Eurovision Song Contest 2022, Das Finale: Ergebnisse, Meinungen & Ausblicke

Cover des ESC-Samplers.

Solidarität hat gesiegt – oder einfach der beliebteste Song? So oder so hat die Ukraine und ihre 2019 gegründete Formation Kalush Orchestra mit dem Song „Stefania“ in der italienischen Stadt Turin beim 66. Eurovision Song Contest den Pokal für ihr Land geholt. Entscheidend dafür war erneut – wie bereits mehrfach seit der Einführung der getrennten Punktevergabe zwischen nationalen Jurys und Zuschauer*innen-Voting – das große Publikum vor den Bildschirmen. Das sagten wir vor einigen Wochen auch in unserem Vorchecking voraus.

Obwohl die Ukraine erst seit 2003 am Wettbewerb teilnimmt, ist dies nach 2004 und 2016 bereits der dritte Sieg. 2005 und 2017 fand die Show in Kiew statt. Aktuell ist geplant, dass die Ukraine nächstes Jahr als Austragungsort fungiert. Ob die politische Lage dies zulässt, wird sich jedoch erst in einigen Monaten herausstellen. Für gewöhnlich wird im Spätherbst die Stadt und auch das Datum bekanntgegeben. Sollte die Ukraine nicht austragen können, wäre dies eine Besonderheit: Das letzte Mal hat 1980 der ESC in einem Land stattgefunden, das im Vorjahr nicht gewonnen hatte.

Deutschland hat zwar denselben Platz belegt wie bereits 2021 und 2019, allerdings entspricht Platz 25 in diesem Jahr gleichzeitig dem letzten Platz. Da Italien zu den „Big Five“ – also den größten Geldgeberländern – gehört, ist eine Finalteilnahme automatisch gesetzt. Deswegen waren nur die 20 Länder im Finale zu sehen, die sich in den beiden Semifinal-Runden am Dienstag und Donnerstag qualifiziert haben plus Deutschland, Spanien, Frankreich, Großbritannien und Italien. Der deutsche Teilnehmer Malik Harris und sein Song „Rockstars“ wurden Anfang März im deutschen Vorentscheid ausgewählt. Er erreichte final sechs Punkte.

Alle Platzierungen und Punktzahlen im Überblick:
1. Ukraine: „Stefania“, Kalush Orchestra (192 Jury-Punkte, 439 Zuschauer*innen-Punkte, 631 gesamt)
2. Großbritannien: „Space Man“, Sam Ryder (283 Jury, 183 Zuschauer*innen, 466 gesamt)
3. Spanien: „SloMo“, Chanel (231 Jury, 228 Zuschauer*innen, 459 gesamt)
4. Schweden: „Hold Me Closer“, Cornelia Jakobs (258 Jury, 180 Zuschauer*innen, 438 gesamt)
5. Serbien: „In corpore sano“, Konstrakta (87 Jury, 225 Zuschauer*innen, 312 gesamt)
6. Italien: „Brividi“, Mahmood & Blanco (158 Jury, 110 Zuschauer*innen, 268 gesamt)
7. Moldau: „Trenulețul“, Zdob și Zdub & Advahov Brothers (14 Jury, 239 Zuschauer*innen, 253 gesamt)
8. Griechenland: „Die Together“, Amanda Georgiadi Tenfjord (158 Jury, 57 Zuschauer*innen, 215 gesamt)
9. Portugal: „Saudade, saudade“, MARO (171 Jury, 36 Zuschauer*innen, 207 gesamt)
10. Norwegen: „Give That Wolf a Banana“, Subwoolfer (36 Jury, 146 Zuschauer*innen, 182 gesamt)
11. Niederlande: „De diepte“, S10 (129 Jury, 42 Zuschauer*innen, 171 gesamt)
12. Polen: „River“, Ochman (46 Jury, 105 Zuschauer*innen, 151 gesamt)
13. Estland: „Hope“, Stefan (43 Jury, 98 Zuschauer*innen, 141 gesamt)
14. Litauen: „Sentimentai“, Monika Liu (35 Jury, 93 Zuschauer*innen, 128 gesamt)
15. Australien: „Not the Same“, Sheldon Riley (123 Jury, 2 Zuschauer*innen, 125 gesamt)
16. Aserbaidschan: „Fade to Black“, Nadir Rustamli (103 Jury, 3 Zuschauer*innen, 106 gesamt)
17. Schweiz: „Boys Do Cry“, Marius Bear (78 Jury, 0 Zuschauer*innen, 78 gesamt)
18. Rumänien: „Llámame“, WRS (12 Jury, 53 Zuschauer*innen, 65 gesamt)
19. Belgien: „Miss You“, Jérémie Makiese (59 Jury, 5 Zuschauer*innen, 64 gesamt)
20. Armenien: „Snap“, Rosa Linn (40 Jury, 21 Zuschauer*innen, 61 gesamt)
21. Finnland: „Jezebel“, The Rasmus (12 Jury, 26 Zuschauer*innen, 38 gesamt)
22. Tschechien: „Lights Off“, We Are Domi (33 Jury, 5 Zuschauer*innen, 38 gesamt)
23. Island: „Með hækkandi sól“, Systur (10 Jury, 10 Zuschauer*innen, 20 gesamt)
24. Frankreich: „Fulenn“, Alvan & Ahez (9 Jury, 8 Zuschauer*innen, 17 gesamt)
25. Deutschland: „Rockstars“, Malik Harris (0 Jury, 6 Zuschauer*innen, 6 gesamt)

