Kitschmas. Warum ist auf dieses raffinierte Kompositum eigentlich niemand anderes bisher gekommen? Ist Weihnachten für viele doch der immer wiederkehrende Albtraum an Cheesiness und künstlichem Wir-haben-uns-alle-so-lieb-Getue, ist es für einige aber auch gleichzeitig „the most wonderful time of the year“. Ähnlich verhält es sich ja auch mit Annett Louisan.
Wer in den 16 Jahren, die die 1,52m große Persönlichkeit aus Havelberg bereits in der Musiklandschaft gastiert, immer noch keinen Gefallen an ihrer unvergleichlichen Art gefunden hat, sollte es wohl einfach lassen. Umso schöner, dass Annett sich von den immer wiederkehrenden Kritikhageln wenig beirrt fühlt und konsequent weitergeht. Mit fast 1,5 Millionen Verkäufen und sieben Top-Ten-Alben gibt es auch wenig Anlass dazu, das Konzept zu verändern. Stattdessen hat Annett mit ihrem letzten Studiowerk „Kleine große Liebe“ bewiesen, dass sie für Experimente durchaus zu haben ist, die dann auch noch glücken.
Etwas anders verhält es sich jedoch mit ihrer Vorliebe für Coverversionen. Hat „Berlin, Kapstadt, Prag“ (2016) schon etwas herumgedümpelt, hat das „Kitsch“ in diesem August nur verschlimmbessert. Annett ist nun mal keine Sängerin im klassischen Sinne, sondern eine Geschichtenerzählerin. Ihr Interpretationsvermögen und ihre Art Stimmungen zu kreieren sind sensationell, ihre Range nicht so. Somit ist der Versuch, ihre Lieblingssongs der letzten Jahrzehnte im Latin-Bossa-Style neuaufzulegen, zwar ganz niedlich, aber leider halt auch nur niedlich. Möchte ein Album niedlich sein? Nur drei Monate später gibt’s noch eine „Kitsch“-Zugabe. Aufmerksame Leser*innen dürfen nun raten, wie diese wohl inhaltlich ausschauen könnte. Ja, die Louisan liefert mit Kitschmas ihre ersten Weihnachtscoversongs.
Wer sich in dem Universum der 43-jährigen auskennt und wohlfühlt, kann sich in seinem inneren Ohr bereits vorstellen, wie das klingen mag – nämlich ganz passend. Eigentlich sogar verwunderlich, dass es so lange gedauert hat, bis Louisan die Jingle Bells läutet. Stimme und Sound bieten sich doch förmlich an. Doch Corona sei Dank scheint 2020 ein wenig Zeit dafür zu sein, sich auch um solche kleinen Projekte mal zu kümmern. Als Fazit kann vorweg genommen werden: es ist schade, dass sich Annett Louisan nur an eine drei Tracks-EP wagt, wo sie auf „Kitsch“ gleich 14 Mal mit der Machete durch den Pop-Horrormix-Dschungel lief und nun nur für gerade einmal zehn Minuten mit Stiefeln auf den verschneiten Weihnachtspfaden trampelt.
Was „Kitsch“ vergeigt hat, macht Kitschmas super und umgekehrt. „Kitsch“ wählte zu viele Titel, denen Louisan gesanglich nicht gewachsen ist und die, auf ihre Stimme mit Latin-Rhythmen heruntergebrochen, einfach zu wenig mitreißen. Doch Weihnachtssongs funktionieren anders. Softer, zurückgefahrener, intimer, emotionaler – und das kann sie. Zwar liegen mit „The Christmas Song“, „Have Yourself A Merry Little Christmas“ und „All I Want For Christmas Is You“ drei Lieder vor, die von 238 unterschiedlichen Interpret*innen gesungen wurden, aber eben nicht von 798 wie „Last Christmas“ oder „White Christmas“. Dass sich Louisan ausschließlich für englische Stücke entscheidet, ist wiederum nicht so erfreulich. „Leise rieselt der Schnee“ oder „Süßer die Glocken nie klingen“ wären mit Sicherheit Goldstücke geworden.
Der Einstieg mit „The Christmas Song“ ist gleichzeitig das Spekulatiusbonbon (setzt gern eure Lieblingsweihnachtssüßigkeit vor „Bonbon“). Großes Orchester mit viel Harfe und Jazzbesen, dazu die süße Stimme und eine der besten Weihnachtskompositionen überhaupt. Klingt wie eine Gedankenreise durch einen gepuderten Winterwald, dick eingehüllt in einen selbstgestrickten Schal und mit Handwärmern in den Manteltaschen. Das akustische und verträumte „Have Yourself A Merry Little Christmas“ passt ebenso zu Punsch mit Zimtstange auf der heimeligen Couch, eingemummelt in einer dicken Decke, frei von Corona-Sorgen. Mit „All I Want For Christmas Is You“ wird musikalisch am meisten gewagt. Die ursprüngliche Songstruktur wird ein wenig aufgebrochen und umgestellt, an einigen Stellen gekürzt und dafür mit leicht beschwingtem Country-Vibes und Clapbeat aufgefüllt.
Kitschmas langweilt nicht – was bei drei Songs auch eine Schandtat wäre – und wählt den passenden Grat zwischen Louisan-Stil, kleinen kreativen Momenten und wohliger Atmosphäre. Davon hätten es gerne vier bis fünf Versuche mehr sein dürfen. Sollten 2021 also weiterhin Livekonzerte und intensive Studioaufnahmen mit eigenen Titeln verhindert sein, darf im nächsten Winter ein komplettes Weihnachtsalbum folgen, das auch deutsche Classics louisanieren sollte, vielleicht einen ganz neuen Weihnachtssong liefert und den leichten Fehltritt „Kitsch“ wieder vergessen lässt.
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