Enter Shikari – Nothing Is True & Everything Is Possible

Cover von Enter Shikaris sechstem Album "Nothing Is True & Everything Is Possible"

Ambitionen konnte man Enter Shikari noch nie absprechen. Weder ließen sich die einstigen Trance-Core-Pioniere von ihrem scheinbar engen Sound-Korsett in die Enge treiben, noch ruhten sich die Briten auf ihrem Live-Ruf aus und reproduzierten immer wieder eine einmalig konzipierte Show samt Licht-Installationen und Bühnendesign. Auch „Nothing Is True & Everything Is Possible“, das sechste Studioalbum des Quartettes, sucht fast schon begierig nach neuen Wegen. Die reichen von EDM-Einflüssen über orchestrale Elemente hin zu ekstatischen Dance-Parts. Diese fortschrittlichen Momente kontrastiert erstmalig auch ein besonnener Blick zurück, der nach den eigenen Stärken forscht. So sehr diese sonderbare Mischung als Ergebnis des Vor- und Zurückgehens zunächst verwirrt, so tief liegt die Begeisterung, die losgetreten wird, sobald die Zusammenhänge zwischen Texten und Sound sowie neu und alt in ihrer vollen Entfaltung begriffen werden.

Der Soundtrack zum Umschwung

Wir beginnen bei den Texten. Fokussierte sich der eher sphärische Vorgänger „The Spark“ noch nahezu vollkommen auf den inneren Kampf von Frontmann und Sänger Rou Reynolds, so steht für die sechste LP der südenglischen Band ein alter Bekannter an: Der Kampf gegen das etablierte System, dem liberalen Kapitalismus. Wo es vor zweieinhalb Jahren also noch um Angstzustände und Depressionen ging, drehen sich die Zeilen Reynolds nun um fiktive Orte zum Träumen nach Utopie („{ The Dreamer’s Hotel }“), um die vielschichtigen Gefühle, die mit Aufbrüchen ins Unbekannte verbunden sind („THE GREAT UNKNOWN“) und überspitzte Herrscher-Fantasien („thē kĭñg“). 

Das Ganze passt an vielen Stellen besser in die Weltlage Stand April 2020, als einem manchmal lieb ist. Wenn es in epischen Refrain von „modern living….“ immer wieder heißt „Everything you know is about to disappear“, dann scheint die Prognose in Zeiten halb freiwilliger Quarantäne und wirtschaftlichem Stillstands greifbarer denn je. Dabei steht weit mehr auf dem Spiel als Umverteilung und Systemwandel jemals auslösen könnten: unsere Lebensweise, unser Alltag. Diese oftmals auf andere Gesellschaftslagen übertragbare Inhaltsebene ist vor allem in der Art, wie Reynolds textet, verankert: Auch wenn der 34-Jährige in „Marionettes (II. The Ascent)“ zum manifestartigen Spoken-Word-Part ansetzt und dabei eindringlich weit verbreitete Wahrheiten hinterfragt, so werden die brisanten Inhalte an anderer Stelle zumeist in bildhaften Beschreibungen verpackt. Statt sich in Phrasendreschereien zu verlieren, überwiegt die Metaphorik.

Vom Neuen und vom Alten

Kehrt die Band rein inhaltlich zu alten Bekannten zurück, so bleibt die musische Rückbesinnung deutlich grundlegender: „Nothing Is True & Everything Is Possible“ setzt mehr als LP Nummer vier und fünf auf eben solche Electronica-Spielereien, die die Live-Sets der Briten dominieren und vor allem in den Anfangstagen Einzug in die Songs fanden. Das schlägt sich mal als im Loop laufende Backing-Synths nieder wie im hymnischen Opener „THE GREAT UNKNOWN“, entlädt sich an anderer Stelle in brachiale Dub-Sounds wie in den Strophen von „modern living….“ und wandelt sich mal in ein waberndes Drum’n Bass-EDM-Gemisch wie in „Marionettes (I. The Discovery of Strings)“. Abgesehen vom schrägen Klavier-Interlude „Reprise 3“, dem dritten Teil der auf dem Debüt „Take To The Skies“ gestarteten Reprise-Serie, bleibt es bei diesen Wurzelbesinnungen.

