Germany 12 Points – Der deutsche Eurovision Song Contest-Vorentscheid 2022

Gedankenspiel: Du nimmst an einer Castingshow teil und hoffst, natürlich zu gewinnen. Allerdings haben quasi sämtliche Zuschauer*innen schon einen Hals auf dich, bevor die Show überhaupt angefangen hat. Schuld bist aber nicht du, sondern die Produzent*innen. Klingt merkwürdig, ist aber exakt so gelaufen. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Runde „Schämen mit dem NDR“, besser bekannt als Der deutsche Eurovision Song Contest-Vorentscheid, dieses Jahr unter dem fast schon zynisch anmutenden Namen Germany 12 Points.

Doch vielleicht vorab ein wenig Hintergrundwissen: Denkt man darüber nach, wie Deutschland nach dem glorreichen Sieg von Lena beim ESC abgeschnitten hat, fallen eine*r eigentlich nur Blamagen ein. Gefühlt permanent der letzte oder mit etwas Glück der vorletzte Platz im internationalen Finale des größten Musikwettbewerbs der Welt. Und auch faktisch ist es so, dass die großen Erfolge alle in Kooperation mit Stefan Raab passierten und damit zuletzt vor einer Dekade. Einzige Ausnahme: Ein überraschender vierter Platz von Michael Schulte im Jahr 2019 mit „You Let Me Walk Alone“. Aber eine Ausnahme bleibt eben eine Ausnahme und keine Regel.

Vor einigen Jahren wollte der NDR, der hauptverantwortlich für den deutschen Beitrag beim ESC ist, Xavier Naidoo als intern ausgewählten Künstler schicken. Damit ist auch alles gesagt, oder? Dank Boykotts konnte dies noch rechtzeitig verhindert werden. In einem anderen Jahrgang gewann Andreas Kümmert den Vorentscheid im TV, zog nach der Urteilsverkündung zurück und übergab seinen Sieg der Zweitplatzierten. Wieder ein Bauchklatscher für die Show. 2019, als das vorerst letzte Mal über das Fernsehen ein deutscher Vorentscheid lief, gewann kurioserweise nicht die absolut eindeutige Fanfavoriten mit einem typischen ESC-Banger die Show, sondern ein Duo, das intern von dem NDR gecastet wurde. Zufall?

Doch das ist bei Weitem kein Vergleich zu dem Debakel, das dieses Jahr vorab herrschte. Wie bereits länger üblich konnten sich über einen gewissen Zeitraum bekannte und unbekannte Künstler*innen bewerben, um am Eurovision teilzunehmen. Fast 1000 Vorschläge wurden eingereicht. Der NDR wählte die in seinen Augen sechs besten Songs und Sänger*innen – und erlangte den Shitstorm des Lebens. Es war nämlich weitläufig in der ESC-Community in aller Munde, dass mit der aus dem Ruhrgebiet stammenden Rockband Eskimo Callboy auch eine bereits international gefeierte Band mitmischte – die aber seltsamerweise nicht unter die Top 6 kamen. Man argumentierte, es hätte nicht gepasst, man hätte aber dennoch auf Diversität und Radiotauglichkeit geachtet.

Radiotauglichkeit is the word. Wie oft hört ihr ESC-Songs im Radio? Egal, ob die für Deutschland antretenden Titel oder auch die großen Gewinner*innen? Ah. Eben. Somit ist nach Radiotauglichkeit auszuwählen schon der schlechteste Ansatz überhaupt. Eskimo Callboy hätten mit „Pump It“ gerockt und wären aufgefallen. Auffälligkeit ist bekanntlich bei einem Wettbewerb, in dem man in drei Minuten überzeugen muss, weitaus mehr wert. Aber nein. Man blieb trotz einer Petition, die über 100.000 (!) Menschen unterschrieben und einer unglaublichen Welle von kritischen und gut argumentierten Kommentaren – sowohl von Eskimo Callboy– als auch von alteingesessenen ESC-Fans – hart und trotzig und löschte irgendwann sogar Kommentare auf den Social Medias.

