Eurovision Song Contest 2022, 2. Semifinale: Die Ergebnisse & Infos zum Finale

Cover des ESC-Samplers.

Europa und Australien haben ihren persönlichen Sound of Beauty gewählt und ein buntes Mixtape erstellt – gestern lief das zweite Semifinale des Eurovision Song Contest 2022 über die Bühne. Acht Acts haben die Bühne der Pala Alpitour in Turin das letzte Mal betreten, zehn weitere haben das Finalticket gezogen und dürfen am Samstag um 21 Uhr zur mitteleuropäischen Sommerzeit nochmal alles geben.

Schon morgen Abend startet das Finale der 66. Runde des größten Musikwettbewerbs der Welt. Live zu sehen ist die Show sowohl im TV auf Das Erste als auch auf eurovision.tv.

Die folgende Auflistung zeigt erneut die Startreihenfolge, nicht die Reihenfolge der finalen Ergebnisse. Diese wird erst kommende Woche veröffentlicht, um die Votes für die letzte Show nicht zu verfälschen.

Diese zehn Länder sind im Finale dabei:
Finnland – „Jezebel“, The Rasmus
Serbien – „In Corpore Sano“, Konstrakta
Aserbaidschan – „Fade To Black“, Nadir Rustamli
Australien – „Not The Same“, Sheldon Riley
Estland – „Hope“, Stefan
Rumänien – „Llámame“, WRS
Polen – „River“, Ochman
Belgien – „Miss You“, Jérémie Makiese
Schweden – „Hold Me Closer“, Cornelia Jakobs
Tschechien – „Lights Off“, We Are Domi

Ausgeschieden sind somit:
Israel – „I.M“, Michael Ben David
Georgien – „Lock Me In“, Circus Mircus
Malta – „I Am What I Am“, Emma Muscat
San Marino – „Stripper“, Achille Lauro
Zypern – „Ela“, Andromache
Irland – „That’s Rich“, Brooke
Nordmazedonien – „Circles“, Andrea
Montenegro – „Breathe“, Vladana

Die Startreihenfolge für das Finale am Samstagabend:
1. Tschechien
2. Rumänien
3. Portugal
4. Finnland
5. Schweiz
6. Frankreich
7. Norwegen
8. Armenien
9. Italien
10. Spanien
11. Niederlande
12. Ukraine
13. Deutschland
14. Litauen
15. Aserbaidschan
16. Belgien
17. Griechenland
18. Island
19. Moldau
20. Schweden
21. Australien
22. Großbritannien
23. Polen
24. Serbien
25. Estland

NACHLESE ZUR SHOW:

Ok, durchatmen. Nachdem der Eurovision 2022 anhand der Ergebnisse des ersten Halbfinales am Dienstagabend bewiesen hat, wie unberechenbar er doch sein kann, ist nach dem vergangenen zweiten Semi doch wieder einiges ausbalanciert. Wir haben auch einiges an Glaubwürdigkeit zurückerlangt. Haben wir im ersten Versuch bei unserem Vorchecking peinliche vier von zehn Treffer gelandet, waren es dieses Mal wieder routinierte neun. Zeigt also, dass auch viele Beiträge verdient weitergekommen sind.

Postcards und Peter Urban

Um die Nachlese mit ein wenig Abwechslung zu würzen, hier ein paar weitere Details, auf die wir im ersten Showbericht noch nicht eingegangen sind: Natürlich gibt es traditionsgerecht auch in diesem Jahr, in dem Italien als Gastgeberland fungiert, die sogenannten „Postcards“. Das sind kleine Einspieler, die vor den Auftritten gezeigt werden und zu denen sämtliche Kommentator*innen ein paar Facts über die Acts – oh, ein Reim – erzählen.

