St. Vincent – All Born Screaming

St. Vincent liefert mit All Born Screaming ihr bisher intimstes Album ab

St. Vincent ist bekannt für ihren komplexen musikalischen Stil – so wabert ihr Gitarrenspiel und -ton zwischen Abgrund und Absurdität – und ihrem extravaganten Auftreten zwischen Tuxedos, Pailettenkleider und farbintensive, einzigartige Gitarren. Während das 70s Glamrock Album Daddy’s Home, in dem sie mit ihrem wegen Finanzverbrechen verurteilten Vater abrechnete, möchte die dreifache Grammy-Gewinnerin in ihrem siebten Studioalbum zurück zu ihren Wurzeln; und dies soll etwas heißen, denn ihre Collegeband hieß „The Skull Fuckers“. Das Ergebnis ist ein existenzielles, high-fashion Punkmärchen in dem St. Vincent einen Einblick in ihr Innerstes gewährt.

„I feel like graffiti on a urinal”

Der Sound des Albums ist schwer zu verorten. Während von außen All Born Screaming vermutlich, als etwas zwischen Avantgardemusik, präzise-kuratierten Progressive Rock und Electropunk verstanden wird, findet St. Vincent eine eigene politische Genrebeschreibung: Post-plague Pop. Existenziell angefressen findet St. Vincent folgende Worte für die auf sie fast therapeutische Wirkung des Entstehungsprozesses dieses Albums: „Ich stehe auf der Schwelle zwischen Leben und Tod und versuche damit klarzukommen.“ So verbrachte St. Vincent ihre Tage und Nächte zum ersten Mal allein im Tonstudio. „Bei dem hier musst ich einfach ganz allein durch die Flammen gehen […] Ich musste allein mit mir selbst in einem Raum sitzen, drauflos singen, mit modularen Synthesizern herumspielen, Knöpfe drehen, Stromflüsse umleiten, und dann diese sechs Sekunden ausfindig machen, in denen alles passt“.

Unterstützung bekam sie allerdings trotzdem. Foo Fighters Frontmann Dave Grohl spielt sowohl auf dem bedrohlich wirkende Broken Man in dem die Nirvana Schlagzeuglegende mit einem verzerrten Gitarrenriff des „king-size killers“ St. Vincent konkurriert und dem durchkomponierten Alt-Rock Song Flea. Begleitet durch ein funky Gitarrenriff wird mit Big Time Nothing das Ende der ersten, rauen Hälfte des Albums eingeleitet, in dem sie mit kindlicher Wut all die kalten, elterlichen Vorwürfe gegen vermeintlich falsche Verhaltensweisen ironisiert.

Der punkige Zorn der ersten Hälfte des Albums wird mit Violent Times zu einem jähen Ende gebracht. St. Vincent verhandelt in diesem Song, der nahezu wie ein Kandidat für ein James Bond Titellied klingt, die nahezu anarchistische Unausweichlichkeit des Dualismus zwischen Liebe und Tod. „All of the wasted nights chasing mortality, when In the ashes of Pompeii, Lovers discovered in an embrace for all eternity.“

Der dem Album seinen Namen gebende Song All Born Screaming ist das siebenminütige Finale St. Vincents Avantgarden-Electropunkmärchens. Der Song beginnt fröhlich und könnte fast als Surf Rock und 70s Popmusik-Mix missverstanden werden. Auf einmal Dunkelheit und Stille: Wir hören nun bloß noch einen rudimentären Beat und ein dumpfes Pfeifen, der an den Herzschlag eines Kindes im Mutterleib erinnert. Licht kommt rein, wenn die engelsgleichen Gesänge mit den Worten „All born screaming“ einsetzen. Die Geburt beginnt. Der Beat baut sich sukzessive auf, wird komplexer und farbenfroher – nahezu hektisch erinnert er an ein an einem vorbeiziehenden Leben. Erst als er stoppt und bloß noch die Gesänge bleiben, schauen wir zurück und schlafen auf unserer Veranda mit dem Blick in die Ferne ein.

St. Vincent neues Album und dessen Titel All born screaming erinnert an einen anarchistischen Schrei nach einem Weltenbrand und könnte gleichzeitig als demokratischer Leitsatz nach Gleichheit und Akzeptanz dienen. Zudem vermittelt es ungebrochen das existenzielle Gefühl der Nervosität. Eine Ahnung, dass wir, da wir am Leben sind, gezwungen sind herauszufinden, was uns antreibt. Das Album ist eine Vertonung unseres inneren nervösen Gefühls; der Stimmen in unserem Kopf, die uns durch den Tag bringen – oder uns davon abhalten, uns selbst zu verwirklichen.

Ob nun Avantgarde Popmusik mit Reggae Beat wie So Many Planets oder anarchistische Lyrics getrieben von einem Synth Riff in The Power’s Out: All Born Screaming wirkt zu Beginn überfordernd, aufgrund der unzählige Stilbrüche, die dieses Album vollzieht, allerdings hinterlässt es nach mehrmaligen Hören ein dumpfes, nervöses Gefühl in der Magengegend und man kehrt selbstzweifelnd zu dem Album zurück.

Und so hört sich das an:

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