? Mit Singer/Songwriter, wie man es einst auf der Gitarre gewohnt war? Kerstin entscheidet sich für den ebenfalls gegenwärtig beliebten Pop-Schlager. Ende 2019 sind aus einem Album gleich drei geworden – jedes davon knackte die Top 5 – und ein fast genauso großer Hit namens „Regenbogenfarben“, der dank eines Auftritts bei und mit Helene Fischer zu einer ganz anderen Fangemeinde Zugang fand und Kerstin Otts Bekanntheitsgrad ordentlich pushte.

Mit ihrem Auftritt in der RTL-Tanzshow „Let’s Dance“ wurde das Ganze wiederholt. Zwar war von Show 1 an bekannt, dass sie absolut kein Talent für diese Show besitzen würde, was aber Anhänger nicht davon abhielt, sie mehrere Folgen weiterzuvoten. Somit muss Kerstin für etwas anderes stehen, als für einfache Leistung.

Ihre erste eigene Tour ist gestartet. Als Fan möchte man eben nicht nur ständig die Studioversion hören, sondern seinen Star auch mal live erleben. Acht Shows gibt es vorerst in diesem Jahr – doch 2020 ist schon für Nachschub in Form von 20 (!) Gigs gesorgt. Die Nachfrage ist also gesichert und so trudeln viele überwiegend weibliche Fans, wovon ein Großteil über 40 Jahre sein sollte, am 22.11.2019 in der Mitsubishi Electric Halle in Düsseldorf ein, die auch im Innenraum bestuhlt ist. Der Oberrang bleibt zwar unbesetzt, Unterrang und Innenraum sind aber zu geschätzt 90% belegt.

Mit gerade einmal zwei Minuten Verzögerung geht das Konzert quasi pünktlich ohne Vorband um kurz nach 20 Uhr los und endet fast zwei Stunden später um 21:55 Uhr. Drei Musiker in der klassischen Besetzung Drums, Keyboards und Gitarre spielen die gewünschten Songs auf einer überraschend aufwendigen Bühne mit kleiner Showtreppe und großer Leinwand, die neben Videoelementen auch Nachrichten durch aufleuchtende Buchstaben zeigt. Dazwischen Kerstin im unaufgeregten roten Zipperpulli und Jeans.

Unaufgeregt ist das passende Stichwort. Gerade die Präsenz Otts ist doch für regelmäßige Konzertgänger ein wenig irritierend. Man darf nicht vergessen, dass es sich um ihre erste Tour überhaupt und den grade erst dritten Auftritt handelt. Trotzdem ist in fast jeder Sekunde zu bemerken, dass Kerstin nie ein Star werden wollte. Auf Schulzeugnissen würde „War stets bemüht“ stehen: sie probiert durchgehend ins Publikum zu schauen und überzeugend zu wirken, schafft dies aber geringfügig bis gar nicht. Sie läuft ab und an hin und her und ruft ständig zum Mitklatschen auf, alles andere wirkt aber wie noch nie getan und auch noch nie geübt.

Zum Glück tut das der Stimmung keinen Abbruch. Das Publikum steht trotz Sitzplätze bereits bevor Kerstin auf die Bühne kommt und setzt sich auch nur bei wenigen Songs wieder hin. Den Rest wird durchgeklatscht und im Discofox-Beat mitgeschwungen. Der läuft auch kontinuierlich durch den Großteil der Songs und variiert selten. Generell fehlt es den meisten Titeln an mitreißenden Arrangements und Steigerungen in der Komposition. Die Melodien sind immer nett und süße Ohrwürmer – verschwenden aber ihr Potenzial durch die langweilige Umsetzung. Selbst die Bandmitglieder können nicht immer verbergen, dass ihr Job ein wenig einer Kaffeepause gleicht.

Zwar ist musikalisch und auch optisch wenig Varianz wahrzunehmen, aber Kerstin macht dafür eine Sache gewohnt gut: sie bleibt authentisch. Sie zwängt sich nicht in überstylte Kleidung und hat keine Choreos einstudiert. Stattdessen ist sie sympathisch und freundlich, bedankt sich regelmäßig bei ihrem Publikum und entschuldigt sich zigmal dafür, dass sie im Mittelteil aus Versehen die Stadt Düsseldorf mit Braunschweig verwechselt. Sie spricht über ihren guten Frauengeschmack, grüßt damit ihre Partnerin und sensibilisiert Zuschauer mit homosexuellen Themen, die vielleicht nicht alle schwule und lesbische Freunde im nahen Umfeld haben. Ein großes Plus!

Da die Vorband fehlt, lädt sie mit Lara Hulo eine junge Sängerin aus Hamburg ein, mit der sie zwei Duette singt und die als Pausenact drei eigene Nummern in akustischer Form präsentiert. Auch Lara bietet wenig kreativen und weltbewegenden Sound, aber ganz nette Abwechslung in der ansonsten zu starren ersten Hälfte. Die Duette, die beide präsentieren, sind Coversongs. Einerseits gibt es mit „Willkommen“ von Rosenstolz eine Nummer, die ohne groß anzuecken ins Repertoire passt – mit dem Oscar-prämierten „Shallow“ von Lady GaGa und Bradley Cooper hat man aber wohl weniger gerechnet. Die im Vergleich zu Kerstins eigenen Titeln wesentlich anspruchsvollere Nummer zeigt, dass in den Sängerinnen Potenzial steckt. Besonders Kerstin kommt aus der Comfort Zone und sollte sich und ihren Titeln mehr zutrauen. Gerade der Tonumfang ist oftmals zu gering – dabei kommt sie mit ihrer Altstimme doch noch um ein paar Noten höher, wie man sieht.

Höhepunkte in der Setlist sind natürlich das beliebte „Regenbogenfarben“, Ansprachen zum Song „Anders sein“, eine ausgelassene Stimmung bei der aktuellen Single „Wegen dir (Nachts wenn alles schläft)“ und natürlich der Hit „Die immer lacht“, der zunächst nur mit Kerstin an der Gitarre beginnt und anschließend in ein angepasstes Schlager-Arrangement verpackt wird, um nicht völlig auszubrechen. Dazwischen schleichen sich leichte Balladen wie „Ich geh‘ meinen Weg“ ein. Die zweite Hälfte zeigt sich abwechslungsreicher. Bei der nächsten Tour wäre ein richtiger Akustikblock, bei dem Kerstin an der Gitarre sitzt, wünschenswert.

Am Ende bleiben zwei Stunden, die für die Mehrheit des Publikums zufriedenstellend sein sollten. Zwar gleicht die Atmosphäre ein wenig den Bierzeltmomenten auf einer Kirmes oder dem Sommerfest in einem Schrebergartenverein – doch immerhin drehen sich die Texte dieses Mal auch um Themen, die mal über den Tellerrand hinausgehen und für mehr Aufeinander-Zugehen stehen. Damit hat Kerstin ihre Daseinsberechtigung. Sie wird so genommen und gemocht, wie sie ist. Ein gutes Zeichen. Nur musikalisch sollte man seine Ansprüche doch arg herunterschrauben.

Und so hört sich das an:

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Bild von Christopher.

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