Hallo Leser*in! Definierst du dich als großer Tokio Hotel-Fan, tust du dir vielleicht keinen allzu großen Gefallen damit, diesen Bericht zu lesen. Bist du allerdings offen dafür, auch mal eine andere Perspektive auf deine Lieblingsband zu hören, sei willkommen.
Das Zeltfestival Ruhr läuft auf Hochtouren. Nachdem auch die letzten Corona-Maßnahmen gefallen sind, ist der schön aufgebaute Marktplatz mit seinen großen Zelten für die unterschiedlichsten Events so voll, wie man ihn aus 2019 kennt. Auch wir kamen schon vergangenes Wochenende bei Wanda in den vollen Genuss, schwitzten uns kaputt, feierten aber auch die Band bis zum letzten Akkord.
Aber so etwas geht eben nicht immer. Am 24.8., einem Donnerstag, ist schon auf dem Hauptplatz der Andrang ein komplett anderer, als man es von dem eher gemütlichen Festival, für das man einzelne Tickets kauft, gewohnt ist. Gute zehn Minuten vor Einlass tummeln sich unzählige Menschen vor dem kleineren Zelt. Die Schlange nimmt teils seltsame Abzweigungen, da niemand so richtig weiß, wo das Ende ist. Gewartet wird hier, um endlich reinzudürfen. Um 20 Uhr sollen Tokio Hotel spielen.
Ist man über die Schwelle getreten und im Inneren angekommen, scheint man eine Art Zeittunnel bereits durchlaufen zu haben, denn plötzlich ist wieder 2005. Zwar ist das Publikum nicht mehr am Anfang der Pubertät, sondern eher durchschnittlich Mitte bis Ende 20, aber die Lautstärke, wie man seine Lieblingsband von damals begrüßt, bleibt uneingeschränkt dieselbe. Bill, Tom, Gustav und Georg haben ein wahnsinnig treues Publikum. Viele sind seit Beginn dabei. Seit Beginn bedeutet, sie haben das Quartett in ihr Herz geschlossen, als man emotional gerade ziemliche Achterbahnen fuhr, sich womöglich nicht immer ganz zugehörig gefühlt hat und in der Musik Zuflucht fand.
Und ohne Zweifel sind solche Bands wie Tokio Hotel sauwichtig. Musik kann manchmal eine Person ersetzen. Sie kann das Mittel sein, mit dem man sich verstanden fühlt. Alle, die einen besonders intensiven Zugang zu Musik haben, haben so einen Act. Der wechselt natürlich je nach Generation, manchmal auch nach Gender oder anhaltenden Trends in der Schule. Nostalgie fließen zu lassen, tut gut. Man steckt plötzlich in Situationen wieder drin, an die man gerne zurückdenkt oder die besonders einschlagend waren. Ein Gefühl von Heimat, von Vertrautheit.
Die stärkste Waffe von Tokio Hotel war Mitte der 2000er wohl, dass sie polarisiert haben. Wer sich traut, anzuecken, wird eben von manchen ganz besonders geliebt. Weil es anders ist, weil es neu ist, mutig, irgendwie geheimnisvoll und unnahbar. Neben dem bahnbrechenden Erfolg musste sich aber besonders Frontmann Bill aufgrund seiner Extravaganz viel Häme aussetzen. Scheiße, junge Menschen können einen zerstören, ohne Diskussion. Aber der mittlerweile fast 34-jährige hielt dem Ganzen irgendwie stand, trug mit Sicherheit Narben davon, aber zu viert sind sie auch nach fast zwei Dekaden immer noch da.
Schaut man sich Fotos aus mehreren Ären an, staunt man über die Wandelbarkeit. Auch in der Musik hat man sich von dem Emo-Pop-Rock hin zu Synthie-Electro-Pop bewegt. Sprachlich ist man nur noch selten Deutsch und fast ausschließlich Englisch. Besonders cool: Man hat gemeinsam aus dem Spott Erfolg gemacht, ist nach Amerika gezogen, der eine hat sich mal eben das bekannteste deutsche Model der 2000er geangelt, der andere ist durch seine Unangepasstheit eine LGBTQIA*-Ikone. Man podcastet, moderiert und ist manchmal auch einfach nur Person der Öffentlichkeit. Zumindest trifft das auf die Zwillinge Bill und Tom zu, Gustav und Georg nimmt man außerhalb der Band so gar nicht wahr.
