Eurovision Song Contest 2022 – Alle Songs & Infos im Überblick

Cover des ESC-Samplers.

Wie soll der größte Musikwettbewerb der Welt in solch schwierigen Zeiten aufgeführt werden? Die simple Antwort: Mit Stolz, wehenden Fahnen und Optimismus! Der Eurovision Song Contest geht 2022 in seine 66. Runde und kommt mit grande amore aus Bella Italia.

„Rock’n’Roll never dies“, Damiano David

Ob man nun musikalisch etwas mit Måneskin anfangen kann oder nicht – das Quartett hat bewiesen, wie einflussreich der ESC noch sein kann. Völlig surreal darf die Gewinnerband des vergangenen Jahres nun von sich behaupten, die besten Verkaufszahlen eines Artists seit ABBA (!) vorzuweisen, der durch den Eurovision internationale Bekanntheit erlangte. Das muss man erstmal sacken lassen. Sie waren einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dann, als die Musiklandschaft an Beliebigkeit und Einfältigkeit zu ersticken drohte, kamen Frontmann Damiano und Gang mit wahrem Glam-Rock um die Ecke und zeigten, was Italien kann – und das ist schon sehr lange verdammt viel.

Zwar konnte das Land im Süden Europas schon 1964 und 1990 siegen und in den beiden anschließenden Jahren die Show ausführen, aber seit der Rückkehr zum Wettbewerb in 2011 liefert der sehr musikalische Staat nur noch ab. Von zehn Anläufen landete man acht Mal in der Top 10, darunter sogar zweimal auf Platz 2 und einmal auf Platz 3. Der Sieg in 2021 war somit eine logische Konsequenz und völlig berechtigt. Bravissimo!

Umso tragischer, dass nach einer kompletten Streichung der Megashow in 2020, einer im Publikum stark abgespeckten Variante in 2021 man eigentlich nun wieder gewohnt aus allen Vollen schöpfen wollte – doch jetzt ist Krieg in Europa. Die nächste Hürde, deren Ausmaß noch nicht abzusehen ist. Da das Verhalten Russlands nicht mehr der toleranten und demokratischen Haltung der EBU entspricht, wurde das Land disqualifiziert. Die Ukraine hingegen hat mit einem lachenden und einem weinenden Auge zugesagt und wird Flagge zeigen.

The Sound of Turin

Trotzdem darf man sich auf eine bunte Woche unter dem Motto The Sound of Beauty in Turin freuen. Nein, nix mit Rom. Mit knapp 870.000 Einwohner*innen ist es die viertgrößte Stadt des Landes, die austragen wird. Die Mehrzweckhalle ParaOlimpico dient als Venue. 40 Länder kämpfen um den Sieg. Die Big Five Deutschland, Spanien, Italien, Großbritannien und Frankreich sind dank ihrer hohen finanziellen Investition in den Wettbewerb automatisch fürs Finale gesetzt. Regulär gilt dies auch für das Austragungsland – da dies aber ebenfalls Italien ist, bleibt es bei fünf fixen Plätzen. Um die restlichen 20 Finaltickets wird in zwei Semifinalrunden gekämpft, zunächst mit 17, dann mit 18 Teilnehmer*innen. Italiens Startnummer im Finale ist die 9.

Gesendet wird live nach mitteleuropäischer Sommerzeit um 21 Uhr. Die beiden Halbfinalshows sind am Dienstag, dem 10.5., und am Donnerstag, dem 12.5. auf eurovision.de und im Fernsehen auf One, dem Partnersender der ARD, zu sehen. Das große Finale am Samstag, dem 14.5., läuft ebenfalls auf der deutschen Website und im TV auf Das Erste.

Die Songs können schon jetzt auf allen bekannten Streamingportalen gehört oder schick gebündelt auf dem Eurovision Song Contest 2022-Sampler gekauft werden, den es ab dem 22.4. zu erwerben gibt. Wir haben für euch alle Songs gecheckt und sagen euch schon jetzt, wer im Halbfinale stecken bleibt oder wer richtig gute Karten auf den Sieg am Ende hat. Dabei fokussieren wir uns auf die Songs, Musikvideos und nationalen Finalperformances – wie das alles auf der großen Bühne in Turin aussehen wird, bleibt gegenwärtig offen. Außerdem gibt’s für euch am Tag nach den drei Liveshows jeweils eine Nachlese mit Kommentaren hier bei minutenmusik. Stay tuned!