NACHLESE ZUR SHOW:

Es ist eigentlich nicht mehr von der Hand zu weisen: Der Eurovision Song Contest hat Relevanz. Sogar mehr, als viele zugeben wollen. Oft galt die Show als Trash, musikalisch überhaupt nicht von Bedeutung, dramatisch und überkandidelt. Fakt ist jedoch: Seit gut einem Jahrzehnt erlebt der größte Musikwettbewerb der Welt eine Art Renaissance. Das Publikum vor den Bildschirmen hat sich erheblich verjüngert und schaut gebannt zu. Einige Songs – zum Beispiel „Euphoria“ von Loreen (2012) oder „Calm After The Storm“ von The Common Linnets (2014) – wurden zu internationalen Hits und laufen zum Teil noch heute im Radio.

Doch damit nicht genug, denn die Gewinnerband aus dem Vorjahr namens Måneskin ist der erfolgreichste Eurovision-Act seit ABBA, und damit seit fast 50 Jahren. Sie führten zwischenzeitlich die Spotify-Weltcharts an und verkaufen auf mehreren Kontinenten Konzerte aus. Zusätzlich zählten sie auf dem womöglich populärsten Musikfestival der Welt, dem Coachella in Kalifornien, zum Lineup. Ihr Auftritt im Eurovision-Finale 2022, der während der Abstimmphase geschieht, zeigt erneut die unglaubliche Coolness der Bandmember, den unverkennbaren Sound und dass moderne Charaktere einfach zu faszinieren wissen.

Übrigens: Amerika probierte es in den letzten Wochen erstmalig mit einem „American Song Contest“. Das Interesse war nach dem übergroßen Erfolg des Netflix-Films „Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“ entstanden. Vergangenen Montag gewann der Bundesstaat Oklahoma die erste Ausgabe mit dem Song „Wonderland“ von AleXa. Nichts von mitbekommen? Wie viele schlechte Kopien von kultigen Dingen kennt ihr, die funktionierten? That’s why.

Eurovision: Zeitgeist & Showkunst

Statistiken lügen nicht und sind somit auch keine Meinung. Die Motivation, bei einem Wettbewerb zu gewinnen, den im letzten Jahr 183 Millionen Menschen weltweit sahen, ist groß. Zumindest in einigen Ländern. Sollte es so auch nicht sein? Wenn man bei einem Turnier mitmacht, möchte man nicht dann auch gewinnen? Der Eurovision Song Contest bildet gegenwärtige Musiktrends ab, zeigt nationale Strömungen und gleichzeitig hochaufwändige Performances, die in drei Minuten alles abfeuern, was nur geht. Das ist einerseits einzigartig in seiner Form, andererseits aber auch stets am Puls der Zeit und äußerst dynamisch.

