Da hat jemand sehr genau zugehört: Die 90er Live haben wir uns schon mal 2019 gegeben. Damals stand der Weltrekordversuch an, die größte Party zum Kultjahrzehnt überhaupt steigen zu lassen. Das mit den Zahlen hat auch geklappt, allerdings blieb dabei einiges an Spaß auf der Strecke, war die Orga doch mehr als verbesserungswürdig. Doch wer die Stars aus den 90s abgeschrieben hat, wird genauso eines besseren belehrt, was die Party selbst angeht, denn das Veranstaltungsteam hat die Kritik ernstgenommen und nun in Oberhausen an fast allen Ecken ausgebessert.
Schon im Januar waren wir positiv überrascht, dass dasselbe Team “Die 80er Live” in Düsseldorf wirklich gut umgesetzt hat. Nach einer erfolgreichen Premiere in der Merkur Spiel-Arena zieht das Konzept kommendes Jahr nach Gelsenkirchen. Eben dort, wo wir 2019 von Die 90er Live doch arg enttäuscht wurden. Aber bleiben wir doch optimistisch und sagen, dass das Event noch in seinen Kinderschuhen steckte und man sich hoffentlich nur stets verbessert. Die Chancen dafür stehen nämlich gut. Am Samstag, dem 26.8., kommen zwar nicht knapp 60.000 Besucher*innen auf das Freigelände an der Rudolf Weber-Arena in Oberhausen – das ist der Schotterplatz direkt vorm Gasometer, wo ihr ansonsten bestimmt oft bei Konzerten parkt – aber 25.000 Menschen sind ja auch eine ganze Menge. Gibt es dann noch gut ausgewählte Acts und permanenten Sonnenschein, was bekanntlich 2023 alles andere als selbstverständlich ist, ist der Tag ein Selbstläufer.
Die 90er Live haben sich mittlerweile zu einer wahren Institution entwickelt. Gleich mehrere große Events finden im Kalenderjahr in den unterschiedlichsten Ecken des Landes statt. Die ganz fetten gibt’s aber in NRW. Gelsenkirchen holt den Sieg indoor, Oberhausen outdoor. Wer hier alles mitnehmen will, braucht aber vor allen Dingen Energie, denn hier gibt es heut zehn (!) Stunden Programm. Schon um kurz nach 13 Uhr mit nur wenigen Minuten Verspätung fällt der Startschuss. Ein Opening mit Konfettibomben – von denen soll es im Laufe des Tages noch so viele geben, dass man sie nicht zählen kann – und dröhnenden Sounds von DJ Christian Schall, der daraufhin auch den Host des Tages anmoderiert: Mola Adebisi ist zurück, und auch der scheint kritische Worte wahrgenommen zu haben.
Hat sich der Ex-VIVA-Moderator bei der Ausgabe vor der Pandemie noch ganz schön mit extrem viel Egozentrismus blamiert, ist auch er heute echt gut drauf. Den gesamten Tag lang heizt er ein, fordert zum Mitsingen und Mitklatschen auf und nimmt sich nicht zu wichtig. Die Routine, die er mittlerweile bei diesen Shows hat, tut ihm gut, sodass zwar weiterhin viel Improvisation dabei ist, die passt aber zum Motto. Christian Schall darf als Pausenact alles abfeuern, was man in dem vorvorletzten Jahrzehnt auf Heavy Rotation spielte und wählte stet abwechslungsreiche Genre-Blöcke. Mal Boybands, dann Rock, dann wieder Eurodance.
Erster Punkt somit zufrieden abgehakt. Das Gelände entpuppt sich als hervorragend geeignet, so gibt es hier nämlich nicht nur die Möglichkeit auf einer, sondern gleich auf zwei Bühnen 90s-Flashbacks auszulösen. Sind auf der Main Stage die typischen Verdächtigen, die von einem 90s-Live-Festival zum nächsten tingeln, gibt es auf der zweiten gleich zwölf DJs, die damals mit ihren Beats die Charts eroberten. Sash, Niels van Gogh, Aquagen, Da Hool, Westbam, DJ Quicksilver, Tomcraft, Mark Oh, Future Breeze, Shaun Baker, Darren Bailie of the Guru Josh Project und Charly Lownoise fürs große Finale. Manche davon sagen euch nix? Könnten wir jetzt doch die Hooks vorsummen und ihr wüsstet sofort, was Sache ist… Acts, die vor allen Dingen nochmal ein ganz anderes Publikum anziehen, nämlich das, das eher auf den Love Parades und Maydays zuhause war. Auch wenn wir nur eine gute halbe Stunde vorbeigeschaut haben, können wir aber zumindest sicher sagen: Ja, auch das kam richtig gut an. Alle sind mit den Beats im Groove und tanzen mal ausgelassener, mal entspannter bei rund 23 Grad in der Sonne.