Alle 40 Länder im Check

01. Albanien; „Sekret“, Ronela Hajati (1. Halbfinale):
Es geht direkt mit einem absoluten Brett los. Noch nie war Albanien so stark wie in diesem Jahr. Mit „Sekret“ gibt es die perfekte Kombination aus nationalen Elementen und richtig nach vorne gehenden stampfenden Beats. On top liefert das Land einen starken, einprägsamen Refrain. Das reicht wahrscheinlich nicht für den Sieg, aber hoffentlich für einen Top-10-Platz. Super.

02. Armenien; „Snap“, Rosa Linn (1. Halbfinale):
An welche Songs erinnert „Snap“ aus Armenien? Schreibt es in die Kommentare! Wir freuen uns über 700 Posts. Der armenische Beitrag klingt nach einem bunten Mix aus vielen großen Hits der vergangenen Zeit und ist damit nett und unkreativ im selben Moment. Wackelkandidat im sehr starken ersten Halbfinale.

03. Österreich; „Halo“, LUM!X feat. Pia Maria (1. Halbfinale):
Hat man da etwa eine alte Bravo Hits aufgelegt? „Halo“ aus Österreich klingt wie ein Rudiment aus den 90s und liefert Eurodance-Pop der allerersten Güte. Das geht sofort ins Ohr, macht unglaublich süchtig und wahnsinnig viel Spaß. Für Trash-Herzen das größte Sahnebonbon im ganzen Wettbewerb – für Gesangsfans jetzt eher nicht so. Wird trotzdem im Televoting ziemlich abräumen, einfach weil es kann. Bop.

04. Australien; „Not The Same“, Sheldon Riley (2. Halbfinale):
Australien sendet stets Popnummern mit internationalem Hitpotenzial. Auch dieses Jahr ist das nicht anders. Sheldon Riley ist in Down Under durch mehrere Castingshows bekannt geworden und liefert beim Eurovision dramatischen Mystery-Pop. Hat gute Vibes und wird auch optisch durch die besondere Präsenz des Künstlers auffallen – leider springt der Funke nur nicht final über. Mit Glück Top 10 im Finale.

05. Aserbaidschan; „Fade To Black“, Nadir Rustamli (2. Halbfinale):
Zu wenig Ambition kann man Aserbaidschan keinesfalls unterstellen. Das seit 2008 teilnehmende Land hat bisher noch nie schlechte Kost geboten und hat auch 2022 wieder eine fesselnde, dick aufgetragene Breitband-Ballade, die sich im letzten Drittel entlädt – nur der überspringende Funke bleibt aus trotz toller Gesangsakrobatik. Die zündende Idee hat man offensichtlich nicht gefunden.

06. Belgien; „Miss You“, Jérémie Makiese (2. Halbfinale):
Belgien bleibt sich treu und liefert erneut progressiven, eher dunklen, modernen Pop. Das hat in der vergangenen Zeit manchmal sehr gut funktioniert, manchmal weniger. „Miss You“ ist in der Produktion und in der Komposition ziemlich cool, braucht aber die passende Inszenierung und eine makellose Gesangsperformance, um das Publikum zu erreichen. Viele „wenn’s“. Finale ist aber wahrscheinlich drin.

07. Bulgarien; „Intention“, Intelligent Music Project (1. Halbfinale):
Retro ist in – das weiß auch Bulgarien. War das Land in den letzten Jahren mehrfach mit hochmodernen Midtempo-Balladen vorne mit dabei, sehen wir dieses Jahr mit Intelligent Music Project eine Männerrockband, die ein wenig altbacken wirkt. Der Song ist straight und könnte auch von Bon Jovi stammen. Nett anzuhören, aber fürs junge Publikum wahrscheinlich zu stark Papa-Fraktion. Mit Pech ist da im Semi schon Zapfenstreich, um auch in der Wortwahl Papa-esque zu bleiben.