Was letztes Jahr funktionierte, kann dieses Jahr floppen und umgekehrt. Kam mit Måneskin der Rock’n’Roll zurück, haben in der 2022-Saison gleich mehrere Rock-Nummern nicht mal das Semifinale überstanden. Lediglich die international bekannte Band The Rasmus aus Finnland durfte am Samstag im großen Finale erneut ran und landete mit ihrem Gitarren-lastigen Pop-Rocker „Jezebel“ auf Platz 21 von 25. Ja, Eurovision ist unberechenbar. Das macht die Show sehenswert.

Turin

Zum dritten Mal durfte das Event in Italien ausgetragen werden. 1965 gab es die Show erstmalig in Neapel, 26 Jahre später in Rom und nun über drei Dekaden danach in Turin. Die Pala Alpitour zeigte sich als äußerst schicke und hervorragend gewählte Mehrzweckhalle, in der viele Showelemente stimmig zur Geltung kommen sollten. Auch das Moderator*innen-Trio, bestehend aus Laura Pausini, Alessandro Cattelan und Mika führte charmant und vor allen Dingen musikalisch durchs Programm. Durfte das Sprachtalent Mika im Finale ein Medley aus seinen größten Hits performen, erzeugte besonders eine kleine A-cappella-Einlage von Laura Pausini eine intensive Gänsehaut. Sie sang mit dem Publikum „Nel blu dipinto di blu“, besser bekannt als „Volare“, womit Domenico Modugno 1958 für Italien beim ESC zwar nur den dritten Platz holte, es dafür aber bis heute zu den Weltklassikern zählt.

Das diesjährige Motto „The Sound of Beauty“ soll unterstreichen, wie emotional wichtig Musik sein kann – gleichzeitig aber auch, dass es keinen bestimmten Sound gibt, der allgemeingültig als „schön“ gewertet wird. Dieses Facettenreichtum spiegelte sich auch in den 25 Beiträgen wider, die sich aus den 20 zuvor in den Semifinals qualifizierten Songs und den fünf Titeln der „Big Five“ zusammensetzten, darunter auch das Austragungsland Italien.

Was zündet und was nicht?

Wäre der Eurovision Song Contest eine Formel, würde es über ihn nicht so viele Bücher geben und er würde nicht auch in der 66. Runde noch ziehen. Was jedoch klar ist: Ein nicht unerheblicher Teil des Publikums sieht viele der Songs zum ersten Mal an jenem Samstagabend vor dem Fernsehen. Heißt, jedes Land hat genau drei Minuten, um zu überzeugen, zuzüglich ein paar Sekunden in diversen Schnelldurchläufen. Überzeugen kann man durch mehrere Faktoren. Starken Gesang, melodische Hooks, prägnante Artists, fesselnde Performances.

Positivbeispiele aus 2022: Serbien und Moldau. Die beiden Performances, die den meisten Edge mitbringen. Die eine wäscht sich die Hände und zeigt Musiktheater, die anderen feiern eine Wiedergeburt des „Cotton Eye Joe“ und spacken in Trachten und mit Folklore-Elementen richtig ab. Das löst auf der einen Seite Fremdscham aus, macht Leute fassungslos, aber ganz wichtig: Es löst etwas aus. Es erweckt Emotionen. Und dafür wollen Leute abstimmen. Auch wenn Moldau laut Jurys nur Platz 20 verdiente, gab es am Ende die 7 – einfach, weil die zweitmeisten Stimmen vom Publikum für diese Performance eingingen. Serbien sprang ebenfalls von Platz 11 auf eine finale 5.

Anderes Extrem: Die Jurys sehen Australien mit seiner sehr dramatischen Coming-Of-Age-Ballade „Not The Same“ auf Rang 9 – zuhause stresst die überzogene Gestik nur. Lediglich zwei Punkte kommen dazu. Das reicht am Ende der Auswertung nur noch für Platz 15. Ähnliches Spiel: Die Schweiz gönnt sich gleich null Punkte bei den Zuschauer*innen. Wer will auch schon eine weihnachtliche Jazz-Nummer im Mai?

