Modern und aktuell zu sein ist sowas von nicht 2022. Retro is the word. Das war zwar besonders mit Klamotten irgendwo schon immer so, sodass gewisse Stile von vor einigen Jahrzehnten mit absoluter Sicherheit zurückkommen werden. In der Musik hingegen ist es aber gegenwärtig so auffällig wie noch nie. In einer Zeit, in der Spotify einem eine unüberschaubare Menge an neuen Tracks vorschlägt, suchen viele Hörer*innen ein wenig das Gefühl von früher zurück. Avril Lavigne steuert nun einen Teil dazu bei.
Für die Generation Y ist die 37-jährige Kanadierin eine Superheroine. Kurz nach der Jahrtausendwende gab es wohl kaum einen mp3-Player – wer kennt ihn noch? – ohne den belebten, frischen, mitreißenden und ohrwurmartigen Sound des Mädels, das mit ihrer Art, eigentlich gar nicht cool sein zu wollen, unglaublich cool war. Besonders aber textlich sprachen die sensationellen Hitalben “Let Go” (2002) und “Under My Skin” (2004) sehr vielen aus der Seele und sind auch knapp zwei Jahrzehnte später noch Stücke voller Zeitgeschehen.
Danach allerdings wurde es zunächst kontinuierlich trivialer im Sound und irgendwann einfach nur noch peinlich. Besonders ihr self-titled Album “Avril Lavigne” aus dem Jahr 2013 stellt musikalisch den absoluten Tiefpunkt dar. Gleichzeitig gab es in der letzten Dekade aber auch auf anderem Wege bei der Blondine mit den markanten Smokey-Eyes eine wahre Talfahrt: Ihre Lyme-Borreliose-Erkrankung fesselte sie mehrere Monate ans Bett und brachte ihr den Zugang zur Religion zurück. Diesen Wendepunkt thematisierte sie zwar auf persönlichem, aber leider erneut auf eher musikalisch durchwachsenem Niveau. Auf ihrem letzten Album “Head Above Water” aus 2019 lässt sich das nachhören.
Zwar ist die Corona-Pandemie alles andere als eine zwanglose Zeit – in Avril scheint sie jedoch den Wunsch nach Ausbruch und Spaß zu erwecken. Mit Love Sux ist Avril so zurück, wie sie eigentlich die meisten im Kopf haben und auch mögen – laut, energetisch, rotzig und treibend. Das hat man sich lange gewünscht, nun ist es auch da.
Es passt eben zur momentanen Bewegung: Man möchte ein Stück weit the good old times zurück. Mehr Halt, Sicherheit, Unbeschwertheit. Das Gefühl, als alles so leicht war. Genau das gibt Avril auf eine fast schon niedlich-naive Weise zum Besten. Mit eindeutig zu kurz geratenen 33 Minuten, die sich in zwölf Tracks gliedern, ballert Avril fast pausenlos durch ihr neues Material und haut den Zuhörer*innen eine treffsichere Pop-Punk-Melodie nach der nächsten um die Ohren.
Die absolute Stärke des Albums ist gleichzeitig eine Schwäche, denn so wie jetzt klang Avril zuletzt auf ihrem Drittwerk “The Best Damn Thing”. Besonders diejenigen, die bis heute von dem Hit “Girlfriend” nicht genug kriegen konnten, bekommen nun quasi die Wiederholung, das Remake, das Reboot und die 2.0-Version auf einmal geliefert. Leider klingt Avril um Längen nicht so tiefgründig und lyrisch essenziell wie auf ihren zwei ersten Werken, aber immerhin halt irgendwie wie damals. Erwartet man also drei Schritte zurück und quasi keinen nach vorne, ist man bei Love Sux genau richtig.
Genau das feiert die Gute dann aber auch bis zur letzten Sekunde. Avril selbst sagte, dass sie ein reines Album voller Fun veröffentlichen wollte und gar keine Lust auf Balladen hatte. Hat sie auch genau so umgesetzt. Das ist größtenteils gut sowie auch ein bisschen schade. Ein erwachsenes “I’m With You”, “How Does It Feel” oder zumindest ein “When You’re Gone” hätten nicht geschadet.
Stattdessen gibt’s mit “Cannonball” aber direkt einen Orkan als Opening, der einem im Kampfansagen-Modus nur so wegbläst. Super. Da fängt das Teenie-Herz an zu leuchten und zu hüpfen und macht das Alter im Perso spürbar jünger. Auch das catchy Duett “Bois Lie” – eine kleine Hommage an “Sk8er Boi” – mit US-Rapper Machine Gun Kelly ist so 2000er. Riecht in jeder Sekunde nach Good Charlotte, Simple Plan und anderen Nostalgie-Bands. Die Vorabsingle “Bite Me” ist eben jenes “Girlfriend”, von dem gerade schon gesprochen wurde. Irgendwie cute. In dem Titeltrack “Love Sux” liefert Avril gar die stärkste Hook seit Ewigkeiten.
Auf “Avalanche” wird es dann doch ein wenig rührselig-cheesy, aber in einem Rahmen, wie es eine derartige LP eben darf. Ja, das ist schön. Ende. “Dare To Love Me” ist ähnlich, nur nicht so schön verträumt und uplifiting. Leider gibt’s aber auch mit “Déjà Vu”, “F.U.” und “Kiss Me Like The World Is Ending” die Kopie von der Kopie von der Kopie. Lief das Lied nicht grade schon? Ein wenig mehr Abwechslung hätte dann doch ganz gut getan. Dafür wird zum krönenden Abschluss mit “Break of a Heartache” in gerade einmal 1:51 Minute und einem “Oh oho”-Mitsingrefrain alles gegeben, um das Ding zufriedenstellend zu beenden.
Hat man sich nach dem ersten Durchlauf einmal an das intellektuelle Level angepasst, kann man spätestens im zweiten Durchlauf die gute halbe Stunde mit Guilty-Pleasure-Scham durchwippen. Love Sux interessiert sich zero dafür, neue Fans zu gewinnen. Genauso interessiert es sich zero dafür, einen Grammy zu gewinnen oder für tolles Songwriting belohnt zu werden. Dafür sind die kurzlebigen Songs aber ein Stück Damals. Und das können wir wohl gerade so sehr gebrauchen, wie wir es wohl niemals gewagt hätten zu denken.
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