Erst im vergangenen Jahr veröffentlichten die Orsons mit „Orsons Island“ eines der erfolgreichsten Alben des Jahres. Kaum zu glauben, dass nun bereits der nächste Kracher der vierköpfigen Band in den Startlöchern steht. Denn die Orsons haben ihre freie Zeit auf Tour zwischen langwierigen Autofahrten, Soundchecks und den endlosen Wartezeiten im Backstage genutzt, um musikalisch-kreative Spontaneinfälle zu sammeln und in einen großen Topf zu werfen: Herausgekommen ist schließlich ein buntes musikalisches Potpourri aus Ideen, die zu einem besseren Zeitpunkt nicht hätten entstehen können. Ein Album direkt aus dem Nightliner auf die Ohren! Man müsste meinen, das könne nicht funktionieren. Aber lasst euch gesagt sein: Das kann es!
Wer hätte geglaubt, dass der ungeliebte Corona-Ausbruch der Musikindustrie auch mal positiv in die Karten spielen kann? Im Falle der Orsons tat es die Pandemie in jedem Fall, denn obwohl der Grundstein zum Album auf der „Orsons Island“-Tour im Herbst 2019 gelegt worden ist, konnte das fertige Gesamtwerk erst im Lockdown perfektioniert und in schnellen Schritten zum eigenen Album geformt werden. Plötzlich, spontan und aus dem Nichts war es dann einfach da. Ein Ergebnis, das aus dem Eifer des Gefechts entstand: Kompromisslos, schnell, durch den Schwung, den das letzte Album mit sich gebracht hatte, angetrieben.
Gleich die ersten Klänge des Albums geben dabei eine klare Marschrichtung an: Es wird energetisch, geladen – und stets mit einer Prise „Wumms“ gepfeffert. Und das alles für wen? Na klar, für die Fans. Das Intro, das zu Beginn schon fast einen Radio-Hit eines großen US-amerikanischen Popstars vermuten lässt, vereint dabei energische „Orsons“-Sprechrufe des Publikums mit feinstem Elektro-Synthie-Pop und gipfelt nach knapp 80 Sekunden in einer wütend-bestimmten Ansage von Kaas, die von Power nur so strotzt. Im Hinterkopf stets mitschwingend, dass dieses Album während einer Tour geschrieben wurde, wird schnell klar, dass dieses Intro bei zukünftigen Orsons-Touren den geborenen Opener bilden wird. Applaus!
Vor Albumrelease veröffentlichte die vierköpfige Hip-Hop-Crew aus Stuttgart bereits vier Singleauskopplungen. Die Hook der ersten davon – „Energie“ – führt dabei gezielt in die Synergien und Schwingungen des Tour-Kosmos der Band ein, heißt es doch eindringlich: „Meine Crew hat Energie und die muss raus“. Obwohl der gemeine Bürger beim Stichwort „Energie“ wohl nur an stimmungsvolle Auspower-Songs mit hoher BPM-Frequenz denken möge, so ist auch die zweite Singleauskopplung „Lovelocks“ ein wahrer Stimmungsmagnet – und das, obwohl der Track gleich ganz andere, ruhige Seiten anschlägt. Denn ist ein geschriebener Song über das Gefühl, das augenscheinlich die ganze Erde vereint – die Liebe –, doch meist an Ausgelutschtheit kaum zu übertreffen, gelingt es der Crew hierauf, über Wolken zu schweben ohne blindlinks gegen eine harte Realitätswand zu steuern. Mit Leichtigkeit und einem Hauch Selbstironie wird die andere Seite der Medaille beleuchtet: Hat man erst kürzlich noch das turtelnde Paar am Nachbartisch verlacht, so erwischen sich die Sweethearts Maeckes und Bartek bald – im Liebesfieber gefangen – schon selbst dabei, wie sie begeistert „Lovelocks“ an Brücken hängen, von denen sie vor kurzem noch springen wollten. Ein selbstironisches Paradoxon, das herrlich ehrlich beschrieben wird.
Auch die beiden Hits „Leb Schnell“, mit nachdenklicher Phil Collins Hommage an das Leben, und dem kritischen, aber dennoch klar politisch-positionierten „Oioioiropa“ mit geschickt eingebauter Europahymne, erzählen Geschichten und Gedankengänge aus dem musikalischen Orsons-Tour-Tagebuch. In Tagen, in denen wilde Verschwörungstheorien über die Länder schweben, rechte Parteien vermehrt im Wahlkampf an Popularität gewinnen und „Black Lives Matter“-Demonstrationen eindringlich zum Nach- und Umdenken aufrufen, kommt ein solcher musikalischer Gedankendiskurs wie gerufen. Obwohl sich Rap schon seit Anbeginn seiner Tage – mehr als vielleicht jede andere Musikrichtung – politisch positioniert hat, bohrt auf „Oioioiropa“ vor allem Maeckes-Part tief und schmerzhaft und regt zum Nachdenken an. Schön, wenn Musik ein solch wichtigen Transfer gelingt.
