Überraschung: Über Nacht erscheint mit „12“ ein neues Album von AnnenMayKantereit. Christopher und Jonas sind sich uneinig, was denn nun gut und was nicht so gut ist.
Jonas sieht das so:
Irgendwann musste es ja so weit sein: Das erste große deutschsprachige Pandemie-Album schleppt sich aus den Untiefen des Lockdowns hervor. Ausgerechnet AnnenMayKantereit widmeten sich gleich nach dem Abbruch ihrer großen Arena-Tour im März dem Schreiben neuer Songs. Einige Proberaumzusammenkünfte und ein Eifel-Trip später stand im Mai bereits ein ganzes Album, das insgesamt 16 Songs beinhaltet – und trotzdem „12“ heißt. Zum Glück nähert sich die Band entgegen Erwartungen nicht weiter dem Deutsch-Pop, sondern setzt Mays markante Kratz-Stimme in neue musikalische Umgebungen.
Würden andere Künstler*innen selbst aus der Isolationssituation über allgemein-gültige Themenkomplexe schreiben, so widmen sich die Ur-Kölner ausnahmslos dem Leben während einer Pandemie. Gerade das erste Albumdrittel behandelt daher eindeutig Effekte des Lockdowns auf die*den Einzelne*n. Sehr konkret wird das in „Gegenwartsbewältigung“, in dem May gar plakativ in den Raum stellt: „Ich glaub’ Corona ist bekannter als Jesus und der Mauerfall zusammen.“ Hier, zu Anfang des Albums, liegt der Fokus auch fernab der Songtitel noch ganz klar auf dem Faktor Zeit und der Reflexion von gestern, heute und morgen.
Im Albumverlauf – die Band fordert dazu auf, das Album am Stück zu hören – löst sich dieser Fokus immer mehr. „Aufgeregt“ beispielsweise behandelt zwar eigentlich das Wiedersehen nach dem ersten Lockdown, lässt sich jedoch auf nahezu jede Wiederkehr-Geschichte übertragen. Umso weiter die Zeit fortschreitet, umso auffälliger wird der Tagebuchcharakter, der die Songs durchzieht. So richtig unangenehm wird das im langatmigen und trägen „Das Gefühl“. Dass der Band ein ähnlicher Ansatz auch gelingen kann, zeigt wenig später „Die Letzte Ballade“, die ungeschönt politisches Zeitgeschehen kommentiert. „Paloma“ kann zuvor die Hypothese widerlegen, AnnenMayKantereit seien nicht mehr dazu im Stande Lieder ohne Virusbezug zu schreiben. Behandelte die Band auf „Sieben Jahr“ schon unverblümt den Verlust eines geliebten Menschen, so rollt das Stück die Situation noch einmal optimistischer auf – samt kleiner Spanisch-Einlage.
Betrachtet man die Songs unabhängig ihrer Inhalte, so muss man der Band eines hoch anrechnen: Statt die bequeme Zufahrt über die Indie-Pop-Avenue zu wählen, besteigen AnnenMayKantereit – jetzt mit dem halben Ausstieg von Huck wirklich nur noch Annen, May und Kantereit – den Berg aus Herausforderungen über Schleichwege. Abgesehen von den spontanen Sessions – stellenweise lief die Aufnahme zwischen den Takes mit, teilweise improvisierte May – bietet „So Laut So Leer“ als einziger Song mit Schnips-Swing und reduziertem Schlagzeug ein wahrhaftiges Back-To-The-Roots-Spektakel. Ansonsten schiebt sich Mays Klavier prominent in den Vordergrund und verleiht den meisten Stücken so ihr Leben. Gerade die erste Albumhälfte ist daher näher an Art- als am Indie-Pop, auch wenn die mal flachen Texte diesen Eindruck etwas schmälern: Das „Intro“ könnte einem James Bond-Streifen entstammen, „So Wies War“ übt sich an A cappella und „Zukunft“ eint gefühlvolles Piano mit jazzigen Gitarren. Wirklich gut funktioniert zudem der Klavier-Gitarren-Hybrid „Gegenwart“, der zwischendurch auch ein paar saftige Synthesizer-Arpeggios und Bässe spendiert bekommt.
Leider verlieren andere Momente ihrer Spontanität wegen an Glanz: Das „Outro“ ist der Bezeichnung als Song eigentlich nicht würdig, „Spätsommerregen“ leidet unter seinem flachen Text und „Warte Auf Mich [Padaschdi]“ langweilt sein repetitiver Chorus vermutlich selbst. „12“ ist trotz alldem ein mutiges Album einer Band, die Erwartungen stets von sich weist. Und da werden noch weitaus schlimmere Pandemie-Alben folgen.