Alles schön und gut, wenn der Output am Ende dann qualitativ abliefert. Womit wir nun endlich auch bei der Show, die am Freitagabend, dem 4.3. um 21 Uhr auf Das Erste und seinen Partnersendern lief, angekommen wären. Es klingt übertrieben und dramatisch, aber selten war eine deutsche Fernsehshow so schlecht. Wirklich schlecht. Nicht nicht gut, sondern schlecht.

Schon das Opening durch die völlig abgenutzte Barbara Schöneberger, die zum wiederholten Male Songs mit vermeintlichem Humor covert, in denen sich gewünscht wird, endlich wieder beim ESC zu glänzen, wirkt wie eine Klatsche ins Gesicht – denn Eskimo Callboy war dem NDR zu bad-ass, aber Måneskin, die Rockheld*innen, die 2021 den ESC gewannen, in einem Duett mit Bülent Ceylan (!!) zu covern – das geht natürlich klar.

Eigentlich war das schon die klare Ansage, die Sendung vorzeitig auszuschalten. Stattdessen folgten 110 Minuten lang Pannen, Kommentare von Gäst*innen, die nicht mal die Namen der Acts richtig kennen, Playback-Auftritte als Pausenfüller und vor allen Dingen sechs Songs, wovon kein einziger wirklich ernstes Hitpotenzial besitzt, aber vorgegaukelt wird, es wären die sechs besten von 1000. Das muss man echt mal sacken lassen.

Um etwas Positives zu sagen: Die Zuschauer*innen und ESC-Fans hatten ausreichend Bestimmungsrecht, nämlich quasi das komplette. Vorab konnte man über neun große Radiostationen abstimmen, wen man schicken möchte. Dieses Abstimmverfahren machte 50% des Endergebnisses aus. Die restlichen 50% kamen dann live während der Show, waren also nochmal von den Auftritten abhängig. Das ist sehr löblich und zeigte sich auch im Ergebnis.

Emily Roberts, Felicia Lu, Maël & Jonas, Nico Suave & Team Liebe, Eros Atomus. Das sind die Namen der Menschen, die die Plätze 2 bis 6 am Ende der Show belegen sollten. Was sie auf der Bühne gezeigt hatten, spielt fast schon keine Rolle.

Die eine präsentiert musikalisch wie besonders stimmlich eine nahezu 1:1-Kopie von Lena, die mit Deutschland eben schon mal gewonnen hat – was soll da also noch folgen? Der eine singt „Alive“ und klingt wie das Gegenteil. Eine Viererkombo präsentiert einen unglaublich fremdschämigen Song auf Deutsch, der vermitteln mag, dass wir uns alle mehr lieb haben müssen. Ganz zufällig wird nach dem ausgebrochenen Krieg in der Ukraine der Text noch ein wenig mehr an die aktuelle politische Lage angepasst. Nützt alles nichts, wenn man performt und transportiert wie eine Schulklasse, die im Musikunterricht die Aufgabe hatte, mal einen Song zu komponieren. Wiederum eine andere darf zwar einen ganz netten, selbstgeschriebenen Radiopop-Song (ja, klingt wirklich endlich mal radiofähig) singen, trifft aber unzählige Töne nicht und vergisst einfach mal die Lyrics ihrer zweiten Strophe komplett. Wow.

Lediglich die Underdogs Maël & Jonas bieten mit „I Swear To God“ eine ganz akzeptable Pop-Rock-Nummer, die nach vorne geht und sich mit einigen Durchläufen zumindest ein Stück weit festbeißen könnte. Obendrauf wirken die Zwei herrlich uncool und nerdy, was für einen deutschen Act mal erfrischend ehrlich wäre. Leider reicht aber auch das für die breite Nation nicht ganz zum Sieg, auch wenn die Beiden laut Radiostationen den Gewinn hätten einfahren müssen.

Das gemischte Verfahren führt jedoch dazu, dass Platz 2 der Radiohörer*innen am Ende nach Turin fahren darf, um dort am 14.5. für Deutschland anzutreten. Malik Harris ist einer dieser Künstler*innen, wie sie heute eigentlich alle sind. Ein wenig Loop-Station, ein wenig Akustikgitarre, ein melancholischer Text, Understatement in den Klamotten, ein Arm-Ring-Tattoo. Das ist so individuell und spannend, wie es klingt. „Rockstars“ ist keine schlechte Komposition, Malik Harris auch bestimmt kein schlechter Artist, aber beides ist so durchschnittlich, wie Durchschnitt eben sein kann. Prognose: Wir sehen auch dieses Jahr eine 2 bei dem finalen Platz für Deutschland, dahinter jedoch noch eine zweite Ziffer.