08. Schweiz; „Boys Do Cry“, Marius Bear (1. Halbfinale):
Nach zwei sehr erfolgreichen hohen Platzierungen für die Schweiz, scheint unserem Nachbarland die Puste ausgegangen zu sein. Und zwar komplett. Selten wirkte ein Eurovision-Beitrag trantütiger als die Jazz-Orchester-Ballade „Boys Do Cry“. Das mag von Michael Bublé im weihnachtlichen Dezember vorgetragen Herzen berühren – hier ist es jedoch ein natürliches Schlafmittel. Braucht wirklich niemand.

09. Zypern; „Ela“, Andromache (2. Halbfinale):
Oh, ist Zypern durch die Corona-Pandemie geschwächt? Statt wirklich starken Oriental-Beats, die direkt auf den Dancefloor zusteuern, ist der Song „Ela“ überraschend unüberraschend. Zweifelsohne ein angenehmer Sommersong für den Strand oder die Bar, nur entschieden zu wenig Wumms für eine so große Show wie den Eurovision Song Contest. Sorry, aber da brauchen wir einfach mehr von allem. Ist hier tatsächlich das erste Mal seit rund zehn Jahren schon im Semi finito?

10. Tschechien; „Lights Off“, We Are Domi (2. Halbfinale):
Eins unserer Nachbarländer setzt erneut darauf, zu überraschen. „Lights Off“ triumphiert in erster Linie durch seinen spannenden House-Beat und hat Potenzial ein Sommer-Club-Hit zu werden. Zieht nicht sofort in drei Minuten, dafür aber nach mehrmaligem Hören. Vielleicht die etwas falsche Formel bei ESC, aber man weiß ja nie. Nice ist das trotzdem.

11. Deutschland; „Rockstars“, Malik Harris (bereits fürs Finale qualifiziert):
„Unter den Blinden ist der Einäugige König“. Das war das Motto beim diesjährigen deutschen Vorentscheid, der schlimmer kaum hätte sein können. Malik Harris hat mit seiner melancholischen R’n’B-Pop-Nummer „Rockstars“ knapp gewonnen. Der beste Beitrag unter sechs maximal akzeptablen ohne jegliche Raffinesse. Mit Sicherheit ist „Rockstars“ kein schlechtes Lied, nur eben nahezu unspektakulär. Zu generisch, zu Radio. Aber genau das wollte der NDR ja. So here we go: Abermals wird Deutschland ohne große Mühe einen der letzten drei Plätze belegen. Aber das ist wahrscheinlich nicht mal mehr erwähnenswert.

12. Dänemark; „The Show“, REDDI (1. Halbfinale):
Geradlinigen Classic-Rock – das gibt’s noch? Gefühlt ist seit dem Sieg Italiens im letzten Jahr alles wieder erlaubt. Dänemark setzt mit seinem Beitrag, der so auch in den 80ern schon hätte mitmachen können, eine weitere musikalische Facette. Die hat es zwar nicht wirklich gebraucht, weil die bösere Variante der The Bangles trotzdem nicht ganz authentisch wirkt, aber kann man zur Not machen.

13. Estland; „Hope“, Stefan (2. Halbfinale):
Stefan aus Estland hat eine Stimme, die laszivem Schlafzimmer-Dirty-Talk gleicht. Schon das Intro ist äußerst betörend. Zwar kommt dann mit „Hope“ ein wenig zu viel „Heroes“ – Gewinnertitel 2015 – gratis mitgeliefert, aber einen gewissen Sog löst der mystische Stadion-Country-Pop trotzdem aus. Mit der passenden Inszenierung ist ein Platz auf der linken Hälfte der Endtafel drin.

14. Spanien; „SloMo“, Chanel (bereits fürs Finale qualifiziert):
Ok, zugegeben: „SloMo“ aus Spanien klingt nicht so, als ob man ihn noch nie gehört hätte. Aber das Auge isst mit. Spanien wird die Hütte zerlegen und hat definitiv verstanden, bei welcher Show man am Start ist. Sexy Rhythmen, um ordentlich mit dem Popo zu wackeln, eine treffsichere Hook im Refrain und viele entschieden zu gut aussehende Menschen. Das sind genügend Asse im Ärmel, um Spanien nach fast 20 Jahren wieder einen einstelligen Platz zu sichern. Top, die Wette gilt.

