Aufgrund gesundheitlicher Probleme verließ Frontsänger Nicholas Müller 2014 seine Band Jupiter Jones nach über zwölf Jahren Bandgeschichte. Mit dem Album “Weit Weg Von Fertig” kehrte der Sänger, mit der markanten Stimme 2015 zurück. Gemeinsam mit seinem langjährigen Freund Tobias Schmitz gründete er die Band Von Brücken. Für Alina ist das Werk eines der besten deutschen Pop-Alben des Jahres 2015. Jonas hingegen erwartet “hypothetische Scheiß-Musik”. Oder vielleicht doch nicht?
Alina findet:
Was war das für ein Schock, als Nicholas Müller 2014 die Band Jupiter Jones verließ. Eben noch der große Erfolg mit dem Song „Still“ und dann schon das Ende. Und obwohl ich vor allem mit den Punk-Rock Einflüssen der Band relativ wenig anfangen konnte, hat das auch mich schockiert. Denn: So ein Talent und so eine Stimme, wie Nicholas Müller sie besitzt, gibt es selten. Umso schöner waren im Jahr 2015 die Neuigkeiten über ein neues Projekt von Müller. Von Brücken.
Ein Projekt, das er gemeinsam mit Tobias Schmitz, einem langjährigen Freund und Wegbegleiter des Jupiter Jones Live-Kaders, aufgezogen hat. Und dessen Arbeit sich im Debütalbum (und leider auch einzigem Album) „Weit Weg Von Fertig“ krönt. Vierzehn Songs beinhaltet das Werk, die allesamt großartig gelungen sind. Während Nicholas Müller für den Gesang und die Texte zuständig ist, übernimmt Tobias Schmitz die Kompositionen und die Tasteninstrumente. Feinster Pop trifft auf Indie-Klänge und eine eindrucksvolle Stimme auf bemerkenswert geniale Texte.
„Lady Angst bittet zum Tanz / Ich nehm’ die Beine in die Hand/ Ich sing’ nie mehr die alten Lieder /Und ich brenne den Tanzsaal nieder“ – herausragend ist das Album vor allem deswegen, weil die Texte ins Mark treffen. Der Grund, warum Müller damals bei Jupiter Jones aufhörte, war zwar schon vorher bekannt: Seine Angststörung und Panikattacken machte es ihm gerade am Zenit des Ruhms nicht mehr möglich auf einer Bühne zu stehen. Und trotzdem schaffen es Songs wie „Lady Angst“ erschreckend ehrlich und genau mit den richtigen Worten die Thematik noch einmal ganz neu aufzugreifen. Wie offen und aufrichtig auf „Weit weg von fertig“ mit psychischen Problemen umgegangen wird, ist große Klasse und unglaublich wichtig!
Aber auch die anderen Songs besitzen Tiefgang, sind rhetorische brillant getextet und entführen in einen nachdenklichen, melancholischen Kosmos. Wenn auf „Gold gegen Blei“ der Mensch mit all seinem Leistungsdruck, dem Funktionieren und Streben nach Macht dargestellt wird und Nicholas Müller mit dem Satz „Ich bin einer von Euch“ aufzeigt, dass man eigentlich viel mehr einfach nur Mensch sein sollte. Wenn er auf „Blendgranaten“ politisch wird und die rechte Strömung adressiert („Ihr seid Blendgranaten/ Voller leerer Parolen/Und ihr baut mein Zuhause kaputt“). Oder wenn er auf „Dann sammel ich Steine“ die Liebe zu seiner Tochter bekundet („Das du mich jetzt nicht mehr los wirst/ Ich hoff das wird dir gefallen“).
„Weit Weg Von Fertig“ vermag Lyrics mit wahnsinnig gut arrangierten Instrumenten zu mischen, wodurch die Songs an unglaublich viel Tiefgang und Emotionalität gewinnen. Kein Song klingt wie der andere. Feinfühlig werden sehr schwere Themen angesprochen, der Zuhörer oder die Zuhörerin wird zum Mitdenken angeregt und der zugleich harmonische aber auch leicht bedrückende Unterton geben das gewisse Etwas. Im Fokus des Ganzen steht aber die Stimme von Nicholas Müller. Die Songs leben von seiner markanten Stimmfarbe. Er haucht ihnen Leben ein, erzählt authentisch seine Geschichten, gibt tiefe Einblicke in seine Gedankenwelt und transportiert feinfühlig seine Gedanken und Gefühle. Gerade wegen der Schwere der Songs ist „Weit weg von fertig“ allerdings kein Album, das man „mal eben“ hören kann. Man sollte sich Zeit nehmen und die Songs öfters hören, damit sie sich vollends entfalten können.
