The 1975 in Köln: “We just play whatever we want.”

The 1975 spielen im Kölner Palladium

Es ist das vorletzte Konzert einer anderthalb Jahre andauernden, etwa 150 Stationen umfassenden Tournee. Der vorletzte Stop der “Still At Their Very Best”-Europa-Rutsche. Selbstverständlich ausverkauft binnen Minuten. Zwei Tage lang kampierten Fans auf der Schanzenstraße. Die Qualität der ausgeklügelten und bisweilen theatralisch-sonderbaren Live-Show hat sich herumgesprochen. Gleich sechs mal war die Londoner O2-Arena dicht, dreifach auch der New Yorker Madison Square Garden. The 1975 wahrlich “at their very best”. Sänger und Bandleader Matty Healy immer changierend zwischen perfekter Führungsfigur, Nervenzusammenbruch und unangenehm verdichteter Abhandlung gesellschaftspolitischer Großthemen. Vor und in eindrucksvoll detailreich ausgestalteter Hauskulisse die Grenzen von Männlichkeit, Internetkultur und Kunst austarierend. Ob das nun schon Theater oder noch Konzert sei, fragten sich Feuilletonist*innen während sie panisch versuchten Sinn und Verstand in Healys eklektischen Performances zu finden. Oft jedenfalls torkelte dieser vermeintlich betrunken durch das fiktive Zuhause, rauchte Kette, aß rohes Fleisch, kroch durch Fernseher, machte Liegestütze oder simulierte psychische Krisen.

Doch zurück nach Köln. Wer heute die volle Ladung Konzept möchte, muss sich der vielen Mitschnitte auf Youtube und Co bedienen. Das Haus jedenfalls passt nicht komplett auf die eher kleine, Stahlträger-gerahmte Bühne des Palladiums. Zentrale Elemente fehlen: Das Dach, die Treppe, die Durchgangstür, der Vorhang. Die riesige LED-Wand hat man gleich nicht mit auf das europäische Festland genommen. Zu viel logistischer Aufwand. Und auch sonst gibt sich die Band eigensinnig. “Wir spielen, was wir wollen”, erklärt Healy zwischen zwei Songs. Die obligatorischen Hits werden zwar nicht ausgespart, es gibt aber lediglich zwei Stücke aus dem aktuellen Album, das The 1975 eigentlich betouren. An dessen Stelle rücken Songs aus der “Garage”, wie Healy selbst sagt. Will heißen: Deep-Cuts. Und “Garage” gibt es tatsächlich genug.

Gleich der Einstieg ist untypisch. Auf das lange unberührte Accapella-Intro aus den Anfangstagen folgen ähnlich eingestaubte Songs, etwa die selten vertretenen “The City”, “Milk” und “You” sowie das erstmals seit 2016 auf die Bühne gebrachte “Anobrain”. In der zweiten Hälfte schließen sich dem vermehrt Stücke aus dem nie richtig betourten, meist wenig gewürdigten 2020er-Album “Notes On A Conditional Form” an. “Then Because She Goes” (ebenfalls ein selten gesehener Gast) und “Jesus Christ 2005 God Bless America” (in der gemeinsam mit Gitarristin Polly Money gesungenen Version ebenso rar) als etwaiges akustisches, feinfühliges Duo mittendrin. Zwischen all das streuen Healy, Hann, MacDonald, Daniel und Kolleg*innen lange erprobtes Hit-Material. Die waveigen Hymnen “Robbers”, “Somebody Else” und “About You”. Oder das tragischerweise zeitgeistige “Love It If We Made It”.

Auch der Erfolg des The 1975-Theaters ist ein direktes Resultat gekonnter Zeitgeistbespielung. Das sich ewig evolutionierende Konzept wie gemacht für einen Algorithmus, der jede kleinste Variation, jede Ansage in Sekundenbruchteilen um den Globus wandern lässt. Das Spielen mit den Grenzen des Sag- und Tubaren einen Spiegel auf den Linksliberalismus werfend (sind es nicht doch die ökonomisch-materiellen Grundlagen, die zählen? Ja? Nein?). Der leidende (und natürlich perfekt gespielte) Rockstar Healy als Projektionsfigur, Abbild gesellschaftlicher Zustände und Kommentator ebendieser.

Die Band legt nun erstmal eine Pause ein. Neue Musik möchte geschrieben und aufgenommen werden. Einen neuen, alten Vorgeschmack gibt es jedoch bereits: Das an den Post-Rock angelehnte Instrumental-Stück “28” aus jenen Zeiten, in denen The 1975 noch Drive Like I Do hießen und Emo sein wollten. Ebenjenes kündigt Healy mit den Worten an, nun käme ein alter Song vom neuen Album. Möglicherweise folgt auf den auslaugenden Ritt auf dem Zeitgeist nun also die Flucht in die Vergangenheit. Ob dem tatsächlich so ist, wird paradoxerweise die Zukunft zeigen müssen.

Und so hört sich das an:

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Fotorechte: Jordan Curtis Hughes.

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