15. Finnland; „Jezebel“, The Rasmus (2. Halbfinale):
Moment… die kennen wir doch, oder? Flashback in 3, 2, 1: „I’ve been watching, I’ve been waiting, in the shadows…“ – wer erinnert sich? The Rasmus scheinen auch 19 Jahre nach ihrem Welterfolg nur geringfügig ihren Sound angepasst zu haben. Fans des eingängigen 2000er-Pop-Rocks werden hier ihr Herzstück finden. Das ist retro und toll komponiert, nur eben nicht so im Hier und Jetzt. Egal. Erste Chartplatzierung für die Jungs nach über einer Dekade, gönnt euch.

16. Frankreich; „Fulenn“, Alvam & Ahez (bereits fürs Finale qualifiziert):
Wow. Jetzt wurde Blut geleckt. Nach Ewigkeiten durfte Frankreich mal wieder Sieger*innen-Luft einatmen und hat 2021 auf bemerkenswerte Art und Weise die Silbermedialle eingesackt. Nun soll Gold her. Dafür geht man zero auf die sichere Nummer und liefert stattdessen einen folkloristischen Rave-Track ab, der auf Bretonisch (!) vorgetragen wird. Sensationell. Letztes Jahr hat die Ukraine mit Go_A schon gezeigt, was möglich ist – „Fulenn“ wird das wiederholen und verbessern. Das riecht nach einem möglichen Sieg.

17. Großbritannien; „Space Man“, Sam Ryder (bereits fürs Finale qualifiziert):
Der stärkste Sänger kommt in der neuen Saison aus – Ohren auf – UK! Sam Ryder liefert eine tolle Rockstimme mit leichtem Soulvibe a la Adam Lambert, nur im Songwriting wurde hier nicht beim großen Vorbild abgeguckt. „Space Man“ lässt einem zunächst das Wasser im Munde zusammenlaufen, ist letztendlich aber wie Kaugummi: Schmeckt ein paar Sekunden, dann nicht mehr und macht erst recht nicht satt. Verpasste Chance und erneut ein reservierter Platz im letzten Viertel des finalen Scores.

18. Georgien; „Lock Me In“, Circus Mircus (2. Halbfinale):
Ohne E-Gitarren, ohne Georgien. „Lock Me In“ ist fast schon Indie-Rock und hätte damals in den passenden Clubs ein Insider werden können. Auch wieder ein Song, der am Ende nicht die linke Scorehälfte sehen wird, aber glücklicherweise dabei ist, weil er eben erfrischend anders klingt. Alle Daumen gedrückt für eine weitere Runde beim großen Mai-Geträller.

19. Griechenland; „Die Together“, Amanda Georgiadi Tenfjord (1. Halbfinale):
Das Intro von „Die Together“ lässt aufhorchen. A-cappella mit mehrstimmigen Autotune-Effekten. Das war’s dann nur leider mit Besonderheit. Und ganz ehrlich: Ob „Die Together“ so der passende Titel in der jetzigen Mood ist…? Jedenfalls bauscht sich die Nummer auf, ohne den angekündigten Knall zu liefern. Im ersten Semi, das stark besetzt ist, könnte das das Aus bedeuten.

20. Kroatien; „Guilty Pleasure“, Mia Dimšić (1. Halbfinale):
Es muss nicht immer das große Feuerwerk beim ESC sein – entscheidet man sich jedoch für reduziert, dann sollten die Elemente stimmen. Tatsächlich liefert das introvertierte „Guilty Pleasure“ aus Kroatien keinen großen Wurf, aber eine liebliche Pop-Nummer mit schicken Streichern und einer angenehmen Melodielinie. Geheimtipp für Fans von Birdy oder Colbie Caillat.

21. Irland; „That’s Rich“, Brooke (2. Halbfinale):
Mittlerweile kann sich Irland auch nur noch auf der Tatsache ausruhen, weiterhin mit sieben Siegen Platz 1 der häufigsten Gewinne inne zu tragen – mit guten Songs bekleckert sich das Land nämlich schon ewig nicht mehr. „That’s Rich“ ist völlig okayer Dance-Pop, der aber irgendwie pubertär und billig wirkt. Damit macht man es den anderen Liedern im zweiten Semi etwas leichter.

