Fanfaren bereit machen, wir haben Großes zu verkünden: Der deutsche Vorentscheid zum ESC 2023 war ok. Schnappatmung, wo ist das Sauerstoffzelt? Es war nicht der cringeste Fernsehmoment des Jahres? How? Was ist passiert? Arbeiten beim NDR plötzlich wirklich Menschen, die sich für den Eurovision Song Contest interessieren? Werden auf einmal Lieder danach ausgewählt, Eurovision– statt radiotauglich zu sein?
Nicht alles davon trifft zu, aber zumindest einiges. Haben sich der NDR als ausführender Sender für den deutschen Eurovision-Beitrag und Das Erste in den letzten fast zehn Jahren so heruntergewirtschaftet, dass die einzige noch mögliche Unterbietung gewesen wäre, Barbara Schöneberger selbst zum ESC zu schicken, hat man die vernichtenden Kritiken über das Totaldebakel aus 2022 wohl zumindest gelesen. Nicht zwangsläufig komplett verstanden, aber immerhin gelesen. Zwar haben die Radiostationen – da wären wir wieder – Malik Harris und sein “Rockstars” dermaßen oft gespielt, dass es zwischenzeitlich sogar Platz 8 der Singlecharts sehen durfte, so war aber beim Eurovision in Turin – oh, wer hätte damit nur gerechnet – erneut der letzte Platz drin. Aber schließlich wählte man ja nach Radiotauglichkeit, passt also dann doch wieder. Beim Wettbewerb gewann hingegen Statement, nämlich die Ukraine. Die kann aus bekannten Gründen Europa nicht zu sich einladen, weswegen es im Mai nach Liverpool, also Großbritannien geht – die wurden mit Sam Ryder und “Space Man” nämlich Platz 2.
Dieses Jahr wählte man für die große nationale Freitagabendshow Unser Lied für Liverpool, die erstmalig erst um 22:20 Uhr begingen sollte, die acht vermeintlich besten Acts aus 600 Bewerber*innen aus und gab dem Publikum sogar schon beim Auswahlverfahren etwas in die Hand, nämlich die Entscheidung für eine Wildcard. Der neunte Act konnte aus sechs “Vielleicht wären die auch noch was”-Künstler*innen per TikTok-Abstimmung ausgewählt werden. Auch noch TikTok! Hat das überhaupt jemand in der Ü50-Redaktion vom NDR? Crazy. Und um es richtig crazy zu machen: Genau bei dem Verfahren gewinnt mit 52 Prozent der Votes nicht irgendein Hyperpop-Artist, zu dem man den nächsten viralen Tanz starten kann, sondern Party-Schlager von und mit Ikke Hüftgold und ein Song, der “Lied mit gutem Text” heißt. Sacken lassen.
Doch genug der Gehässigkeit. Irgendwann ist auch mal gut. Nein, Spaß, ist es natürlich nicht – aber in der fast 130 Minuten langen in Köln produzierten Show, die sich demnach bis weit nach Mitternacht zieht, gibt es wirklich so etwas wie Diversität in den Genres, Diversität in der Optik, leider trotzdem einen zu niedrigen Frauenanteil, eine endlich mal nicht völlig egozentrierte Barbara Schöneberger und akzeptable Unterhaltung. Absolutes Highlight, wenn man nach der Show googelt: Eine Seite, die über Unser Lied für Liverpool berichtet, wählt die Headline “Der beste Act hat tatsächlich gewonnen!”. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist tatsächlich erwähnenswert. Ja, das ist wahr. Die Nummer, die am besten performt wurde, darf nach England für uns. Man ist am Ende überrascht und wartet auf den Twist, dass doch wieder jemand kalte Füße bekommt, aber nein, bisher scheinen Lord of the Lost und ihr “Blood & Glitter” für den 13.5. gesetzt zu sein.