Zurück nach Bochum, zurück an den Kemnader See, zurück ins Zelt. Bis 20:15 Uhr baut sich eine Energie auf. Die Vier lassen sich etwas Zeit, kommen erst eine Viertelstunde zu spät raus. Trotzdem wird schon davor mehrfach aus vollster Kehle geschrien und mit dem Handy gefilmt, ohne dass es etwas zu sehen gibt. Die Band dockt immer noch da an, wo sie in ihrer ersten Hochphase das erste Mal nachhaltig Eindruck schinden konnte.
Doch genau 80 Minuten später fällt auf, dass die Energie in erster Linie vor statt auf der Bühne geschieht. Dass die Magie offensichtlich in den 00s entstanden ist und heute nur noch von damals zehrt. War man zu “Durch den Monsun”-Zeiten ein paar kleine Jährchen zu alt und hat die Gruppe eher gemieden, hat man nahezu keine Chance. Tokio Hotel funktionieren nur, weil sie eben Tokio Hotel sind. Es ist komplett egal, was sie spielen oder sonst tun, sie haben als Person auf ihre Fanschar eine so exzessive Wirkung, dass viele immer noch Tränen in den Augen bekommen und für ein 2023-Konzert überdurchschnittlich viele gebastelte Plakate mit sehr bedeutungsschweren Worten dabei haben.
Denn in den nicht einmal anderthalb Stunden passiert wahnsinnig wenig. Konzerte auf dem Zeltfestival Ruhr sind tendenziell im Bühnenaufbau aus organisatorischen Gründen etwas reduzierter. So gibt es bei der Band vier unterschiedlich hohe Podeste, auf denen je ein Mitglied steht. Ein Mikrofon hat nur Bill, die anderen drei sind ausschließlich an ihren Instrumenten zugange. Im Hintergrund gibt es einen großen, silbern-glitzernden Vorhang mit dem Bandlogo, bei einigen Songs sprühen kleine Feuerwerksfontänen, das Licht ist gut, aber nicht außergewöhnlich aufwändig. Weitere Showelemente gibt es nicht.
Aber das allein heißt ja nichts. Das größte Problem des Konzerts ist viel eher, dass es in keinem Punkt wirklich hervorragt. Musikalisch gibt es wenig, das für ein echtes Liveerlebnis spricht, da sehr viele Spuren vom Band kommen. Wirklich stark ist Gustav an den Drums, der einige Male richtig Gas gibt. Tom wirkt auch permanent gut beschäftigt, wechselt zwischen Gitarren, Synthesizer und Drum-Machines. Georg ist absolutes Beiwerk. Schnell kommt das Gefühl auf, man sieht ein Bill Kaulitz-Solo. Der Sänger betritt mit der Gitarre die Bühne, legt diese aber nach einem Song ab. Ansonsten ist er der Einzige, der zu Wort kommt, und ebenso der Einzige, der etwas tut, was auffällt. Meistens ist das das Tragen von stylischen, bunten und ein bisschen schrägen Klamotten. Davon präsentiert er gleich mehrere, wartet bei vielen Songs nicht, bis der Beifall endet, sondern rennt schnell von der Bühne, um wenige Minuten später mit dem nächsten, meist an 70s-Disco-Zeiten erinnernden Outfit Beifall zu bekommen.
Gesanglich ist der Gig schwer zu beurteilen. Bill singt ausnahmslos mit extrem viel Autotune und weiteren Effekten auf dem Mikro, sodass seine authentische Stimme nur zu hören ist, wenn er spricht. Das erweckt zwar den Eindruck, es klinge wie im Studio, raubt dem Ganzen aber erneut einen Liveaspekt. Mehrfach hört man seine Stimme durch die Boxen, ohne dass er den Mund offen hat. Zu allen Songs tanzt er, wirklich eskalieren tut er dabei aber nie. Manchmal geht er von seinem Podest, um auch ein paar andere Fans näher sehen zu können. Von einem schnappt er sich sogar das Smartphone, filmt einige Sekunden und gibt es anschließend zurück. Das ist auf jeden Fall ein cooler, persönlicher Moment. Übrigens der einzige.