Zweiter Punkt? Check. Doch zehn Stunden sind eben wesentlich mehr als ein bloßes Konzert, sodass zwischendrin auch mal eine Pause vonnöten ist. Die lässt sich auf den Bierbänken verbringen, von denen es glücklicherweise genug gibt, sodass man immer einen Platz bekommt, wenn man ihn braucht. Selbst Toiletten sind an mehreren Orten platziert, je nach Verlangen kann zwischen Dixi-Klos und Toilettenwagen gewählt werden. Gastro-Stände gibt es in ausreichender Menge, sodass man zwischen Bratwurst, Pommes, Döner, Frozen Joghurt, Pasta, Crêpes und vielem mehr hin- und herüberlegt und selten länger als zehn Minuten ansteht. Einziges Manko: Der Preis ist echt heftig. Bekommt man für rund 30€ den Eintritt bei einem derartig umfangreichen Programm zum Schnapper, sind 12€ für okaye Nudeln von einem Street-Food-Stand einige Euros übers Ziel hinaus. Aber irgendwas ist ja immer.
Somit gibt es auch für den “Was man eben neben guter Musik sonst noch so an einem Festivaltag braucht”-Punkt einen Daumen hoch. Next: Das Publikum ist in Ordnung. Haben teils sogar Leute, die womöglich schon die 60 geknackt haben, richtig Bock auf das Programm, gehen nur die Wenigsten wohl unter die 30. Logisch. Hardcore-Fans, die nicht nur den Refrain vom größten Hit, sondern auch Strophen und weitere Songs der Acts mitsingen können, gibt es nicht zuhauf, aber sie gibt es. Ein Großteil hat sich auch optisch auf das Jahrzehnt eingestimmt und witzige Shirts an. Trotzdem bleibt es bei manch wenigen aber eindeutig dabei, vordergründig 90 Promille zu erreichen, statt 90er Feeling. Das ist in einigen Momenten doch etwas nervig und drüber, ebenso die Vielzahl an Junggesell*innen-Abschiede, die vor Ort auch was verkaufen wollen.
Ist aber alles wirklich im Rahmen. Wichtigster Punkt: Die Künstler*innen und Bands, wegen denen man hier ist. Auf der Main Stage warten dieses Mal wieder einige, deren Namen man auch nach knapp 30 Jahren nicht vergessen hat. Die Live-Qualität schwankt, ist aber nur in den wenigsten Momenten unterdurchschnittlich. Einen sympathischen und gut gelaunten Opener stellen Snap! dar. Sängerin Penny Ford war bei den Anfangszeiten der Band dabei und hat selbst mit 60 noch gute Vocals drauf. Songs wie “Ooops Up”, “Rhythm Is A Dancer” und “The Power” katapultieren einen unmittelbar in die richtige Stimmung. Ähnliche Richtung, nur wesentlich schlechter: Culture Beat, bei denen man Livegesang nur in sehr kleinen Mengen dosiert bekommt. Auch die aktuelle Sängerin beim Captain Hollywood Project hat in Wirklichkeit einen Auftritt bei der Mini Playback Show, was einfach echt schade ist. Alle anderen entscheiden sich jedoch mindestens für Halbplayback.
Gesangliche Höhepunkte gibt es zum Beispiel mit East 17. “It’s Alright”, “House of Love” und “Stay Another Day” werden zwar offensichtlich nicht von allen im Publikum gekannt und bekommen somit völlig zu unrecht nur mittelmäßigen Applaus, sind aber gesanglich wirklich erwähnenswert. Alex Christensen bringt mit Y-Ass die Sängerin von dem Megahit “Du hast den schönsten Arsch der Welt” mit, die ist aber tonal leider sehr oft daneben. Da hilft auch die abwechslungsreiche Songauswahl nicht, die er bei seinem seit Jahren erfolgreichen “Classical 90s Dance”-Projekt trifft.