Hat man als ESC-Fan also schon Ende Januar durch das TikTok-Voting das Gefühl, etwas bewirken zu können, wird der Anteil final auf 50 Prozent reduziert. Eine Hälfte der Votes kommt von Fachjurys aus acht internationalen Eurovision-Ländern, die andere Hälfte von den Televotes live während der Show und von bis zum Abend gesammelte Votes bei Radiostationen. So kann man also für sich schauen, ob man lieber unvoreingenommen bei der TV-Sendung mitmachen mag oder sich vorab mit den Songs vertraut macht. Cool! Für Liebhaber*innen sind auch die Präsentator*innen der internationalen Jurypunkte ein Leckerchen – bis auf die Punkte aus den Niederlanden handelt es sich bei allen um ehemalige Teilnehmer*innen des Wettbewerbs. Darunter der Frontmann von der litauischen Band The Roop, Jamala als ehemalige Siegerin für die Ukraine oder Gjon’s Tears, der 2021 für die Schweiz den 3. Platz holte.
Krankheitsbedingt treten neben der Gewinnerband nur sieben statt acht weitere Künstler*innen an. Frida Gold muss kurz vorm Ernst den Auftritt canceln. Zwar hätte der Titel “Alle Frauen in mir sind müde” sowieso keine Chancen auf einen Sieg gehabt, hätte aber tatsächlich sogar noch eine weitere Farbe an Musik präsentiert. So gibt es aber mit dem Opener Trong asiatischen Pop mit viel Justin–Timberlake-Moves. Das ist in Deutschland natürlich längst nicht mehr gefragt, allerdings ist der 30-jährige mit vietnamesischen Wurzeln durch seine Teilnahme bei “Vietnam Idol” dort ein absoluter Megastar. Die Bühnenerfahrung fällt bei seinem “Dare To Be Different” sofort auf, er kommt auch echt sympathisch rüber, hat nur eben den Weg in die falsche Veranstaltung gewählt. Am Ende reicht’s für Platz 4. René Miller ist einer der Co-Autor*innen von Zoe Wees´ Überhit “Control” – bei dieser Stärke sollte er bleiben. Zwar ist sein “Concrete Heart” in der Studioversion gut produziert, live wirkt das aber überfordert, tonal nicht richtig sauber, angestrengt und so, wie die letzten deutschen Acts beim Eurovision. Komisch eigentlich, dass er somit den Vorentscheid nicht gewonnen hat. Ach sorry, wir wollten ja damit aufhören.
Doch nicht nur er liefert unschöne Töne, die einfach bei der oftmals sehr starken Konkurrenz im internationalen Vergleich komplett sitzen müssen. Patty Gurdy hat den wahrscheinlich eingängigsten und launigsten Song des Abends, ballert aber mit ihrem “Melodies of Hope” fast nur Noten ins Mikro, bei denen man kurz zusammenzuckt. Echt schade. Letzter Platz. Lonely Spring und ihr “Misfit” sind Pop-Punk, den man Anfang der 2000er gefeiert hat, wenn man gerade pubertiert. Anica Russo versteht zwar, dass Drama beim Eurovision meist ganz gut klappt, hat jedoch in der Komposition die Melodie vergessen. Und dann wär da noch der Jury-Voting-Liebling Will Church, der nach dem ersten Abstimmungsverfahren gar die Pole für sich beansprucht. Der ist dieser typische, ordentlich talentierte Straßenmusiker, der nicht nur optisch, sondern auch in seiner Gesangsakrobatik kurz an Sam Ryder erinnern mag, aber mit “Hold On” einfach nicht gut unterhält. Und das strafen Zuschauer*innen immer ab.
Denn irgendwo ist Eurovision und somit auch Unser Lied für Liverpool schlichtweg Entertainment. Man möchte Bock haben, die Show zu sehen, braucht optische wie akustische Reize. Die Bedürfnisse sind eben andere, als wenn man mit Kopfhörern im Bett liegt. Deswegen zieht sich der bereits durchs Publikum reingevotete Ikke Hüftgold von dem letzten Platz bei den Jurys auf den zweiten Platz am Ende. Erwartbar holt er sehr viele Votes von den Zuschauer*innen für sich ab und teilt sich nach Endstand mit Will Church die Silbermedaille.