22. Israel; „I.M“, Michael Ben David (2. Halbfinale):
Gay-Clubbing aus Israel! Michael Ben David hüpft direkt vom Catwalk bei RuPaul auf die große Bühne in Turin und singt drei Minuten Dance-Pop mit vielen Brüchen ohne klar erkennbaren roten Faden. Hier weiß man spätestens, welche Veranstaltung man gerade im TV laufen hat – nur ohne stimmiger Essenz.

23. Island; „Með hækkandi sól“, Systur (1. Halbfinale):
Gerade sagten wir noch beim kroatischen Beitrag, es müsse nicht immer Bombast sein. Stimmt auch. Aber so viel Trägheit wie Island ist dann auch nicht nötig. Mit Sicherheit hätten Systur gute Karten wahrgenommen zu werden, wenn man ihren Song in einem nachdenklichen Skandinavien-Film laufen lässt – beim Eurovision bedeutet ein dermaßen langweiliges Lied jedoch die rote Karte. Wo ist Daði Freyr, wenn man ihn braucht?

24. Italien; „Brividi“, Mahmood & Blanco (bereits fürs Finale qualifiziert):
Auf dem Gastgeberland herrscht bekanntlich immer großer Druck. Dem probiert Italien mit hoher Qualität entgegenzuwirken und nicht den Schwanz einzuziehen. Mahmood belegte mit seinem Dauerbrenner „Soldi“ im Jahr 2019 einen hervorragenden zweiten Platz. 2022 wird im Duett mit Blanco der Fokus auf Gesang und nicht auf Beat und Melodie gelegt und das Tempo enorm gedrosselt. Große zweistimmige Ballade mit dem typischen Italiano-Touch, aber ohne 100 Prozent zu geben. Wird sich solide schlagen und am Ende der Top 10 tummeln.

25. Litauen; „Sentimentai“, Monika Liu (1. Halbfinale):
Ein kleines, leises, alternatives Liedchen wird von Litauen ins Rennen geschickt. „Sentimentai“ versprüht eine nicht von der Hand zu weisende Coolness und wird seine Fans finden. Das sind zwar nicht viele, aber hoffentlich genügend, um den Mut für alternativere Pop-Soul-Songs zu würdigen. Sollten alle im Big Final mal gehört haben.

26. Lettland; „Eat Your Salad“, Citi Zēni (1. Halbfinale):
Ja, der ESC ist immer ein wenig politisch. Lettland fordert dieses Jahr dazu auf, endlich den Fleischkonsum einzustellen. Das mag im Kern keine völlig verkehrte Idee sein, wird aber auf ziemlich alberne und vor allen Dingen auch arrogant-überhebliche Weise vorgetragen. Unsympathisch und eher störend. Davon werden aber die Finalzuschauer*innen eh nix mehr mitbekommen.

27. Moldau; „Trenulețul“, Zdob și Zdub & Frații Advahov (1. Halbfinale):
Wem Norwegen oder Lettland nicht freaky genug sind, kann sich mit Moldau und ihrem Lagerfeuer-Folklore-Zappler voll ausleben. Das ist unfassbar bescheuert, trashig und dämlich, aber deswegen auch ein sicherer Platz im Finale. Damit gewinnt man am Ende natürlich nicht, aber hat zumindest drei Minuten top unterhalten. Irgendwo sind wir hier ja immer noch bei einer Entertainmentshow.

28. Montenegro; „Breathe“, Vladana (2. Halbfinale):
Uff. Es gibt ihn jedes Jahr: Den schon vorab gesicherten Beitrag, um aufs Klo oder eine rauchen zu gehen. Montenegro sorgt 2022 dafür – jedoch nur im zweiten Semi. Dann ist nämlich für diese völlig altbackene, viel, viel, VIEL zu kitschige und dramatische Ballade schon alles gesagt. Das hätte Anfang der 2000er schon genervt.