Man kennt es schon, aber wer noch nie auf einer 90er Live war, möchte solche Infos vielleicht trotzdem mitnehmen: Jeder Act hat seinen eigenen Fokus. Manche liefern ausschließlich ihre eigenen Hits, andere wie zum Beispiel Oli.P treten aber offensichtlich dermaßen oft am Ballermann auf, dass hier eben nur die Stimmung gilt und nicht die Musik. So gibt es zwar bei ihm auf jeden Fall die lautesten Gesänge, sehr viele winkende Hände und ziemlich gute Laune nach Sonnenuntergang, allerdings ist es schade, dass er aus seinem eigenen Repertoire nur “Flugzeuge im Bauch” und “So bist du” liefert und dann mit random Coverversionen von “1000 und eine Nacht” und sogar “Johnny Däpp” auffüllt. Falsches Motto und zweimal sogar falsches Jahrzehnt. Wenn es doch ein 90s-Festival ist, wäre es schön, wenn wirklich alle auch von vorne bis hinten durchziehen und wirklich nur 90s-Musik spielen. Ist ja nicht so, dass es da zu wenig Auswahl gäbe. Oli, was ist mit “I Wish”? Auch Christian Schall spielt mit “Uptown Girl” von Westlife und “I.O.I.O” von B3 am DJ-Pult einige Male Songs aus den 2000ern. Und nein, das ist nicht dasselbe, und ja, das fällt sehr wohl Leuten auf.
Den Mitleidspunkt bekommen am vergangenen Samstag Masterboy und deren Wiederfrontfrau Beatrix Delgado. Die sollen eigentlich um 21:50 Uhr auftreten, sind aber erst wenige Stunden vorher bei Die 90er Live in Berlin am Start. Die deutsche Bahn beweist mal wieder ihre Unzuverlässigkeit, sodass die Band erst wesentlich später eintritt, um 22:50 Uhr auf die Bühne kommt und schließlich nur noch zehn Minuten hat, denn um 23 Uhr ist hier Ende. Das ist natürlich nach so einer Odyssee, bei der man noch fix von Hamm bis nach Oberhausen mit dem Taxi düst, um überhaupt noch anzukommen, wahnsinnig schade für Band und Fans. Mitten im Song “Love Message” wird abgebrochen, sich bei der Gruppe bedankt, um dann zum zwar kurzen, aber dafür extrem beeindruckenden und verdammt lauten Abschlussfeuerwerk überzuleiten.
Doch wer das absolute Highlight mitkriegen wollte, musste nicht zum Finale vor der Mainstage sein, sondern um 14 Uhr. Als zweiter Act darf Blümchen ran, die mal wieder zeigt, dass das Jahrzehnt ihr gehört. Mit der längsten Stagetime von rund 45 Minuten gibt es echtes Konzertfeeling, die aufwändigste Bühnenshow, eine toll gelaunte Jasmin Wagner und eine von vorne bis hinten durchchoreographierte Performance. Egal, ob “Ich bin wieder hier”, “Du und ich”, “Boomerang”, “Herz an Herz”, die Zugabe “Nur geträumt” oder den Fanfavoriten “S.O.S. – Herz in Not” – hier gibt es ein echtes Hitfeuerwerk, das musikalisch und optisch absolut überzeugt und die Messlatte so hoch legt, dass niemand mehr an dem Tag heranreicht. Da würde man sich doch wünschen, dass auch andere Acts etwas mehr Aufwand liefern. Wie wäre es denn nun endlich mal mit einer eigenen Solotour, Frau Wagner? Wir kommen! Versprochen.
Technisch läuft in den zehn Stunden fast alles rund. Guter Sound, immer gut im Zeitplan, Konfettikanonen und Luftschlangen, als gäbe es keinen Morgen mehr, 24 abwechslungsreiche Acts – Liebhaber*innen der 90er bekommen hier einen sehr anstrengenden, aber auch gelungenen Tag. Wenn nun auch noch die letzten Kleinigkeiten ausgemerzt und glattgebügelt werden, gibt es bald unsererseits nichts mehr zu beanstanden. See you next year!
Und so sieht das aus:
Website / Facebook / Instagram / TikTok
Foto von Christopher
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.