Neu anzufangen ist nie leicht. Besonders nicht, wenn man alles hinter sich lässt, um zu heilen und gesund zu werden. Dass Nicholas Müller auf einem guten Weg ist, beweist „Weit weg von fertig“ mit all seinen Facetten. Aber wie der Titel schon sagt, ist dieser Prozess des Heilens noch lange nicht abgeschlossen. Dennoch ist es toll, wie offen er über die Thematik spricht und wie sehr Zwischenmenschlichkeit im Fokus des Albums steht. Die Zusammenarbeit zwischen Müller und Tobias Schmitz erscheint sehr harmonisch und homogen, was sich auch im Gesamteindruck des Albums widerspiegelt. Und in den vergangenen Jahren auf der Bühne. Vor allem in der Kulturkirche in Köln verzauberten Von Brücken immer wieder die Zuschauerinnen und Zuschauer. Abseits davon ist auch Nicholas Müllers Biografie „Ich bin mal eben wieder tot. Wie ich lernte, mit Angst zu leben“ wärmstens zu empfehlen. Denn über psychische Erkrankungen kann und sollt nie zu wenig geredet werden – und seine Geschichte ist mehr als bewegend.
Jonas entgegnet:
Die Suche nach Schnittmengen zwischen den Musikgeschmäckern von Alina und mir fällt ein wenig konträr der momentanen Suche nach Corona-Infektionen im Bekanntenkreis aus: Spärlich gesät sind die einen, die anderen hingegen sprießen wie Frühlingsblümchen aus dem Erdreich (die Infektionen natürlich). Es tut mir daher leid das hier so direkt sagen zu müssen, aber vieles von dem, was Alina gerne hört, gefällt mir wenig bis gar nicht. Zum Glück – da bin ich mir sicher – beruht diese geschmackliche Abneigung auf Gegenseitigkeit. Immerhin hat Alina hier im Plattenkrach schon Simon Neils Gekeife alter Tage als „unsinniges Gekreische” bezeichnet. Dieses Mal aber möchte ich, dass alles anders wird. Gegenschlag! Heute gefällt mir das! Also dachte ich mir: Wenn schon hypothetische Scheiß-Musik, dann bei Sonnenschein und blauem Himmel, also ab auf den Friedhof, auf einer Bank bequem gemacht und los gehts.
Zuerst einmal: Bin ich überrascht. Das ist ja gar kein Deutsch-Pop, sondern irgendwie deutschsprachiger Indie-Rock. Eine kurze Recherche später bin ich schlauer – Jupiter Jones also. In den Strophen der Eröffnungsstücks „Das Türen-Paradoxon” klingt Nicholas Müller sogar ein bisschen wie der Wiebusch, der Refrain ist mir aber zu sehr Deutschrock – nur mit okayer Haltung. Mit Wiebusch generell scheine ich jedoch gar nicht so falsch zu liegen – vom Sound, das bestätigt ebenso Song Nummer zwei, hätte das Ganze auch über dessen Label Grand Hotel Van Cleef laufen können: Ü40-Indie. Die Titel bestätigen die These: „Mein furchtbar besoffenes Herz” oder „Blendgranaten” heißen die. Passt.
Wo Uhlmann, Wiebusch und Co. aber dann in Wort und Sound doch die nötigen Kanten mitbringen, so biedert sich das erste und einzige Album von Von Brücken doch klammheimlich und pathetisch dem Pop an – zumindest streckenweise. So in etwa kennt man das auch schon von Müllers einstigem Hauptprojekt. Müller etwa kann seine Stimme so doll er will auf Deutschrockmodus stellen – wie etwa in der Bridge von „Lady Angst” -, die Suche nach Pop-Appeal bleibt unmissverständlich erkenntlich. Auch der übertriebene Pomp von „Die Parade”, „Der Tanz” oder „Elephanten” holt mich nicht ab. Das sind drei Lagen Streicher, zehn Runden „Oh Oh” und zwei Minuten zu viel. „Und wir tanzen den Weltuntergang”? Ska oder wie?
Nicht von der Hand zu weisen jedoch ist, dass ich – je weiter das Album voranschreitet – beginne den Sound zu mögen, den von Brücken da zusammenzimmern. Das schon erwähnte „Blendgranaten” zum Beispiel ist eine Hymne gegen politisch Verirrte, die ich vor fünf Jahren sicher gefeiert hätte. „Die Sache Mit dem Toten Clown” schließt sich dem an und gefällt mir sogar textlich. Na gut, vielleicht ist das hier doch nicht so schlecht. Vielleicht blendet mich aber auch nur die Sonne, die in mein Gesicht scheint.
Manchmal jedoch habe ich das Gefühl die Band – oder etwa Alina? – möchte es mir absichtlich schwer machen. Dass Thomas D zu „Ist Gut, Mensch” – wegen Gutmensch, versteht ihr? – ein paar Zeilen rappen muss, das ist so überflüssig wie Sonnenbrand (muss echt aufpassen hier). Außerdem ist „Weit Weg Von Fertig” für meinen Geschmack vier Songs zu lang. Dem Niveau, da bin ich sicher, hätte eine inhaltliche Beschneidung gut getan. Für weniger Pathos und mehr Greifbarkeit. Trotzdem: Von Brücken sind bislang das musikalisch und textlich nachempfindbarste, das Alina mir vorgelegt hat. Und ich glaube nicht, dass dieser Eindruck bloß auf den sonnengetränkten Hörkontext zurückführbar ist. Plan geglückt.
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Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.
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