29. Nordmazedonien; „Circles“, Andrea (2. Halbfinale):
Untypisch poppige Töne aus Nordmazedonien. „Circles“ ist ein klarer Anwärter für die internationalen Charts und nach dem ersten Hören des Refrains abgespeichert. Allerdings könnte der depressive, schwerfällige Sound im falschen Jahr dabei sein. Nach zwei Jahren Pandemie ist mit Sicherheit mehr Abriss gefordert. Für einen Vortrag am großen Samstagabend sollte es eng werden.

30. Malta; „I Am What I Am“, Emma Muscat (2. Halbfinale):
Malta muss die letzte Runde mit großer Enttäuschung verlassen haben. Da galt man einige Zeit als absolutes Favoritenland, final war sich Sängerin Destiny aber wohl zu sicher und schaffte lediglich Rang 7. Emma Muscat hat sich mit ihrem Team sogar in letzter Sekunde noch für einen anderen Titel entschieden und den ursprünglichen Beitrag gestrichen. „I Am What I Am“ ist cheesiger Gute-Laune-Pop fürs Frühjahr. Das ist süß, Hausfrauen-Musik der klassischsten Variante und löst damit eine Abwehrhaltung bei Befürworter*innen von Innovationen aus. Netter Song, aber vielleicht am Samstagabend nicht mehr dabei.

31. Niederlande; „De Diepte“, S10 (1. Halbfinale):
Nach über einer Dekade traut sich die Niederlande wieder einen Titel auf Landessprache einzureichen – und wird damit ihre Eurovision-Erfolgsgeschichte, die 2013 neue Fahrt aufnahm, weitererzählen. Sängerin S10 wird mit „De Diepte“ („Die Tiefe“) schönen, verträumten Singer/Songwriter-Dream-Pop liefern, der auf Englisch problemlos zum Hit werden könnte. Beim ESC wird aber auch das zumindest fürs Mittelfeld im Finale genügen.

32. Norwegen; „Give That Wolf A Banana“, Subwoolfer (1. Halbfinale):
Sehr verehrte Damen, Herren, alles dazwischen oder außerhalb: Norwegen fackelt wieder einen ab. Wer erinnert sich noch an den Interneterfolg „The Fox“ von Ylvis aus 2013? Gerüchten zufolge verbirgt sich hinter dem an MaskedSinger-erinnernden Act Subwoolfer das erfolgreiche Comedy-Duo. Ähnlich schräg und gleichzeitig faszinierend stampft „Give That Wolf A Banana“, das textlich auf dem allseits bekannten Märchen „Rotkäppchen“ beruht, straight Richtung Platz 1 im Televoting. Dance-Pop, den man exakt so beim Eurovision sehen möchte, der laut im Auto gepumpt werden will und absolutes Kultpotenzial mitbringt. Banger!

33. Polen; „River“, Ochman (2. Halbfinale):
Sehr spannender Beitrag aus Polen! Sänger Ochman präsentiert eine verschachtelte, hypnotische Moll-Pop-Ballade mit R’n’B-Einflüssen und Falsettgesang. Ein Song, der fordert, nicht darauf abzielt, unmittelbar ins Ohr zu gehen, aber deswegen auch wiedergehört werden möchte. Polen auf den Wegen von Duncan Laurences „Arcade“, wenn auch nicht ganz on point. Eine Top-10-Platzierung im Finale wäre fantastisch.

34. Portugal; „Saudade, Saudade“, MARO (1. Halbfinale):
Ist es Konsequenz? Ist es Arbeitsverweigerung? Ist es Tradition? Gefühlt weiß man – bis auf sehr wenige Ausnahmen – schon vor dem Hören, wie das Lied aus Portugal wohl klingen wird. Bombastfans, die mitgerissen werden wollen, fallen hier spätestens im Refrain die Augen zu, denn dann ist der Song auch schon auserzählt. Angenehme Hintergrundmusik, die gnadenlos an eine*r vorbeiflutscht und damit gleichzeitig auch das Ticket fürs Finale aus den Händen. Tüssi!

35. Rumänien; „Llámame“, WRS (2. Halbfinale):
Rumänien überrascht in 2022 mit einem super eingängigen Balkan-Electro-Dance-Pop, den man schon beim ersten Hören mitsingen kann. „Llámame“ ist keine große Gesangskunst, dafür einfach ein Sommerhit, wie er im Buche steht. Das macht Spaß und bringt selbst jeden ESC-Muffel zum Mittanzen.

