Eurovision Song Contest 2022, 1. Semifinale: Die Ergebnisse

Cover des ESC-Samplers.

Es ist Mitte Mai – und damit Eurovision Song Contest-Zeit. Nachdem 2021 die Show in Rotterdam in der Niederlande nachgeholt wurde, da der größte Musikwettbewerb der Welt zum ersten und hoffentlich einzigen Mal 2020 ausfallen musste, geht es in dieser Runde nach Italien, besser gesagt nach Turin. Die Mehrzweckhalle Pala Alpitour ist 2022 das Mekka für ESC-Fans und holt eine Riege spannender Künstler*innen unter dem Motto The Sound of Beauty zusammen.

Im ersten Semifinale am 10.05. um 21 Uhr, das wie gewohnt im TV auf ONE und parallel auf eurovision.tv lief, traten 17 der 40 teilnehmenden Länder gegeneinander an. 18 folgen am Donnerstagabend im zweiten Semi, die Big Five inklusive dem Gewinnerland Italien sind schon für das große Finale am Samstag gesetzt. Allerdings steht schon jetzt fest, dass von den 17 nur zehn noch einmal auftreten werden und sieben nur noch als Zuschauer*innen fungieren. Wir sagen, wer es geschafft hat. Wichtig: Die Auflistung richtet sich nach der Startreihenfolge. Voting-Ergebnisse werden erst nach dem Finale veröffentlicht.

Diese zehn Länder sind im Finale dabei:
Litauen – „Sentimentai“, Monika Liu
Schweiz – „Boys Do Cry“, Marius Bear
Ukraine – „Stefania“, Kalush Orchestra
Niederlande – „De Diepte“, S10
Moldau – „Trenulețul“, Zdob și Zdub & Frații Advahov
Portugal – „Saudade, Saudade“, Maro
Island – „Með Hækkandi Sól“, Systur
Griechenland – „Die Together“, Amanda Georgiadi Tenfjord
Norwegen – „Give That Wolf A Banana“, Subwoolfer
Armenien – „Snap“, Rosa Linn

Ausgeschieden sind somit:
Albanien – „Sekret“, Ronela Hajati
Lettland – „Eat Your Salad“, Citi Zēni
Slowenien – „Disko“, LPS
Bulgarien – „Intention“, Intelligent Music Project
Kroatien – „Guilty Pleasure“, Mia Dimšić
Dänemark – „The Show“, REDDI
Österreich – „Halo“, LUM!X feat. Pia Maria

NACHLESE ZUR SHOW:

2021 war es noch ein wissenschaftliches Experiment, nun ist es schon wieder fast Normalität: Eine große Menge Menschen sitzt gemeinsam in einer Halle und zelebriert Musik. Die meisten, die diesen Text hier lesen, haben wohl schon wieder den Weg in eine der großen oder auch kleinen Venues gefunden, um endlich wieder Livemusik hören zu können, mit Gleichgesinnten zu feiern und die Lieblingsacts zu bejubeln. Der Eurovision Song Contest war vor einem Jahr eines der ersten Events, die nach dem Lahmlegen der Branche wieder randurfte.

Zwar gibt es auch 2022 immer noch keine Stehplätze im Innenraum, um Fahne-schwenkend Europa und seine tonale Vielfalt zu würdigen, aber dafür ist die Zuschauer*innenzahl im Vergleich zum Vorjahr ziemlich genau verdoppelt worden. Aus 3500 wurden gute 7000 – 7000 glückliche Gesichter, die ohne mit der Wimper zu zucken mehrere dicke Scheine auf den Tisch legen, um ihren Eurovision wieder zu erleben.

Green Room meets Heckenbusch

Der Bereich vor der Bühne bleibt dennoch nicht leer. Einige Plätze dienen der Presse, andere den Acts. Schon in Rotterdam wurde der Green Room, also der Ort, an dem sich die Künstler*innen während der Show aufhalten und gegenseitig anfeuern, sichtbar in die Mitte der Halle verlegt. Diese Methode ist erneut gewählt worden. Um das Ganze aber noch schicker zu gestalten, sind die Sitzbänke mit Heckenbüschen umrandet. Schrebergarten, Italy Version sozusagen.