Christopher sieht das teilweise anders:
Ein historisches Ereignis, in dem wir gerade alle stecken. Das, was Corona mit einem macht und wie man damit umgeht, ist höchst individuell. Vieles ändert sich im Laufe der Zeit. Man sucht nach neuen Möglichkeiten, anderen Wegen, manchmal auch nach sich selbst. AnnenMayKantereit halten diesen Prozess nun auf einem Konzeptalbum fest.
„… und auf der Menschenuhr schlägt eine neue Zeit – 12!“ lauten die letzten Worte von Henning May im „Intro“. Anscheinend ist alle Hoffnung bereits verloren. Nicht mehr 5 vor 12, sondern voll. Allerhöchste Eisenbahn, Alarm, Notstand. „12“ beginnt am Anfang der Pandemie irgendwo im März und endet im Jetzt. Die Kölner bzw. Wahl-Berliner, die – nachdem Bassist Malte auf unbestimmte Zeit ausgestiegen ist – seit kurzer Zeit wieder in der ursprünglichen Triobesetzung bestehen, vertonen in drei Teilen die drei Etappen des Jahres 2020. Ausweg- und Fassungslosigkeit im Frühjahr, das Aufblühen des fast wieder normalen Lebens im Sommer und die innere Unruhe im Herbst, die dadurch ausgelöst wird, dass man nicht weiß, wohin das Spektakel noch führen soll.
Dass es sich bei AnnenMayKantereit nicht um die kleinen Newcomer handelt, die kurz mal einen Trendhit für Student*innenpartys landen, sollte nun auch bei den letzten Zweifler*innen angekommen sein. Mit Sicherheit ist der Stil und besonders die Thematik der Songs Geschmacksache und auch ein Stück weit Generationenmusik – und trotzdem scheint die Anhängerschaft stetig zu wachsen, sodass nach dem Übererfolg „Alles nix konkretes“, das sich mal eben über drei Jahre in den deutschen Albumcharts aufhielt, auch mit „Schlagschatten“ ein echt guter Longplayer vorlag. Christopher, Henning und Severin sind eben ein bisschen mehr als Post-Teenager-Schwermut, nämlich ziemlich talentierte Musiker.
Genau das lässt sich auch bei „12“ nicht abstreiten. In weniger als 38 Minuten rasseln die Jungs 16 teils sehr kurze Songs runter, an denen Malte im Songwriting großteilig noch beteiligt war. Instrumental kann die neue Platte nicht weniger Musikalität als die Vorgänger. AnnenMayKantereit definieren sich erneut als Menschen, die ihre Werkzeuge in der Hand auch bedienen können und improvisieren auf sämtlichen Gegenständen, die als Percussion dienen, groovige Beats, zaubern mit tiefen Tönen auf dem Klavier Endzeitklänge und machen mit mehrstimmigen Choreinlagen Lagerfeuerstimmung. So weit, so gut, so typisch. Dennoch ist das finale Produkt „12“ anders als die vergoldeten Vorreiterwerke, da in der Produktion nur das Wesentliche getan wurde, um einen roughen, unsauberen, demoartigen Sound beizubehalten.
Mit dem muss man klarkommen, um „12“ mögen zu können. „Das ist Melancholie!“ („Das Gefühl“). Knatschen, Rascheln, Klappern. Alles, was ansonsten neuaufgenommen und weggebügelt wird, liefert hier Atmosphäre. Lieder, die mühelos so auf der Bühne live reproduziert werden könnten. Ein wenig zu authentisch meint es der erste Block. Mantra-artig wiederholen sich in gleich mehreren Songs einige Zeilen dermaßen oft, dass man den Lautsprechern „Jaaaa, ich hab’s verstanden“ entgegenschreien mag. Henning berichtet davon, dass nichts mehr so wieder sein wird, wie es jemals war („So wies war“), beschreibt leere Geschäfte und stehengebliebene Kultur („Gegenwart“) und beschreibt nochmal, dass eigentlich Hopfen und Malz verloren sind. Dafür wählt er die Worte „So wie es war, wird es nie wieder sein“ („Zukunft“). Ist der Track doppelt? Déjà-vu. Skip-Taste.