Viele Titel des Albums lassen mit genügend Fantasie ihren Entstehungszusammenhang erahnen. Der „Große(n) Freiheit“, dem mitunter bekanntesten Treffpunkt auf St. Pauli, wurde dabei gleich ein eigener Song gewidmet, lässt er doch zeitgleich eine gewisse Doppeldeutigkeit zu, die da meint: „Aus den Augen aus dem Sinn“. Auch der Skit-ähnliche Track „Der Mitternachtssnack“ lässt nur wenig Spielraum für Interpretation: Mit einer kleinen Stulle von der Raststätte zwischen die Backen geklemmt, kamen der Band zur Geisterstunde wohl die besten Ideen. Das Resultat: Einer der großartigsten Beats des Albums gepaart mit dem wohl banalsten Text, der wohl ebenso von den 257ers hätte stammen können.
Dass das Album quasi „Straight from the Nightliner“ für die Ohren produziert wurde, schlängelt sich wie ein roter Faden durch die Tracks. Dies gelingt sogar so gut, dass das Werk an vielen Stellen den Charakter eines Konzeptalbums erhält. Denn das Hören der Platte erzeugt Bilder vor dem inneren Auge. Ein Beispiel liefert der Song „Staub“. Man besinne sich zurück: Es ist eine Szenerie, wie sie sich einst auf Klassenfahrt abspielte. Ein Mitschüler, mit dem man bislang nur wenig zu tun hatte, wirft seine getragenen Socken ungeniert auf dein Kopfkissen. Dein Blick wandert verstört und ein wenig angewidert auf dem Boden des Jugendherbergszimmers, auf welchem sich allmählich der Klamottenberg deiner Zimmergenossen mit einer zentimeterhohen Staubschicht vereint. Ob im Jugendherbergszimmer oder ähnlichem Szenario im Tourbus: Der Grundstein für einen Song ist gelegt! Die Boxen werden aufgedreht, die Gedankenblase platzt und Staub rieselt zu Boden, „und die Welt löst sich auf“ – begleitet von dem melancholischen Einstieg Tuas. Vor allem der dumpfe Dreifachbass in der Hook begeistert. Erst recht vor Live-Publikum wird der Subwoofer beben!
In der Vergangenheit haben die Orsons immer wieder gezeigt, dass sie die Könige des Wortwitzes sind – und auch bleiben wollen. Der Song „Schuhwurf3000“, der dem Hörer ohnehin schon anhand des Titels ein verschmitztes Lächeln ins Gesicht zaubert, untermauert dies tatkräftig. Mit einem Sample auf die Worte „Yes, for sure (sprich: Schuh)“, das vermutlich einer American-Reality-Soap a la „Keeping up with the Kardashians“ entnommen wurde, baut der Song auf. Musikalisches Material aus großartiger Produzentenfeder, das sich zudem auch noch live für einen ordentlichen Moshpit eignen wird. Ganz großes Kino!
Obwohl „Die Show muss weitergehen“ allein des Titels wegen, aber auch aufgrund der zarten Piano-Harmonik stark an den berühmten, gleichbedeutsamen Queen-Song erinnert, beleuchtet er doch unbeschönigt die Schattenseiten des Tourlebens. Denn ein Musiker muss auf Tour abliefern. Das ist er seinen Fans, die für teuer Geld seinen Lebensunterhalt bezahlen, schuldig. Doch was, wenn sich ein stinknormaler Tag urplötzlich zu einem der schlimmsten im Leben entwickelt und man trotz alldem auf der Bühne eine gute Miene zum bösen Spiel vorgaukeln muss? Ein facettenreiches Stück mit viel Herz, Trauer und Tiefgründigkeit.
Mit „Egal, weisch“ und „Schüttel dein Skelett“ bringt die vierköpfige Crew zum Ende des Albums noch einmal wahre unterhaltsame, musikalische Bretter, ehe mit „Straßenheiligkeitent“ ein allerletztes Mal ein nachdenklicher Ton auf der Platte angeschlagen wird. Der Song mimt dabei einen regelrechten Rausschmeißer und entlässt die Zuhörer in eine gedankenverlorene Nacht im Nightliner-Cabrio: „Denn es gibt nichts, was die Straße nicht heilen kann“.
Ein Album auf Tour zu produzieren, haben sich bislang erst wenige Künstler getraut. Doch die Orsons haben bewiesen: Es funktioniert – sogar besser als gedacht! Alles in allem bringt das Album genau das mit, was Rap-Musik im Jahr 2020 bislang gefehlt hat: Wilde Energie, Zeitgeist, Motivation, Banalität, Witz und eine gehörige Ladung Pfeffer. Wenn auch oft feiertauglich und beatlastig, so auch immer wieder nachdenklich und auf den Punkt gebracht. Die Orsons haben es den Kritikern wieder einmal bewiesen: Nach einem grandiosen Album kann ein weiterer Kracher folgen. Ob geladen, wild, mal nachdenklich oder zerbrochen: Die Orsons treffen mit „Tourlife4Life“ den Nabel der Zeit und machen Musik, die Freude bereitet. Wir dürfen gespannt sein, ob uns nach der nächsten Tour erneut ein Album erwarten wird.
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Und so hört sich das an:
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Tracklist Tourlife4Life
- 01 – Intro
- 02 – Energie
- 03 – Leb schnell
- 04 – Mitternachtssnack
- 05 – Lovelocks
- 06 – Große Freiheit
- 07 – Staub
- 08 – Schuhwurf3000
- 09 – Freier Fall
- 10 – Oioioiropa
- 11 – Show muss weitergehen
- 12 – Egal, weisch
- 13 – Schüttel dein Skelett
- 14 – Straßenheiligkeite
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