Und hey, die Postcards sind echt hübsch. Eine Drohne mit dem knuffigen Namen Leo fliegt über viele Sehenswürdigkeiten und Landschaften Italiens und zeigt, dass man eigentlich den nächsten Sommerurlaub dringend dort verbringen sollte. So facettenreich, so schön. Etwas unschön hingegen werden auf die jeweiligen Berge, Klippen oder auch Mauern die Gesichter der Acts projiziert. Das wirkt ein bisschen cheap. Gab es ansonsten häufig auch Videos der Künstler*innen vor Ort wurde hier – wahrscheinlich aus Corona-Gründen – ziemlich gespart. Also besser auf die Natur konzentrieren. Mutter Erde scheint eh en vogue zu sein, wie wir schon im letzten Bericht anhand der Bühne analysiert haben.

Doch was ist mit Peter Urban? Leute, der Dude ist 74. Zweifelsohne hat der super sympathische Herr immer noch eine der markantesten Stimmen und gehört für viele Ohren einfach zum ESC-Gucken dazu, aber wer findet wirklich, dass ein Mitt-Siebziger Musik kommentieren sollte, die zum Großteil von Menschen vorgetragen wird, die ein halbes Jahrhundert jünger sind als er? Und ja, auch in diesem Jahr haut Herr Urban an der einen oder anderen Stelle zwar witzige, gleichzeitig aber auch arg wertende Meinungen raus, die schlichtweg unzeitgemäß wirken. Lustig, aber eben genauso ohne das nötige Feeling für gegenwärtige Strömungen. Nicht mal als Vorwurf gemeint! Aber 25 Jahre Kommentator beim ESC wird ihm so schnell eh kaum jemand nachmachen – reicht es nicht nun wirklich?

Vorhang auf für die Moderator*innen

Es braucht nicht immer nur ESC-Legends, die jedes Jahr aufs Neue eingeladen werden und zum drölften Male Classics covern – stattdessen zeigt das Host-Trio im zweiten Semi ein paar echt nette Performances mit ihnen selbst als Hauptrolle. Alessandro Cattelan darf gleich zum Opening ran. Der Einspieler dreht sich darum, dass Italiener*innen stets auf ihr Improvisationstalent vertrauen – und genau daraus entsteht auch die Shownummer, in der Alessandro das zeigt, was er vermeintlich Sekunden vorher von der Regie kurz gesagt bekommen hat. Das ist schmunzelwürdig und selbstironisch.

Doch auch Mika und Laura Pausini haben ihre gemeinsamen fünf Minuten. Während des Televotings singen sie im Duett „Fragile“ von Sting und „People Have The Power“ von
Patti Smith. Die Bühne zeigt blau-gelbe Töne. Bevor es mit der Nörgelei losgeht: Ja, das ist politisch. Aber warum eigentlich auch nicht? Eurovision ist eine Show, die Europa zusammenbringt. Dieses vereinte Europa wird attackiert. Darf man dann nichts dagegen sagen? Doch, und eine so große Reichweite, wie eben nur der größte Musikwettbewerb der Welt sie inne tragen kann, muss diese nutzen. 10€ per Paypal zu spenden ist genauso wichtig wie Solidarität und Sichtbarkeit durch Gesten und Worte.

Als Extrawürze gab es mit Il Volo aber doch einen weiteren alten ESC-Act. Die drei Pop-Opernsänger sangen ihre Bombastnummer „Grande Amore“, mit der sie 2015 Dritte wurden und machten das Intervall-Programm wirklich perfekt.

Wem es im ersten Semi zu wenig Drama war…

Gelegenheitsgucker*innen verbinden den Eurovision oft mit den großen Kitschballaden. Von denen gab es jedoch zuletzt immer weniger. Doch zu früh gefreut: Die tummelten sich dafür nun im zweiten Semi. Obacht: Nur ein bisschen Tränendrüse zieht schon lange nicht mehr. Deswegen hat sich der zwar persönliche und traurige Beitrag aus Montenegro mit dem Namen „Breathe“ auch verabschiedet – einen Song für die Mutter zu schreiben, die an Covid verstorben ist, verdient Aufmerksamkeit, aber bei triefender, leidender Vortragsart eben nur Aufmerksamkeit und kein Finalticket.