Naturelemente scheinen eh völlig im Trend zu liegen. Die mal wieder hoch beeindruckende Bühne besitzt einen Wasserfall. Ok, eigentlich ist es mehr ein fließender Bach, der hier von der Höhe der Stage nach unten abläuft. Schön sieht’s trotzdem aus. Genauso die LED-Wand, die in Form einer Sonne angeordnet ist und damit Licht und Hoffnung in die abgedunkelte Pala Alpitour während trister Zeiten holt.

Trio infernal

Als Hosts hat sich Italien drei bekannte Gesichter gegönnt, wovon zwei sogar in Deutschland Beliebtheit genießen. Der Moderator – darunter auch viel im Musikfernsehen – Alessandro Cattelan ist hier wohl den wenigsten ein Name, dafür kann aber der Superstar Laura Pausini auch bei uns einige Charteinträge vorweisen. 2008 gelangte ihr mit James Blunt im Duett zum Song „Primavera in anticipo (It Is My Song)“ eine Top-20-Platzierung in den Singlecharts, bei den Longplayern war sie in den letzten 25 Jahren gar acht Mal vertreten.

Auf den ersten Blick ein wenig überraschend ist hingegen Moderator Mika. „Relax, Take It Easy“ oder „Grace Kelly“ – Ohrwurm für den Rest des Tages auf dem Silbertablett serviert, gern geschehen – waren europaweite Superhits. Aber was macht ein Künstler mit britisch-libanesischer Herkunft auf den Brettern des ESCs in Italien? Durch seine Teilnahme als Juror beim italienischen „X Factor“ erarbeitete sich der 38-jährige eine riesige Fanbase, die schließlich in einer eigenen TV-Show mündete. Why not?

Übrigens: Dass Turin am Ende den Kampf um den Austragungsort gewann, wirkt wohl ähnlich verwunderlich wie Mika als Host. Viele Großstädte – darunter auch Rom – schafften es nicht mal in die engere Auswahl. Zwar mag die Stadt geografisch nicht optimal liegen und auch auf Touri-Ebene eher wenig bieten, allerdings ist die Pala Alpitour dank ihrer großen Kapazität ein schon lange bekanntes Messezentrum. Die Flexibilität, hier sechs Wochen zu gastieren, ist ebenso eher Ausnahme. 2006 fanden dort die Olympischen Winterspiele statt, man ist also somit schon im Ablauf routiniert.

Damit haben wir nicht gerechnet

Nach einem klassischen, aber dennoch mitreißenden Opening zu dem Motto „The Sound Of Beauty“, geht es recht zügig mit den 17 Acts los. Die haben einen minimalen Vorteil im Vergleich zu denen am Donnerstagabend, da sich dort 18 Künstler*innen um ebenfalls nur zehn Plätze battlen dürfen.

Schlechter als unser Tipp kann man kaum liegen. Sind wir ansonsten bei den Prognosen immer ziemlich gut, gelingt uns dieses Mal fast der Totalausfall: Drei Treffer hat man bei dem Spiel „10 aus 17“ automatisch – und wow, wir haben es in unserem ersten Vorchecking vor wenigen Wochen auf vier geschafft, wie sich gegen 23:05 Uhr herausstellte. Das zeigt, wie merkwürdig hier abgestimmt wurde. Schaut man nach der Show in die Kommentare auf sämtlichen Social Medias fällt auf: Zufrieden sind die Fans nicht.

Das Jury-Problem

Wahrscheinlich war die Schere zwischen Jury- und Anrufer*innen-Voting besonders groß. Ein Problem, das immer stärker in den Fokus rückt, da die fünf Mitglieder pro Land oft auf gesangliche Qualität achten, es der Fanschar aber viel mehr um tolle, treibende, oft auch partyfähige Titel geht. Da kommt man nicht überein. 2022 dürfen für Deutschland Schlagersängerin Michelle, Deutsch-Pop-Sänger Max Giesinger, die deutsch-nigerianische Jazz-Sängerin und Gesangslehrerin Tokunbo, hr3-Moderator Christian Brost und KiKA-Fernsehmoderatorin Jess Schöne 50 Prozent unserer Punkte vergeben. Und man merkt schon bei der Auflistung: Da sind Fachleute am Werk… Oder so ähnlich.