Nachdem also die erste Viertelstunde zwar tief in die Depression blicken ließ, aber gleichzeitig auch nahezu ohne Melodien gejammert wurde, klärt der Himmel auf und „12“ wird plötzlich richtig gut. Der Moment, in dem Corona ein wenig an Dauerhaftigkeit verliert und die Sonne aufkommt, bringt einen verspielten Mittelteil, der beweist, warum man AnnenMayKantereit geil findet. Egal, ob das in der Rhythmik mehrfach wechselnde „Spätsommerregen“ mit sensationellem Klangbett, Fernweh nach Meer mit Akustik-Gitarren in „Warte auf mich“, spanische Lyrics in „Paloma“ oder der Latin-Bachata-Hit „Ganz egal“, der in einer aufgepimpten Version auch in Open-Air-Clubs auf Ibiza laufen könnte. „Aufgeregt“ hätte mit seiner kuriosen Alltagsbeschreibung über die Protagonist*innen sowie der beschwingten Hook auch Platz auf einem der beiden vorigen Alben gefunden.
Im letzten Viertel fährt die Stimmung wieder herunter. Wo jedoch anfangs der Ausweg fehlte, findet die Band ganz besonders mit „Die letzte Ballade“, die ein wenig an das Glanzstück „Schon krass“ von „Schlagschatten“ erinnert, die passende Schwere in rhetorischen Fragen und auch einen Haufen Mut, um noch Antworten suchen zu wollen. Dadurch gelingt der Rauswurf mit mehr Treffsicherheit als der Einstieg und lässt die Zuhörer*innen nicht völlig desolat zurück.
„12“ ist ein wenig mainstreamiges Album, das nicht auf Nummer sicher geht. Einige Tracks hätten in der Instagram-Story der Band oder als netter „Hallo, wir leben auch noch“-Ruf auf Youtube gereicht und benötigen keine Verewigung auf einer LP, andere sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort und bieten Identifikationsfläche in dem bevorstehenden, gruseligen und unsicheren Winter. „Worüber würde ich singen, wenn wir uns alle im Chaos verlieren?“ („Die letzte Ballade“). Lasst uns darüber jetzt noch nicht nachdenken, sing einfach weiter, Henning!
Hier kannst du dir das Album kaufen.*
Christopher ist die Tage außerdem in eine Pressekonferenz mit der Band geraten. Seine Eindrücke gibt es hier.
Mehr AnnenMayKantereit gibt es hier.
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Instagram
Die Rechte für das Cover liegen bei Irsinn Tonträger.
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Ich habe selbst beim Küssen ein Gewissen – doch Du, Du bist einfach makellos.
Du hast das Diner und die Sprache auf Deiner Seite! Und ich, Ich bin nur wiedermal jemand, der Deinen Klängen folgt und optimistisch in die Zukunft schaut. Wie gern würde ich einen Song zu solch emotionalen Themen mal Klänge schenken! Ich kann vielleicht nicht beeindruckend mit Textproben und Gesangsproben erscheinen und doch hoffe ich auf Euch, als Band, die neue Musiker in die Welt holt!
– Ich bin ganz frisch und neu und möchte einfach meinen Tönen eine Geschichte verleihen und genau das ist, was ihr perfektioniert (genau wie in meinem Lieblingssong „Tom’s Diner“). Ihr seid da und doch in einer vergangenen Zeit. Trotzdem zollt es all’ meinen Respekt! Doch denkt Euch mal, was würde nur so ein Song für Euch aussagen, wenn ihr diesen mit einem Fan und seiner/e Geschichte schreibt ( I mean men, female, transgender and all u can think about). I’m sorry if i don’t use the right time! Maybe you have some Hope to sale.
Hallo!
Vielen Dank für diese Rezension! Ein wenig zu kurz kommt mir hier aber der Song “So laut so leer”, der doch ziemlich genau das Gefühl vieler junger Menschen in der Pandemie beschreibt, wenn immer wieder Politiker mit hohlen Phrasen und Versprechungen die Leute draußen im Lande für dumm verkaufen. Wie oft ich in diesen Wochen und Monaten schon der Regierung dieses Lied entgegen geschrien hätte weiß ich gar nicht. Und irgendwie denke ich, dass es auch all den Musikern da draußen ähnlich gehen dürfte: eben “So laut so leer”.
“12” ist damit zumindest für mich das derzeit politischste Album der Band. Und es ist ein – wie ich als Fan ganz offiziell subjektiv empfinde – kraftvolles Statement einer wunderbaren Band, von der wir hoffentlich noch viel Neues hören werden.