Doch dann, als eigentlich wirklich jeglicher Optimismus und jegliche Hoffnung im Keim erstickt wurde, kommt kurz vor der Ergebnisverkündung für knapp fünf Minuten eine Atmosphäre auf, die wirkt wie ein Versehen. Jamala, Gewinnerin des ESC 2016, singt ihren Song von vor sechs Jahren. Typisches Pausenprogramm, oder?

Weiß man jedoch, dass die Sängerin 2016 für die Ukraine gewonnen hat, vor wenigen Tagen erst geflohen ist und dazu ihr Gewinnersong „1944“ von der Kriegssituation auf der Krim aus dem genannten Jahr handelt, in dem auch ihre Großeltern unfreiwillig integriert waren, trifft allein das schon wie ein Faustschlag ins Gesicht. Bekommt man dann die Bilder gezeigt, in denen Jamala erzählt, dass sie mit ihren zwei kleinen Kindern im Auto geflohen ist und ihren Mann in der Ukraine zurücklassen musste, entsteht ein dicker Kloß im Hals. Sieht man sie dann noch mit einer Flagge auf der Bühne stehen und hört, wie sie noch emotionaler singt als bei ihrem Sieg, dabei fast weint und aus tiefstem Herzen schreit, ist das Gänsehaut und Beklemmung zugleich. Jamala besang 2016 die Vergangenheit und gleichzeitig unwissentlich die Zukunft.

Wenn ein eigentlicher Filler nicht nur das Highlight der Show, sondern der einzige positive Aspekt in 110 Minuten Länge ist, kann man von einer fürchterlichen und katastrophal gelaufenen Produktion sprechen. Wollte man gerade abschalten, wenn man „Rockstars“ von Malik Harris nicht zwangsläufig noch ein zweites Mal brauchte, kam jedoch der Moment, der die gesamte Show zusammenfasste: Barbara Schöneberger möchte, dass Malik nochmal singt. Dem passt sein Sieg und sein erneuter Auftritt zeitlich aber gar nicht gut, weil er eigentlich pinkeln müsse. Im Hintergrund wird sein Set aufgebaut und von einem Mitglied der Crew sieht man das Bauarbeiter-Dekolleté. Was ein geil surrealer Augenblick. In diesem Sinne: Germany 12 Ponts, Hut ab, dass ihr euch permanent immer noch selbst unterbieten könnt.

Der Punkteentstand im Überblick:
1. Malik Harris, „Rockstars“ (208 Punkte; 90 Online-Voting + 118 Zuschauer*innen-Voting)
2. Maël & Jonas, „I Swear To God“ (185 Punkte; 106 Online-Voting + 79 Zuschauer*innen-Voting)
3. Nico Suave & Team Liebe, „Hallo Welt“ (157 Punkte; 63 Online-Voting + 94 Zuschauer*innen-Voting)
4. Felicia Lu, „Anxiety“ (139 Punkte; 74 Online-Voting + 65 Zuschauer*innen-Voting)
5. Eros Atomus, „Alive“ (123 Punkte; 53 Online-Voting + 70 Zuschauer*innen-Voting)
6. Emily Roberts, „Soap“ (53 Punkte; 46 Online-Voting + 7 Zuschauer*innen-Voting)

Und so klingt der Gewinnersong:

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2 Kommentare zu „Germany 12 Points – Der deutsche Eurovision Song Contest-Vorentscheid 2022“

  1. Vielen Dank für die sehr treffende Zusammenfassung des gestrigen Debakels in der ARD. Als jahrzehntelanger Fan des ESC hätte ich nicht gedacht, dass das Niveau im deutschen Vorentscheid noch weiter sinken könnte. Deutschland, bzw. die ARD, versteht den ESC einfach nicht. Während der internationale ESC in den letzten Jahren immer moderner, unberechenbaren und vielfältiger geworden ist, will oder kann der NDR die Begeisterung für dieser größten Musikshow der Welt im eigenen Land nicht entfachen.

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