Das Jahr 2022 bislang war in vielerlei Hinsicht ein durchwachsenes für Haftbefehl. Diverse Produkteinführungen, eine Vielzahl von Nachtclub- und Festivalbuchungen, eine große eigene Tour – die Liste der Teilerfolge sollte lang sein. Im August jedoch das abrupte Ende: Haftbefehl steht auf der Bühne in einem Mannheimer Elektro-Schuppen, torkelt und klammert sich unkontrolliert am Mischpult fest. Alles festgehalten in kleinen Clips, die sich flugs verbreiten. Der Auftritt wird nach einem Song abgebrochen. Im Nachhinein stellt sich heraus: Dem Rapper war eine Überdosis Lachgas zum Verhängnis geworden. Haftbefehl kündigt eine Pause auf unbestimmte Zeit an, infolge derer er auch die lange angesetzte Hallentour absagen muss. Auf den sozialen Medien sieht man den Offenbacher anschließend im Urlaub in der Türkei und Dubai. Bis auf einige Werbeaufrufe für seine Einweg-Shishas, bleibt es ruhig. Seit dem vergangenen Sonntag ist diese Pause erstmal Geschichte: Haftbefehl veröffentlicht die erste Single aus seinem neuen Album „Mainpark Baby“, das schon diesen Freitag erscheinen soll.
Nun also ein neues Haftbefehl-Album ganz ohne langatmige Promophase, mit gerade einmal fünf Tagen Vorlauf. Benannt ist das nach Haftbefehls Heimatviertel, dem Offenbacher Mainpark. Musik und Text möchte laut Pressebeilage ein Mittel zwischen den zwei Vorgängern, dem schwarzen und weissen Album, finden. Imponieren soll das knapp 35-minütige Werk auch dem Feuilleton. Es geht um nicht weniger als die Folgen von politisch und gesellschaftlich bewusst herbeigeführter Sozialsegregation. Eine ganze Generation an Gastarbeiter*innen immerhin ist unter solchen Umständen in Alemannia alt geworden. Haftbefehl und Team (allen voran sein langjähriger visueller Begleiter Chehad Abdallah) liefern zur Untermalung dieses Narratives zum Releasefreitag hin einen konzeptuell durchgescripteten Clip zu je einem neuen Song pro Tag. Die Zuschauenden begleiten in diesen einen Jungen bei der Flucht aus einem Kriegsgebiet hinein in die von Kleinkriminalität durchzogenen Mainpark Wohnblöcke. Es kommt so wie es kommen muss und auch das einstige Kind gerät zwischen den ergrauten Betonklötzen und tristen Spielplätzen in den Strudel aus Drogen, Gewalt und Partyexzessen.
Aber: Wirkte es zum „schwarzen Album“ noch so als bediene Haftbefehl bewusst die Gelüste des deutschsprachigen Feuilleton, so ist „Mainpark Baby“ über lange Strecken nicht das, was es vorzugeben scheint. Es gibt ungewohnt viele Representer-Tracks auf diesem Album, solche in denen es in erster Linie darum geht wie viel krasser Hafti ist als alle anderen. Die typischen Gangsta-Posen sind da genauso vertreten wie lange etablierte Bilder. Es geht (wirklich viel) ums Blasen (Lutschen, Nuckeln, Saugen, Blown) und auch ums Ficken (Knallen). Der Schauplatz: Selten das Bett, meistens die Maybach-Rückbank. Nicht jeder dieser Songs – das ist klar – ist überflüssig. Songs wie „Chevignon & Classics“, „Dann mit der Pumpgun 2.0“ oder „Die braune Tasche“ sind Bazzazianische Nackenbrecher der feinsten Art und fügen sich gut in Haftbefehls Diskographie. Abnutzungserscheinungen bleiben dennoch nicht aus.
Am stärksten ist all das, wenn Haftbefehl auf die vielen „Ich klau dir deine Frau“-Variationen und „bin der krasseste“-Lines verzichtet und sich analytischer mit sich selbst und seiner Umgebung auseinandersetzt. Ganz stark: Wie Haftbefehl nach den ersten anderthalb, alleine der wunderbaren Paula Hartmann gehörenden Minuten in seinen ersten Part einsteigt. „Schon als Kind haben wir die Sünden bereut“, rappt er da. Und weiter: „Na klar bin ich deutsch; War ma’ auf den Adler so stolz; Dank schwarzen Haaren wurd man mit den Jahren enttäuscht.“ Das sind genau jene Perspektiven, die Menschen in den Hamburger, Frankfurter, Berliner oder Münchener Redaktionen von ihren Bürostühlen schieben hinein in eine Lebensrealität, die so nie ihre sein wird.
Weitergeführt wird dieses Narrativ im erhabenen „Kein Respekt“: „Warum siebzehnjährige Bruder Business statt Linien legen? Kein Familienleben, Liebe tschö, immun dagegen.“ Frage, Antwort – Interviews braucht Haftbefehl so gar nicht mehr geben. So richtig ernst wird es ganz zum Schluss. „Letzter Track“ deutet genau das an, was sein Titel vermuten lässt. „Ich hab die Sprache verändert, hier mein letzter Track“, heißt es da über weiträumige Keys. Was er dann mit all seiner Zeit anfangen möchte? Auch das wird bereits beantwortet: Sich Zeit für seine Kinder nehmen. Alle Fragen geklärt.
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