Augen offenhalten! Ein Leitspruch, den sich besonders Musical-Fans zu Herzen nehmen sollten, denn ein wenig Recherche wird aktuell für jene Zielgruppe sehr belohnt. Auch wenn die größten Aushängeschilder des Musiktheatergenres in Hamburg gefühlt sehr oft dasselbe servieren, gibt es in den staatlich unterstützten Häusern an allen Ecken Überraschungen. Stücke, die es zum Teil noch nie oder zumindest seit Jahren nicht mehr auf den Bühnen gab. Schließlich ist die Community groß und hat irgendwann alles in sich hineingesaugt, was sie finden kann. Der neuste Punkt auf der To Do lautet deswegen: Frankenstein Junior, Theater Bonn.
Klingt wie eine Produktion für die ganze Familie? Ja, klingt aber wirklich nur so, denn hier wird es ein wenig schaurig, sehr skurril und ordentlich anrüchig. Ein Musical, das wohl wirklich nur die Allerwenigsten auf dem Schirm haben – zumindest in der Generation unter 50. Alle darüber könnten womöglich die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 1974 kennen, die für das Stück als Vorlage genutzt wurde. Das besonders Gute: Mel Brooks hat die Regie zum Film “Young Frankenstein” gemacht und ebenso 2007 die Musicaladaption geschrieben, womit man sich demnach sicher sein kann, dass man nah am Stoff bleibt.
Und bei Mel Brooks sollte es wiederum bei einigen mehr klingeln. Der hat nämlich neben Frankenstein Junior exakt nach demselben Prinzip bei The Producers gearbeitet. Da kam der Film sechs Jahre früher, also 1968, und die Musicalversion auch, somit 2001. Zufall? The Producers jedenfalls gilt als eines der erfolgreichsten Broadway-Hits der letzten drei Dekaden, hat aber auch nie so richtig den Sprung hierher geschafft. Lief es zwar auf der einen oder anderen Bühne – übrigens wirklich in einer fast perfekten Inszenierung erst vergangene Saison am Theater Hagen – bleibt es dennoch unterm Radar. Frankenstein Junior schaffte am Times Square hingegen nur etwas mehr als ein Jahr, tourte anschließend ein wenig durch die Staaten und feierte 2017 seine Premiere am Londoner West End. Witzigerweise sogar vier Jahre nach Deutschland, denn hier gab es 2013 die deutschsprachige Uraufführung in Halle. Die deutschen Produktionen in Gänze können aber an maximal zwei Händen abgezählt werden.
Wenn unser Google nicht gelogen hat, ist das Theater Bonn aber das erste in NRW, das sich herantraut. Und “Trauen” ist hier ein gutes Stichwort, denn ein Stück auszuwählen, das nicht direkt nur mit dem Namen trägt und dazu Horror- mit Comedy-Elementen verbindet, ist auf jeden Fall ein Wagnis. Horror mit Comedy? Yes, Frankenstein Junior ist eine Parodie auf die weltberühmten Horrorclassics der 30er Jahre. Aber genau solche Wagnisse braucht es, um eben Hardcore-Fans bei Laune zu halten. Gerade in einer Zeit, in der man für Tickets richtig in die Tasche greifen muss und Leben per se teuer ist, überlegt man doch zweimal, was man schauen mag. Das Stück ist aber besonders für die, die sich gern mal abseits vom Mainstream bewegen, eine außergewöhnliche Möglichkeit.
Seit dem 20.8. ist das in den Dialogen sowie in den Songs auf deutsch übersetzte Stück zu sehen. Unser Bericht bezieht sich auf die dritte von aktuell 22 angeschlagenen Vorstellungen, die sich jedoch bis in den kommenden März ziehen. Wer also direkt aus Angst, es verpassen zu können, Schnappatmung bekommt, kann ganz entspannt planen. Worum geht’s inhaltlich? Dr. Frederick Frankenstein ist alles andere als stolz auf die Experimente seines Opas. Allerdings erbt er das alte Familienanwesen, sodass es ihn doch nach Transsylvanien zieht. Begegnet man dort einer lustvollen Blondine namens Inga, dem buckeligen Butler Igor und der sehr speziellen Haushälterin Frau Blücher, ist klar, dass hier einiges nicht so verläuft, wie Frederick es zunächst geplant hat.