Ansonsten wirken die 80 Minuten wahnsinnig kühl. Es gibt keinerlei Interaktion innerhalb der Band. Lediglich zum Ende verbeugt man sich einmal gemeinsam. Ansonsten macht jeder eben sein Ding. Die Ansagen von Bill wirken auch nicht spontan oder speziell auf Bochum abgestimmt, sie kommen über ein “Schön, dass ihr da seid” und “Den nächsten Song haben wir schon echt lange nicht mehr gespielt” nicht hinaus.
Stichwort: Songs. Die sind viel weniger Nostalgie, als es wohl vielen lieb ist. Von den 17 Songs sind zwölf aus den letzten neun Jahren, seitdem sich der Musikstil eindeutig verändert hat. Auf jeden Fall haben mehrere Titel – darunter ganz besonders “Girl Got A Gun” und “What If” – wirklich Potenzial, wirken sehr groovy, ein wenig lasziv, retro und catchy. Aber in der Masse hat vieles dann einfach zu wenig Einzigartigkeit, wenig Tanzbarkeit. Man wackelt ein wenig hin und her, nur bei der Kraftklub-Kollabo “Fahr mit mir (4×4)” kommt Tempo auf. Hier fangen viele dann auch an zu springen, sodass einem etwas wärmer wird.
Am lautesten – und das überrascht wenig – wird die “Tokio Hotel-Fan til I die”-Crowd aber bei den Titeln, die ihnen ganz besonders etwas bedeuten. Eine Person in den vorderen Reihen hält ein “Ihr seid meine Lifesaver”-Plakat hoch und man glaubt es ihr wirklich ohne Zweifel. “Spring nicht” und das akustisch vorgetragene “Schwarz” wird von solch lauten Gesängen aus dem Publikum unterstützt, dass man Bill kaum versteht. Wobei: Leider versteht man ihn auch bei den anderen Songs öfter nicht, da der Sound zwar ordentlich scheppert, aber seine Vocals nicht gut abgemischt wirken. “Automatic” und “World Behind My Wall” gäbe es zwar auf Deutsch, werden aber auf Englisch gesungen. Ein bisschen Flashback ist offensichtlich ok, aber die Zuschauer*innen komplett zurückversetzen, möchten Tokio Hotel eindeutig nicht. Ganz seltsam: Nach dem Riesenhit “Durch den Monsun” in den Zugaben folgt noch ein Albumtrack von der aktuellen LP “2001” aus dem vergangenen Herbst. Der gerade bis zum Gipfel aufgebaute Glücksmoment wird also durch irgendein Lied sofort wieder zerstört.
Ein Konzert, das zumindest bei neugierigen Besucher*innen so gar nicht funktioniert. Dass man immer begeisterter nach Hause geht, wenn man sämtliche Songs seit Anbeginn der Zeit kennt, ist absolut klar, aber gute Konzerte können auch überzeugen, wenn man vorab eben nicht vorbereitet hingeht, sondern sich überraschen lassen will. Doch Tokio Hotel, die ihre im April gestartete, noch von Corona nachgeholte “Beyond the World”-Tour in Bochum beenden, wirken so, als ob es Pflichtprogramm wäre, es ihnen gar nicht so wirklich Spaß mache und sie genau wüssten, dass ihr Name völlig reicht, um zu ziehen. Das ist weder musikalisch überzeugend, noch auf anderem Wege richtig unterhaltend. Nochmal zum Mitschreiben: Hands down für deren Durchhaltevermögen, deren Selbstbewusstsein und deren Wichtigkeit für eine sehr große Fanbubble – aber außerhalb ist das nicht mal wirklich schlecht, sondern einfach nur gnadenlos langweilig.
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Foto von Christopher
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