Deutschland, eine Mai-Horrormär

Wie würdet ihr euch verhalten, wenn ihr für Deutschland passende Acts auswählen müsstet, die dann im nationalen Vorentscheid zur Auswahl stehen? Mit Sicherheit würdet ihr mehrere Shows der vergangenen Jahre auswerten, aus den Ergebnissen der Vorjahre lernen, euch wichtige Kriterien notieren. Wisst ihr, wer das nicht tut? Diejenige, die dafür zuständig sind!

Ein erneuter letzter Platz beim ESC verärgert zurecht. Seitdem Stefan Raab – der sich immerhin für mehrere sehr erfolgreiche Beiträge verantwortlich zeigte, darunter gar einen Sieg – sich aus dem Showbusiness zurückzog, ist Kopfschütteln die einzige logische Reaktion. Seit 2013 gab es drei letzte Plätze, drei vorletzte, einmal Platz 21 und einmal Platz 18 von 26, gleichzeitig jedoch auch einen vierten Platz mit Michael Schulte im Jahr 2018.

Damit ist das Argument, Europa würde uns hassen, widerlegt. Großbritannien fluchte ebenfalls oft äußerst laut. Die haben in den letzten 20 Jahren ebenfalls fünf Mal das Schlusslicht gebildet, genau zweimal Top-Ten-Luft geschnuppert, zuletzt 1997 gewonnen – und nun den zweiten Platz gemacht. Wie passiert das plötzlich? Indem man den besten Sänger des Abends schickt! So einfach, so logisch. Zwar war Sam Ryders „Space Man“ nicht der beste Track, aber dennoch wurde seine sympathische Art und sein überragend vorgetragener Song belohnt, nämlich mit einem zweiten Platz.

Spanien dasselbe. Auch bei denen listen sich in den letzten 20 Jahren gleich zwölf zweistellige Ergebnisse mit einer Zwei vorne auf. Mit dem perfekt inszenierten, lasziven und einfach sehr modern produzierten „SloMo“ gab es dieses Mal Bronze. Der beste Platz seit 1995.

Also Deutschland, hört auf mit diesem hohlen Gelaber, man würde uns nicht mögen! Man hasst uns nicht. Sowohl Zuschauer*innen als auch Jurys schmeißen uns Punkte zu, wenn wir sie verdienen. Egal, ob für emotional treffenden Gesang von Michael Schulte oder für eine individuelle, quirlige, erfrischende Lena, bei der das Paket stimmt. Gibt uns der NDR jedoch nach seiner Vorauswahl weder spannende Menschen noch spannende Songs noch spannende Performances, passiert das, was passieren muss. Immer und immer wieder. Übrigens auch nächstes Jahr, wenn sich nichts ändern wird.

Malik Harris kann einem ein Stück weit leid tun. Der hat nämlich seine Arbeit als Rapper und Sänger in seinem R’n’B-Pop „Rockstars“ solide erledigt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er von kaum jemandem als der schlechteste Beitrag bewertet, aber eben auch von niemandem als einer der zehn besten. Ist man nicht in der Top 10 des jeweiligen Landes, heißt das null Punkte. So funktioniert das Spiel, und das schon ewig. Warum verstehen das so viele, nur nicht die Verantwortlichen? NDR und alle Beteiligten, der letzte Platz ist eure Schuld! Wer ausnahmslos nur mittelprächtige, radiotaugliche Ware – so nennt es der Sender selbst – zur Auswahl stellt, hat das Konzept „Eurovision Song Contest“ in der Basis nicht verstanden. Dennoch ein Detail, das viele übersehen: Bei den Zuschauer*innen schnitt Deutschland besser ab als Tschechien, Belgien, Aserbaidschan, Australien und die Schweiz. Die bekamen alle noch weniger Anrufe.

Ist der Sieg der Ukraine politisch?