Höchstwahrscheinlich ist das Know-How in anderen Jurys ähnlich. Jedenfalls haben gleich mehrere Songs, die schon seit Wochen in der Eurovision-Bubble gefeiert werden, die Biege gemacht. Albanien durfte am Dienstag als Opener ran und hat mit seinem „Sekret“ auch direkt voll auf die Pauke gehauen. Ein mitreißender Mix aus orientalischen Folklore-Sounds, Trap-Beat und viel Sexappeal. Scheint dank aufreizender Performance auf viele billig gewirkt zu haben. Kein Finalticket. Sauschade.

Da durfte man zwei Jahre lang kaum vor die Tür, geschweige denn in die Clubs und trotzdem ist der ESC 2022 musikalisch eher gediegen und nachdenklich unterwegs. Wer auf die Banger gesetzt hat, hat sich verzockt. Dass nach dem Sieg von Måneskin der Rock zum Wettbewerb zurückkehrt, war berechenbar. Genauso aber auch, dass ein Auftreten, das dem Vorjahressieger*innen zu ähnlich sieht, bestraft wird. Deswegen haben es weder die Classic-Rocker von Intelligent Music Project – was ein peinlicher Bandname – aus Bulgarien trotz hookigem Refrain weitergeschafft und genauso wenig die 80s-Rock-Girlie-Formation REDDI aus Dänemark, die wahrscheinlich durch ihr trantütiges Intro und dem aufgesetzten Image – in Wirklichkeit sind sie nämlich erst vor Kurzem zusammengecastet worden – einfach kaum jemanden gekriegt haben.

Grübeln statt Dancen

Das können ESC-Fans noch irgendwie verschmerzen. Dass aber ein richtiges Eurodance-Brett namens „Halo“ aus unseren deutschsprachigem Nachbarland Österreich schon Feierabend machen muss, gleicht einem Schock. Ok, gesanglich ist die Newcomerin Pia Maria, die mit dem für sein zartes Alter von 19 Jahren ziemlich erfolgreichen DJ LUM!X an den Start ging, leider keine Erleuchtung, aber dafür ist der Track einfach 90s-Retro-Trash at it’s very best. Ist sowas nicht in? Traurig, eine spannende Note, die am Samstag beim Massenpublikum nicht erneut erklingen darf. Egal, ob die perfekt getroffene oder eine flat gesungene.

Schweiz, Portugal, Island – drei Länder, die man vorher wohl geskippt hätte, wenn man den Frühling ins Herz lassen will. Marius Bear singt für unsere multilingualen Nachbar*innen, dass Jungs doch weinen dürfen, vertont die Message in einem MichaelBublé-Weihnachtssound, lässt die Halle fast komplett ins Dunkel hüllen und macht mit einem Lied ohne erkennbare Steigung ein Finalticket klar. Portugal plätschert mit mehrstimmigem Mädelsgesang genauso flach wie das Wasser von der Bühne – auch das reichte. Drei Schwestern, die auf Isländisch klingen wie ein Abspann von einem Skandi-Thriller – man braucht nix mehr sagen.

Und ja, auch Litauen und das loungige, süße „Sentimentai“ war keine sichere Nummer fürs anstehende WE, aber irgendwas läuft hier in komplett unerwarteten Bahnen. Lediglich das auf niederländisch vorgetragene „De Diepte“ von S10 , welches sich um toxische Beziehungen dreht, war schon vorab gefeiert worden – das Auffällige unter den Unauffälligen. Warum Kroatien dann aber als einziges Land mit Dream-Pop-Titel nicht weiterkommt, bleibt ein Rätsel.