Ebenso der wichtige Aufschrei, in einer Beziehung mehr Raum zu bekommen und ernst genommen zu werden – wer wünscht sich das nicht? Nur trägt man diese Thematik mit ein wenig zu viel Aggressivität und keiner klaren Message mit Lösungsansatz vor, lässt auch das am Ende eher kalt. Somit auch ein Adieu für Nordmazedonien.

Doch der Grat zwischen „zu viel“, „genau richtig“, „zu kühl“ und „völlig überwältigend“ ist schmal, denn gleich drei Nummern mit großem Drama sind weiter – dazu noch von drei männlich gelesenen Personen. Sheldon Riley ist in Australien längst ein Star. Er musste durch seinen schon im Kindesalter diagnostizierten Autismus viel Häme einstecken. Auf der Eurovision Song Contest-Bühne trägt er eine Schleppe, die 40 Kilogramm wiegt und schreit sich die Seele aus dem Leib. Das ist zwar ganz schön dick aufgetragen, aber anscheinend authentisch genug. Darf man am Samstag nochmal sehen. Ein wenig überraschend hat auch Aserbaidschans Beitrag funktioniert. Gesang top, aber sonst? Eigentlich etwas berechenbare B-Ware mit mehr Schein als Sein, oder? Doch auch das kann in der großen, letzten Liveshow nochmal ran.

Und dann ist da noch Polen. Manchmal weiß man gar nicht, warum einem jene Sachen gefallen und andere wiederum nicht so – allerdings ist es bei Ochman einfach so, dass das Package zündet. Mit Sicherheit werden einige mit „River“ ihre Probleme haben. Hat man jedoch den Zugang gefunden, ist die leicht kantige, nicht sofort durchschaubare Halbballade ein absolutes Highlight im gesamten Wettbewerb und im zweiten Semi sogar unser Topfavorit. Wirklich toll gesungen, in der Performance mystisch konzeptioniert und einfach etwas, was man nochmal hören will. Polens erster Finaleinzug seit fünf Jahren und womöglich sogar ein Top-10-Kandidat? Wünschenswert wäre es.

Darf man 2022 nun Rock oder nicht?

Dänemark und Bulgarien haben im ersten Semi bewiesen, dass nach dem Rock’n’Roll-Sieg durch Måneskin im Vorjahr man von diesem Genre zumindest vorerst die Finger lassen sollte. Es sei denn, man ist Finnland, damit sowieso das Rock-Zentrum Europas und schickt on top mit The Rasmus noch eine Band, die jede*r kennt. „Jezebel“ löst „In The Shadows“-Memories und damit 2000s-Vibes aus – das bedeutet Finale.

Gegenbeispiel: San Marino hat fast schon einen Måneskin-Klon am Werk, nur in Ultra-Trash. Achille Lauro reitet ein Rodeopferd, wäre optisch gern Marilyn Manson, ist aber ungefähr so bad ass wie die Killerpilze. Der größte Fremdscham-Moment, der einem also am Samstag erspart bleibt. Muss man sich trotzdem nachträglich bei YouTube geben, falls man es verpasst hat.

Der Abend für Kompositionen mit Edge

Malta, Israel, Zypern und Irland haben alle neben der Gemeinsamkeit, im zweiten Semi herausgeflogen zu sein, auch noch das gleiche Niveau an Songs: Vier Lieder, die alle ganz nett sind. Aber „ganz nett“ will niemand. Das eine ist WDR4-Radio-Pop, wie man ihn zum Millennium-Wechsel hörte. Da singt eine Frau, die in einer Millionen-schweren Familie aufwuchs, sie sei halt so, wie sie nun mal ist – und macht das so unglaubwürdig und cheesy, dass heute leider keiner für sie ein Foto hat. Bye.