Das Theater Bonn hat gleich auf mehreren Ebenen ordentlich etwas zu bieten. Neben der bereits erwähnten kreativen Auswahl, sind das vor allen Dingen die hervorragend gecasteten Darsteller*innen und ein ganz wunderbares Bühnenbild. Ist das Stück inhaltlich irgendwie die Mitte zwischen “The Rocky Horror Picture Show”, “Tanz der Vampire”, “Addams Family” und “Beetlejuice”, ist besonders das Letztgenannte eine gute Orientierung für die Optik. Tim Burton galt insbesondere in den 90ern und frühen 2000ern als einer der außergewöhnlichsten Regisseur*innen, kann eben jene kühle, etwas traurige und gleichzeitig sehr liebenswerte Schwarz-Weiß-Optik bei vielen Szenenbildern wiedergefunden werden. Die Kulissen wechseln unzählige Male und jede sticht entweder durch doppelte Böden, schräge Requisiten, starke Kostümen oder alles gleichzeitig hervor. Da fühlt man sich wirklich ins Geschehen reingesogen und kann das Modrige im Schloss fast riechen.
Dazwischen spielt eine 18-köpfige Cast, die unter der Leitung von Jürgen Grimm von einer 13-köpfigen Band schwungvoll mit vielen Jazz-, Swing- und Charleston-Songs durchs Stück gejagt wird. Wirklich super herausgearbeitet sind die Choreographien, welche fast immer absolut synchron präsentiert werden und durchaus herausfordern. An dieser Stelle sei das musikalische Highlight “Puttin’ on the Ritz” in der zweiten Hälfte erwähnt, das zwar der einzige adaptierte und englischsprachige Song ist, aber so toll in Szene gesetzt wird, dass die rund fünf Minuten mit zu den besten im diesjährigen Musicaljahr zählen.
Verantwortlich dafür sind neben den starken Tänzer*innen die Hauptdarsteller*innen, darunter Mathias Schlung als Dr. Frankenstein, der auch im Alter von 52 Jahren noch schauspielerisch, sängerisch und tänzerisch richtig abliefert. Er gibt sichtbar alles, so sind im ersten Akt viele Schweißperlen auf seiner Stirn zu sehen, die im Scheinwerferlicht glänzen, was aber einfach sympathisch wirkt. Bettina Mönch als seine völlig hysterische und überdrehte Gattin Elizabeth Benning kann gesanglich aus den Vollen schöpfen und hat einige herrlich verrückte Momente. Daniela Ziegler als Frau Blücher sorgt im Alter von 74 Jahren mit Sicherheit als Schlossdame für die meisten Lacher und ist besonders im Schauspiel ganz toll und herrlich eigen. Michael Heller als Igor und Kara Kemeny als Inga schließen sich an und sind in ihren Rollen immer so, wie man es sich wünscht. Spannend ist übrigens der Fakt, dass Musical-Allstar Ethan Freeman in die Rolle des Monsters schlüpfen darf und erst ganz am Ende überhaupt zu Wort kommt. Einfach mal was ganz anderes.
Große Cast, große Bühne, große Tänze. Für ein Musical ist Frankenstein Junior auch in der Storyline außergewöhnlich detailliert, hier gibt es doch immer mal wieder einige kuriose Wendungen. Einziges Manko: Der Humor. Der Film feiert 2024 den 50sten, das Musical wird gerade 16 und an einigen Stellen ist man eben bei den Gags ganz entschieden in die Jahre gekommen. Viele Figuren sind klischeehaft, einiges extrem anzüglich, manchmal schon ein bisschen fremdschämig, anderes aber auch mal durch nette Slapstick-Einlagen zumindest zum Schmunzeln. Hier muss man auf jeden Fall ein bisschen Toleranz mitbringen, wird manches besonders bei der jüngeren Generation wohl nicht so gut ankommen, weil einfach zu flach.
Nichtsdestotrotz ist die “Haben”-Seite um einiges voller als die “Wollen”-Seite. Frankenstein Junior im Theater Bonn ist mit seinen erst 80, dann 70 Minuten Spiellänge optisch eine eher skurrile als gruselige Mär voller Absurditäten. Monster, die Charleston tanzen, gibt’s wirklich nicht alle Tage. In der Musik, Inszenierung und Besetzung gibt es da durchweg gute bis sehr gute Noten, bei den Gags kneift man einfach ein oder zwei Augen zu. Schade, dass das Stück nicht am 31.10. läuft, da hätten sich Musical- und Halloween-Fans wohl gut drauf einigen können.
Und so sieht das aus (Trailer von der Inszenierung am Londoner West End, 2017):
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Foto von Christopher
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