The Producers, Theater Hagen, 04.03.2023

the producers schlussbild theater hagen

Was darf Kunst? Einfache Antwort: Alles. Es gibt keine Grenzen. Kunst muss anecken, Gedanken anstoßen, provozieren und darf aber gleichzeitig dabei trotzdem unterhalten. Im Musicalgenre gibt es selten wirklich provokantes Material. Stattdessen handelt es sich meist um Entertainment, was dem breiten Geschmack gefallen soll. Das Theater Hagen wagt sich an ein Stück, das zwar schon breit gefallen hat, aber gern auch mal missfällt. The Producers ist ein kleines Wagnis.

Humor ist immer ein schmaler Grat. Die einen lachen Tränen, die anderen sind angewidert, genervt oder peinlich berührt. Nimmt man sich also ein Musical vor, das besonders durch seine spezielle Komik hervorsticht, kann das vielen von Natur aus auf den Schlips treten. Doch das Thema, um das sich The Producers dreht, ist womöglich noch das einzige, bei dem man hierzulande eher in Abwehrhaltung geht als die Bauchmuskeln zu trainieren: Das dritte Reich. Auch fast 80 Jahre nach Kriegsende tun wir Deutsche uns schwer, das dunkelste Kapitel zu persiflieren. Wurde oft probiert und selten bejubelt. Dabei beruht The Producers auf einer Vorlage, die bereits 1968 an den Start geht: Die Komödie „Frühling für Hitler“ von dem mittlerweile 96-jährigen (!) New Yorker Mel Brooks, der Regie führte und das Buch schrieb, wurde vor einem halben Jahrhundert mit einem Oscar fürs beste Originaldrehbuch belohnt.

2001 machte man aus der sowieso schon musicalesquen Vorlage einen Broadway-Hit, und zwar einen richtigen: Mit 12 Tony-Award-Auszeichnungen hält die Adaption den Rekord für die meisten Gewinne bei einer Tony-Verleihung. Sechs Jahre lang machte man die Hütte voll, auch in London war das Publikum absolut begeistert – nur in Deutschland nicht so. 2008 folgte die deutschsprachige Erstaufführung in Wien, 2009 die Deutschland-Premiere im Berliner Admiralspalast, die jedoch aufgrund etwas grenzwertiger Marketingkampagnen ordentlich in der Kritik stand. Seitdem trauen sich keine Großen mehr an das schräge, überdrehte Stück. Nur hin und wieder probieren sich kleinere Theater daran aus, einfach weil es so wahnsinnig spaß ist und nicht komplett im Giftschrank landen darf.

Am 4.3., einem Samstagabend, ist das Theater Hagen mit seinen rund 800 Plätzen randvoll. Man muss schon genauer hinsehen, um hier oder da noch einen freien Platz zu finden. Sowieso kann man immer mal wieder spannende Musikinszenierungen in dem schicken Hause finden, unter anderem lief hier für längere Zeit „Avenue Q“ – ein ähnliches Broadway-Phänomen, was in deutschen Kreisen nur die Nerds auf dem Schirm haben. Schon während des Einlasses spielt das Philharmonische Orchester Hagen unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel ein paar swingende Nummern, sodass man sich mit der Skyline, die sich auf dem Vorhang befindet, schnell ins New York Ende der 50er grooven kann.

Pünktlich beginnt die Vorstellung, die zunächst 80, dann 60 Minuten andauert und nicht weniger darstellt als die womöglich beste Musicalproduktion in einem Bürgertheater, die es in den letzten Jahren zu sehen gab. The Producers in Hagen ist wirklich unfassbar gut. Da gibt es gar keinen einzigen Zweifel dran.

Gibt es bei der Openingnummer „Premiere Heut Nacht“ noch ein wenig Tonprobleme, sodass das Ensemble nicht so gut zu verstehen ist, ist spätestens nach fünf Minuten pures Entertainment der Sonderklasse zu erleben. Sei es das wahnsinnig gute Orchester, das unglaublich aufwändige Bühnenbild mit viel Requisite, die schönen Choreographien, die gesanglichen wie schauspielerischen Qualitäten der mehr als 30-köpfigen Cast – das ist Musical at it’s best. Trotz ordentlicher Spiellänge folgen non stop mitreißende Szenen voller kreativer Einfälle.