Andersartig ist bereits die Herangehensweise an sein neuestes Werk: Statt wie bislang mit einem externen Produzenten an den Rohversionen der Songs zu arbeiten, nahm Kreativkopf Reynolds die Regler sprichwörtlich selbst in die Hand. Ein direktes Ergebnis davon ist wohl, dass erstmalig neben den Songs selber elektronische Fortführung ebendieser stehen. „modern living….“ und „apøcaholics anonymøus (main theme in B minor)“ sowie die zwei „Marionettes“-Teile können deshalb eher als zweigliedrige Einzelstücke betrachtet werden als voneinander unabhängige Titel. Was das Quartett sich sonst für die Live-Situation aufsparte, findet also nun bereits auf Platte statt. Fernab davon liegt der Fokus der Produktion zumeist auf der Stimme, die in den Dance-Parts entfremdet und auch ansonsten oftmals durch Filter gejagt wird und ungewohnt häufig in das Falsett rutscht. Wie schon „The Spark“ verzichtet jedoch auch Album #6 nahezu in Gänze auf gutturalen Gesang. Alteingesessenen Fans wird das bitter aufstoßen, der Gesamtwirkung des Albums tut das nur gut.

Das orchestrale Moment als Konstante

Eine feste Orientierung bieten zudem die klassischen Elemente, die sich wie ein nahezu konstanter Faden durch die zehn vollwertigen Stücke ziehen. Das beginnt mit „Waltzing off the Face of the Earth (I. Crescendo)“ wider Erwarten erst an vierter Stelle als stolz in Richtung Bombast marschierender Orchester-Stampfer, macht sich im instrumentalen „Elegy For Extinction“ in Filmmusik-ähnliche Höhen auf, findet im ersten „Marionettes“-Teil und „thē kĭñg“ unterschwellig Einzug und lässt das Gesamtwerk schlussendlich mit Verweis auf den ersten Klassik-Moment knapp 30 Minuten zuvor besinnlich ausklingen. Für diese bedacht arrangierten Epik-Ausarbeitungen engagierte die Band das renommierten Prager Symphonieorchester. Stücke wie der große Pop-Moment „Crossing The Rubicon“, die wunderbar eingängige Vorabsingle „{ The Dreamer’s Hotel }“ sowie der sphärische Elektro-Popper „the pressure’s on.“ bieten neben diesen vielen auf die Zuhörer*innen einprasselnden, zu Beginn ungewöhnlich wirkenden Elementen fast schon unauffällige Ruhepole. 

Nachdem die letzten Streichersätze ausgeklungen sind, bleibt „Nothing Is True & Everything Is Possible“ ein Mammutprojekt, das überfordert und alles andere als sparsam mit vielfältigen Eindrücken umgeht. Dabei beziehen sich Enter Shikari gelegentlich auf alte Stärken, richten ihren Blick zumeist aber klar nach vorne. Spannend bliebt, wie die Band dieses vielschichtige Soundbild für ihre hoffentlich im Winter stattfindende Tour in die Live-Situation umzusetzen vermag. Dass die Fans enttäuscht die Konzertsäle verlassen, ist hier ebenfalls äußerst unwahrscheinlich. Denn: Wenn sich Enter Shikari in einem verstehen, dann hohen Ansprüchen gerecht zu werden.

Das Album “Nothing Is True & Everything Is Possible” kannst du dir hier kaufen.*

Tickets für die hoffentlich kommende Tour gibt es hier.*

Und so hört sich das an:

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Enter Shikari live 2020:

04.12. – Berlin, Columbiahalle
05.12. – Köln, Palladium
06.12. – Stuttgart, LKA Longhorn
09.12. – München, Tonhalle
10.12. – Offenbach, Stadthalle

Die Rechte für das Cover liegen bei SO Recordings.

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