Wo wir doch gerade bei generellen Dingen wären: Ja, der Eurovision ist politisch. Und das schon immer. Der Zweck des Wettbewerbs war es, die Länder Europas Mitte der Fünfziger, und damit ein Jahrzehnt nach dem zweiten Weltkrieg, näher zusammenzubringen. Das ist eine politische Motivation. Zwar sind politische Zeichen seitens der Künstler*innen auf der Bühne verboten, aber dennoch dürfen Songs mit politischen Aussagen und Themen aufgeführt und selbstverständlich diese auch zum Sieg gebracht werden.

Beispiele dafür: Nicole gewann für Deutschland mit „Ein bisschen Frieden“ – feiert dieses Jahr übrigens 40-jähriges Jubiläum, was ein bittersüßer Geburtstag – 1982, während sich der Falklandkrieg zwischen Großbritannien und Argentinien abzeichnet. 1990 drehen sich mehrere Titel aus unterschiedlichen Ländern thematisch um den Fall der Mauer. 1998 gewinnt Dana International für Israel als erste öffentlich auftretende Transfrau im Wettbewerb. 16 Jahre später gewinnt Conchita Wurst als Drag-Queen für Österreich und wird abermals eine Gallionsfigur für die LGBTQ*-Community. 2016 gewinnt Jamala mit „1944“ für die Ukraine, das von ihren Urgroßeltern handelt, die als Krimtataren durch das Stalin-Regmine am Schwarzen Meer deponiert wurden.

Das ist alles politisch. Nahezu generell alle Handlungen im Leben, die Konsequenzen mit sich bringen können, sind irgendwo auch ein Stück weit politisch. Und somit auch der Sieg der Ukraine in diesem Jahr. Das ist keine Neuerung und ja, auch keine Überraschung. Das Kalush Orchestra gewinnt mit 631 Punkten, was fast 170 Punkte Abstand zu Großbritannien bedeutet. Ihr Song „Stefania“ berichtet inhaltlich von der Liebe zur Mutter, geschrieben von Frontmann Oleh Psiuk. Ganz unabhängig von dem Sieg war der Titel für viele eines der musikalischen Highlights. Schon im letzten Jahr konnte die Ukraine mit ihrer eigenwilligen Rave-Kombo Go_A und dem Song „SCHUM“ auf Landessprache einen fünften Platz ergattern. Danach hieß es, man solle viel mehr auf Landessprache performen.

Funktioniert nämlich gut. Auch in diesem Jahr sind gleich vier der Top 5 auf Landessprache gesungen. Das Kalush Orchestra zählte schon nach der Veröffentlichung seines Liedes Anfang Februar direkt zu den großen Lieblingen und war auf Anhieb ein Favorit bei den Expert*innen. Nur wenige Wochen danach bricht Krieg in der Ukraine aus – das ist der erste Krieg zwischen zwei Ländern, die regulär beim Eurovision teilnehmen, seitdem es den Wettbewerb gibt. Wie kann man so ein Ereignis ignorieren?

Die Antwort: Gar nicht. Zum Glück. 468 Punkte hätte die Ukraine maximal von den Zuschauer*innen im Televoting bekommen können. Am Ende waren es 439. Das ist absoluter Rekord. 2017 erreichte Salvador Sobral 376 Punkte für Portugal vom Publikum, was bis gestern noch unangefochten war. Allerdings konnte man 2017 auch maximal 492 Punkte erreichen. Bei den Gesamtpunkten liegt Sobral jedoch mit 758 Punkten weiterhin vorne. Besonders schön ist die Schere zwischen Jury und Zuschauer*innen: Die Jurys sahen die Ukraine beim diesjährigen Finale auf Platz 4. Die Zuschauer*innen wählten jedoch das Land an die Spitze.