Auf die ehemalige EU-Insel fliegen dennoch die Gothic-Rocker von Lord of the Lost, die im letzten Jahr im Vorprogramm für Iron Maiden auftreten durften. Ok, wie passt das zum Eurovision? Sehr gut passt das. Schaut man einige Jahre zurück, gab es 2006 für Lordi aus Finnland, die mit Monstermasken und dem schlagerigsten Rocksong auftraten, den man aus den E-Gitarren zupfen kann, den ersten und bis dato einzigen Gewinn für das skandinavische Land. Erst kürzlich konnten Måneskin 2021 mit handgemachtem Classic-Rock den Sieg einfahren. Man kann somit Deutschland nun vorwerfen, sie würden es sich leicht machen und einfach das schicken, was schon mal funktionierte. Dazu aber zwei Gegenargumente: Erstens hat quasi jeder Stil in den 66 Runden Eurovision schon mal gewonnen, alles ist also von irgendetwas inspiriert. Etwas komplett Neues zu finden, ist schon eine größere Herausforderung. Und Zweitens hat eben einfach mal das beste Lied von einer erfahrenen Band gewonnen, die schon auf vielen großen Bühnen gespielt hat, die das Ding solide präsentieren, eine ohrwurmartige Hook bieten, was nie schadet und auch optisch auffallen. Das ist nicht wahnsinnig edgy, nicht wagemutig und atemberaubend krass gut, aber eine Sieben von Zehn ist schon sehr, sehr viel mehr als Deutschland sonst drauf hat. Also Kirche im Dorf lassen.
Auf der Talkcouch hat Barbara Schöneberger mit Ilse DeLange, Florian Silbereisen und Riccardo Simonetti drei völlig okaye Gesprächspartner*innen. Besonders Silbereisen macht sich gut im Kontext und wertschätzt wie im letzten Jahr beim gescheiterten “DSDS”-Versuch Musik außerhalb seiner Bubble. Auch sehr herzerwärmend: Ein kurzes Gespräch mit der im Publikum sitzenden Katja Ebstein. Als Pausenfüller darf DeLange im Duett mit the one and awfully The BossHoss ran, besser hingegen ist das obligatorische Eurovision-Medley während der Stimmenzählung, das von Schöneberger, Silbereisen und sämtlichen Teilnehmer*innen leider im Vollplaypack vorgetragen wird, aber immerhin nicht super detailliert vorbereitet, sondern mehr lockig-spaßig daherkommt.
Im Vergleich zu wirklich geilen großen TV-Shows aus Deutschland ist Unser Lied für Liverpool zwar immer noch ein kleines Licht und über andere Vorentscheide mag man erst gar nicht anfangen zu reden – aber die Richtung stimmt. Eurovision hat zum Glück immer noch etwas Relevanz in good ol’Germany und mit Lord of the Lost hat man endlich mal wieder richtig gute Chancen auf eine Platzierung in der linken Tabellenhälfte. Probs gibt das für die Verantwortlichen trotzdem nicht. Dafür müsst ihr einfach viel zu viel wieder gutmachen, ernsthaft!
Der Punkteentstand im Überblick:
1. Lord of the Lost, „Blood & Glitter“ (189 Punkte; 43 Jury-Voting + 146 Zuschauer*innen-Voting)
2. Will Church, „Hold On“ (111 Punkte; 90 Jury-Voting + 21 Zuschauer*innen-Voting)
2. Ikke Hüftgold, „Lied mit gutem Text“ (111 Punkte; 10 Jury-Voting + 101 Zuschauer*innen-Voting)
4. Trong, „Dare To Be Different“ (71 Punkte; 52 Jury-Voting + 19 Zuschauer*innen-Voting)
5. Lonely Spring, „Misfit“ (70 Punkte; 40 Jury-Voting + 30 Zuschauer*innen-Voting)
6. Anica Russo, „Once Upon a Dream“ (65 Punkte; 57 Jury-Voting + 8 Zuschauer*innen-Voting)
7. René Miller, „Concrete Heart“ (62 Punkte; 54 Jury-Voting + 8 Zuschauer*innen-Voting)
8. Patty Gurdy, „Melodies of Hope“ (56 Punkte; 22 Jury-Voting + 34 Zuschauer*innen-Voting)
Und so hört sich der Gewinnersong an:
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