36. Serbien; „In Corpore Sano“, Konstrakta (2. Halbfinale):
Serbien löst instantly ein Störgefühl aus. „In Corpore Sano“ ist kantig, verschachtelt, teils auf Serbisch und teils auf Lateinisch, fürs westliche Ohr eher ungewohnt – aber damit auch ein typischer, interessanter Beitrag für den größten Musikwettbewerb der Welt. Für Liebhaber*innen des Unkonventionellen.

37. Schweden; „Hold Me Closer“, Cornelia Jakobs (2. Halbfinale):
Nach einem schrecklich durchschnittlichen Beitrag im letzten Jahr geht Schweden in dieser Runde wieder in die Vollen und schickt eine Powerballade mit leichtem Schlagertouch, aber richtig guten Vocals. Ist wahrscheinlich für einen Siegertitel noch ein Stück zu wenig uplifting – eine Top 5-Platzierung wäre jedoch nicht überraschend. Toll!

38. Slowenien; „Disko“, LPS (1. Halbfinale):
Hut ab – Slowenien traut sich an einen ganz old-schooligen Disco-Sound heran. Das macht in den ersten zehn Sekunden neugierig und lässt schließlich nach drei Minuten voller Enttäuschung zurück. Bis auf einer guten Idee ist hier nämlich nichts geglückt. Langweilig und leblos. Eine Mogelpackung.

39. San Marino; „Stripper“, Achille Lauro (2. Halbfinale):
Eine goldene Eurovision-Regel besagt: Kopiere möglichst originalgetreu die Vorjahressieger*innen – wenn du absolut nicht vorhast, zu gewinnen. Das setzt San Marino ziemlich gekonnt um. Oder eben nicht gekonnt. Wie man mag. „Stripper“ ist Måneskin in a nutshell, die allerdings schon vor sich herschimmelt. Next.

40. Ukraine; „Stefania“, Kalush Orchestra (1. Halbfinale):
Der Beitrag, der schon beim Lesen absolute Gänsehaut bereitet. Ja, die Ukraine nimmt teil. Wahnsinn. Schon jetzt hagelt es unzählbare Solidaritätspunkte seitens des Televotings, schon jetzt ist häufig von einem Sieg zu lesen – wir sind uns da aber noch nicht ganz sicher. Musikalisch bietet „Stefania“ jedenfalls eine coole, spannende Nummer, die sich aus 90s-Hip-Hop-Elementen in den Strophen, einer catchy Flöten-Hook und leichtem Klagegesang im Refrain zusammensetzt. Eine Platzierung auf dem Siegertreppchen ist safe, aber Platz 1? Dafür gehen zu gute andere Tracks ins Rennen. Es bleibt spannend.

Fazit & Prognose

Ein Wettbewerb, der schon weit im Voraus seine Schatten wirft und es in 2022 alles andere als leicht hat. Dafür haben sich einige Teilnehmer*innen äußerst Mühe gegeben, mit tollen Beiträgen hervorzustechen – andere liefern eben Durchschnittskost, wirkliche Rotze bleibt aus. Stark hervorzuheben ist der Trend, auf Landessprache oder anderen Sprachen zu singen und viele traditionelle Elemente einzubauen. Interessant: Ein klarer Favorit setzt sich bisher nicht ab! Frankreich? Erneut Italien? Norwegen? Doch die Ukraine? Zieht Schweden mit dem siebten Sieg mit Irland gleich? In den nächsten Wochen darf wild spekuliert werden. Einschalten lohnt.

Unsere Prognose für die Gewinner*innen des 1. Halbfinales: Albanien, Österreich, Bulgarien, Dänemark, Kroatien, Lettland, Moldau, Niederlande, Norwegen, Ukraine

Unsere Prognose für die Gewinner*innen des 2. Halbfinales: Australien, Belgien, Tschechien, Estland, Finnland, Georgien, Polen, Rumänien, Serbien, Schweden

Den Eurovision Song Contest 2022-Sampler kannst du dir hier als CD oder hier als Vinyl kaufen.*

Hier nochmal der Siegertitel aus 2021:

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Die Rechte fürs Cover liegen bei EBU/Eurovision Song Contest.

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