Doch worum geht’s? Max Bialystock war jahrelang ein erfolgreicher Produzent am Broadway, landet nun aber einen gigantischen Flop, der ihn finanziell in den Ruin bringen könnte. Mit seinem gerade erst kennengelernten Kumpanen Leo Bloom, ein mit seinem Job äußerst unzufriedener Buchhalter, heckt er einen Plan aus, absichtlich das schlechteste Musical zu inszenieren, was nur möglich ist, um daraus auf durchtriebenem Wege Profit zu schlagen. Sie stoßen auf das von den Kritiken als unterirdisch bewertete „Frühling für Hitler“, geschrieben von einem kauzigen Alt-Nazi namens Frank Liebkind. Der stimmt unter einigen fragwürdigen Umständen sogar zu. Als Regisseur wählen sie den vermeintlich schlechtesten seiner Art, nämlich den schwulen Roger DeBris und sein Kreativteam. Das kann doch nur mit Highspeed gegen die Wand fahren.

Absolut sensationell ist die Besetzung der beiden Hauptrollen. Alexander von Hugo als Leo Bloom spielt so warmherzig und sensibel und singt fantastisch. Mit seinem Solo „Ich wär so gern ein Producer“ gibt es eine der schönsten classy Stepptanz-Sequenzen, die man gegenwärtig überhaupt noch zu Gesicht bekommt. Auf demselben Level bewegt sich Ansgar Schäfer als Max Bialystock, der mit tiefster Inbrunst stets den passenden Ton findet und die Rolle einfach voll auslebt. Gen Ende bekommt er für sein äußerst anspruchsvolles Solo „Verrat“ zurecht riesigen Applaus.

Damit allein gibt es schon richtig viel Qualität, die jedoch durch das Ballett Hagen und den Chor des Theaters Hagen nochmal um einige Nuancen verschönert wird. Doch auch das Kostüm und die riesigen Kulissen, die mit vielen Überraschungen aufwarten – darunter ein Tanz mit Gehhilfen oder singende Tauben mit Armbinden – glänzen durch Liebe zum Detail. Spätestens wenn dann „Frühling für Hitler“ uraufgeführt wird und das Publikum im Theater Hagen als Publikum für das als Flop geplante Walk-of-Shame-Musical herhält, stehen einige Münder offen. Das ist völlig absurd, auch durchaus unangenehm berührend, aber auch richtig, richtig stark in seinem puren Overacting.

Klingt nach einer 10 von 10. Und ja, die Inszenierung ist das auch in der Tat. Dennoch hat The Producers ein nicht ganz unerhebliches Problem, und das ist das Stück selbst. Die Vorlage ist aus den 60ern, das Musical aus den frühen 2000ern – und das merkt man gewaltig. Wirklich zeitgemäß ist nämlich einiges hier nicht mehr, von Wokeness darf man gar nicht erst anfangen. Besonders in der Darstellung des schwulen Teams rund um Regisseur Roger DeBris tappt man von einem Klischeefettnäpfchen ins nächste. Es muss grundsätzlich jeder Prototyp bedient werden. Auch die Rolle der schwedischen Schauspielerin Ulla – ebenfalls ganz toll gespielt von Emma Kate Nelson – wird enorm objektifiziert und sich ihr gegenüber auch hin und wieder äußerst chauvinistisch verhalten. Ja, das gehört zum Stück. Ja, es ist eine Parodie. Aber einige Male hat man doch das Gefühl, man sehe eine sensationell ausgearbeitete Alternative zu „Der Schuh des Manitu“ – und von dem Humor distanziert sich selbst der Macher Bully heutzutage.

Zwar wird manches, das 2023 einfach nicht mehr passt, mit Kommentaren entschärft – Stichwort „Kulturelle Aneignung“ – aber man muss schon mehr als ein Auge zudrücken, um sich komplett auf alle Gags einzulassen. In so manchen Augenblicken ist The Producers einfach zwei, drei Schienen drüber. Kann man damit leben, dass es aufgrund der doch in die Jahre gekommenen Vorlage – in den letzten zwei Dekaden hat sich in dieser Hinsicht eben verdammt viel verändert – manchmal boomerig wird, erlebt man eine von vorne bis hinten perfekte Musicalproduktion. Dafür darf sich das Theater Hagen mehrfach auf die Schulter klopfen. Sollte es wirklich bei den acht angekündigten Aufführungen bleiben, bucht ihr euer Ticket besser noch heute.

Und so sieht das aus (Trailer aus der 2009-Inszenierung des Admiralspalastes Berlin):

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Die Fotorechte liegen bei Björn Hickmann/Theater Hagen

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