Israel ist Gay-Pride in a nutshall – allerdings reicht auch das heutzutage nicht mehr. In Zeiten, in denen RuPaul’s Drag Race massenkompatible Netflix-Ware ist, holt ein wenig Attitüde keine*n mehr hinterm Ofen hervor. Da braucht es schon auch einen geilen Song. War nicht, somit auch kein Finale.

Das Erwähnenswerteste an Zypern: Die Sängerin ist in Siegen geboren. Da geht bei den Deutschen das Buddy-Mitleidsherz auf, denn so wie Deutschland morgen im Finale aussehen wird, sieht die Deutsche, die für Zypern antritt schon jetzt aus – bedröppelt ohne Punkte. Irland hat einfach einen super billigen Arschwackel-Clubber abgefeuert, der keine Sekunde haften bleibt. Lediglich die Sängerin tut’s, nämlich auf ihrem Platz im untersten Drittel des zweiten Semis.

Umso schöner sind die melodisch starken Tracks, beispielsweise aus Estland, das mit treibenden und lautem Country-Folk-Rock dem Wettbewerb eine weitere schöne Facette verleiht. Auch moderner EDM aus Tschechien wird geschätzt und gefeiert. Rumänien hat einfach den besten Mitsing-Sommerhit-Refrain der Saison und kann sich schon jetzt auf viele Fananrufe freuen. Schweden ist halt Schweden. Das ist zwar selten bahnbrechend, aber nie beliebig. Im Vergleich zum Vorjahr zieht Cornelia Jakobs mit ihrer modernen und etwas untypischen Up-Tempo-Liebesnummer völlig zurecht in die große Samstagabendshow und wird auch dort mit ihrer fast ausschließlich auf Gesang reduzierten fragilen Performance viele beeindrucken.

Und dann hat sich noch eine Frau die Hände gewaschen

Eurovision braucht Skurrilität. Serbien hat sie. Mit Konstrakta geht eine artsy Performance an den Start, bei der die Sängerin darauf hinweisen möchte, wie kritisch für manche Künstler*innen die hygienischen Umstände sind. Man sei nun mal permanent Bakterien ausgesetzt. Joa, hat sie wohl recht. Daraus hat sie einen Song gemacht und die Thematik auch optisch perfektioniert. Das bleibt im Kopf. Welcher Platz wohl dafür rausspringt? Sehr spannend.

Georgien hingegen hat mit seinem erneuten Wagnis, coolen Indie-Pop-Rock von einer verkleideten Zirkusband zu liefern, leider zu viel gewagt und es nicht geschafft. Hier blutet unser Herz am meisten.

Zusätzlich wurden wie üblich die drei restlichen „Big Five“-Länder kurz vorgestellt. Neben der extrem coolen Chanel für Spanien, die wahrscheinlich die optisch fesselndste Nummer morgen liefert, war auch Sam Ryder aus UK kurz anzutreffen – übrigens einer der Top-Favoriten für die Trophäe. Ja, Großbritannien ist back in the game. Malik Harris aus Deutschland hat sich herzlich und offen gegeben, aber das Lied wird auch trotz Startnummer 13 – genau die Mitte – kaum jemanden abholen, weil viel, viel, viel zu unauffällig und zu generisch.

Was heißt das für Samstag?

Der Schock ist ein wenig verarbeitet. Wir trauern Albanien und Österreich immer noch hinterher, freuen uns aber über das faire Ergebnis aus Semi Nr. 2. Einschalten lohnt. Das wird ein wirklich aufregendes Rennen zwischen dem Solidaritäts-Bonus für die Ukraine, Gesangsfavorit Sam Ryder aus UK, einem womöglich siebten Sieg für Schweden, Folklore-Rave aus Frankreich, die „Masked Singer“-Joke-Nummer aus Norwegen und einem machbaren Double für Italien. Stay tuned.

Weiterlesen:
Nachlese zum 1. Semifinale
Nachlese zum großen Finale

Hier nochmal unser Favorit des Abends – Ochman aus Polen:

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Die Rechte fürs Cover liegen bei EBU/Eurovision Song Contest.

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