Highlights, die gewürdigt wurden

Das Einzige, was wohl zu keiner Sekunde in Frage stand: Die Ukraine wird für einen besonderen Moment sorgen. Und ja, das hat sie. Ein riesiger Beifall ertönt, als das Kollektiv Kalush Orchestra mit seinem Crossover aus Folklore und Hip-Hop loslegt. Natürlich steht der gesamte Wettbewerb ein Stück weit in dem Zwiespalt aus Solidarität mit einem Land, das angegriffen wird, und dem Beurteilen von Musik. Aber „Stefania“ ist auch ganz ohne Empathie-Bonus ein Finalsong. Wie groß dieser Obolus am Ende sein mag, wissen wir in der ersten Stunde am kommenden Sonntag. Dass Russland auch beim Eurovision vorerst nicht mehr teilnehmen darf, sollte nur der Vollständigkeit wegen an dieser Stelle nochmal erwähnt werden.

Einige fragten sich wohl auch, ob „Masked Singer“ schon wieder in die nächste Runde geht und nun nicht mehr auf ProSieben läuft. Norwegen legt mit seinem Duo Subwoolfer und der „Rotkäppchen“-Hommage „Give That Wolf A Banana“ den stärksten Auftritt des Abends hin. Das ist Eurovision Song Contest, wie man ihn liebt: Verkleidete Menschen treten auf, von denen man nicht weiß, wer sie wirklich sind, ob sie völlig einen an der Murmel haben oder einfach eine herrlich kreative Idee präsentieren. Dazu läuft ein nach vorne gehender Dancefloor-Hit mit Humormomenten – und alles wird durch eine Feuerwerksperformance abgerundet. Ein Höhepunkt.

Für Skurrilität sorgte des Weiteren die Gute-Laune-Overacting-Nummer aus Moldau. Quasi der Mittelweg aus dem ukrainischen und norwegischen Beitrag. Mukke wie vom Dorf, Leute in Trachten, viel Tamtam und automatisch ausgelöstes Mitwippen bei den Zuschauer*innen. Das mag man nicht privat im Auto hören, aber unbedingt am Samstagabend genau so sehen. Auf der anderen Seite: Eine Hymne über Vegetarismus und Veganismus, die im Electro-Swing-Stil dargeboten wird, ist anscheinend too much. Goodbye to Latvia!

Geschickt von einem eher dünnen Song abzulenken, schaffte Griechenland. Hier macht das Staging, bei dem sämtliche Technik auf dramaturgischem Weg zum Einsatz kommt, einen Großteil aus. Der bloße Song ist kein Finale wert, die Performance schon. Anschauen!

Was sonst noch geschah

Neben einem bunten Programm an zu vielen drögen, zu wenig lauten Performances und fast schon wie gewürfelt wirkenden Ergebnissen lohnte es sich ausnahmsweise sogar beim Interval Act aufzupassen. Einerseits gibt es ein Mashup aus vielen bekannten Italo-Disco-Hits der vergangenen Jahrzehnte – darunter Meilensteine von Benny Benassi („Satisfaction“) und Eiffel 65 („Blue (Da Ba Dee)“ – und einen wahnsinnig berührenden Auftritt von Diodato. Der sollte mit „Fai Rumore“ 2020 für Italien antreten. Sein Song entwickelte sich zur Lockdown-Mutmach-Hymne und bekommt an jenem Abend endlich die Bühne, die es verdient. Gänsehaut von oben nach unten und zurück.

Nicht zuletzt erhascht man einen kleinen Blick auf die Beiträge aus Frankreich und Italien, die schon gesetzt sind. Gleich drei der Big Five gehen übrigens am Samstag als Favorit ins Rennen – darunter auch der mystische bretonische Rave und die berührende italienische Duo-Ballade. Beides ist schon im kurzen Teaser-Clip mehr als nur appetitlich.

Was heißt das für Samstag?

Tatsächlich deutet das erste Semifinale an, dass es Samstag sogar noch spannender wird, als vermutet. So unberechenbar war Eurovision schon lange nicht mehr. Wenn so viele Fans daneben liegen, haben hier anscheinend die Jurys ihre Finger im Spiel und keinen massenkompatiblen Geschmack. Schade für die einen, gut für die anderen, spannend für alle. Stay tuned!

Weiterlesen:
Nachlese zum 2. Semifinale
Nachlese zum großen Finale

Hier nochmal unser Favorit des Abends – Subwoolfer aus Norwegen:

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Die Rechte fürs Cover liegen bei EBU/Eurovision Song Contest.

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