Sehr viele Millionen von Menschen gegen rund 200 Personen aus nationalen Jurys. Millionen von Menschen wollten, dass die Ukraine gewinnt und wurden aktiv. Vor geraumer Zeit lag es noch absolut im Trend für die Ukraine zu spenden. Solidarisch bei einem politisch wichtigen Wettbewerb, der weltweit von fast 200 Millionen Personen gesehen wird, zu handeln, gilt plötzlich als No-Go. Warum? Ja, es ist ein Wettbewerb. Ja, die anderen Länder hatten nicht die besten Chancen. Im Vergleich zu Fußballspielen, bei denen Ergebnisse anhand von Toren gezählt werden, geht es jedoch bei Musik immer noch um Geschmack. Geschmack setzt sich neben persönlichen Hörgewohnheiten auch aus Sympathie und Mitgefühl zusammen. Das ist exakt bei jedem einzelnen Song oder Interpret*in so, die man neu entdeckt. Können wir uns dann jetzt einfach alle mal freuen, dass wir in manchen Situationen doch ein gemeinsames Europa sein wollen und sind? Dass wir nicht nur ein Haufen egozentrischer Einzelkämpfer*innen sind? Danke.

So geht es weiter

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äußerte sich bereits zum Thema. Er möchte im nächsten Jahr den Wettbewerb in Mariupol stattfinden lassen. Wie umsetzbar sein Wunsch ist, sehen wir in den nächsten Monaten. Sollte es nicht funktionieren, ist die Ukraine bereits in mehreren anderen Städten – u.a. Stockholm, Madrid oder auch Reykjavik – willkommen und darf dort bei der Gestaltung des Eurovision Song Contest 2023 mitbestimmen. Bis dahin kann man nur hoffen, dass endlich wieder Ruhe einkehrt, keine Menschen in Angst leben müssen und Europa weiterhin als Gemeinschaft auftritt. Politisch, selbstbewusst, voller Überzeugung, mit großer Gestik und gegen unbeschreibliche, unüberschaubare Ungerechtigkeit.

Und so sah der Siegerauftritt aus:

Website / Facebook / Instagram / Twitter

Die Rechte fürs Cover liegen bei EBU/Eurovision Song Contest.

* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.

5 Kommentare zu „Eurovision Song Contest 2022, Das Finale: Ergebnisse, Meinungen & Ausblicke“

  1. Vielen Dank für die mal wieder sehr treffende Analyse des diesjährigen ESCs. Deinen Kommentar bezüglich der eindeutigen Unterstützung für den ukrainischen Song beim Televoting würde ich am liebsten jedem entgegenhalten, der sich so negativ in den sozialen Medien über diesen „politischen“ Wettbewerb geäußert hat. Da habe ich in den letzten Tagen so viel Abstruses gelesen.

    Ich habe den diesjährigen Wettbewerb sehr gemocht, weil ich dort wieder drei Musikperlen gefunden habe, die ich in Zukunft weiter verfolgen werde. S10, Amanda Tenfjord und MARO (da werden wir wohl nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen) haben mich mit ihren Liedern und ihrer Ausstrahlung sehr berührt und begeistert.

    Und der NDR wird auch in Zukunft den ESC nicht verstehen. Alleine an der Aftershow-Party mit Babsi sieht man, wie altbacken und rückständig das Event in Deutschland dargeboten wird. Die Coolness des ESC wird in der ARD durch einen Käseigel aus den 70ern dargestellt.

    1. Hey Tosten,

      vielen, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, über den ich mich sehr freue 🙂
      Ja, ich habe auch sehr viel Bullshit lesen müssen und war ständig hin- und hergerissen zwischen „Sage ich was dazu?“ und „Lass es besser!“.
      Aber das gehört leider, leider zur Social-Media-Gesellschaft dazu.

      Ich mochte S10 auch voll. Wurde gestern witzigerweise bei „Let’s Dance“ verwendet 🙂
      Amanda Tenfjord fand ich ok. Show war besser als der Song.
      MARO fänd ich gut, wenn es nicht ESC wäre. Dort kriegt mich das leider echt zero.

      Und ja, die Show danach war wieder ultra schlimm. Hab aber auch nur so zehn Minuten geguckt.
      Mir geht Babsi ULTRA HART auf die Nerven. Aber echt schon ewig.

      Bis zur nächsten Saison! VLG aus DO
      Christopher

  2. Ich habe noch nie so viel musikalischen Müll gehört und gesehen. Eine echte Zumutung! Und ausgerechnet der beste Beitrag – nämlich der deutsche – ist auf dem letzten Platz. Da ist doch etwas verkehrt…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert