Aus Festival-Sommer werde Sommer der Live-Alben: Die warmen Monate des Jahres 2020 stehen für Musiker*innen und die hinter diesen stehende Industrie unter keinem guten Stern. Alle Festivals: Abgesagt. Viele Veröffentlichungen: Hinter den Kulissen verschoben. Das Resultat: Engpässe nicht nur bei den Musiker*innen selber, sondern auch bei deren (Live-)Crews, die den Tempel der Musik sonst wie eine stabile Säule tragen. Der Umgang der Künstler*innen selber mit dieser misslichen Lage fällt mindestens genauso vielfältig aus wie die vielen verschiedenen Jobs, die die Industrie bereithält: Die einen geben sich regelmäßigen Live-Streams hin, andere treten bereits in Open-Air- oder Autokino-Umgebung vor kleinerem Publikum auf, wieder andere arbeiten hinter den Kulissen fleißig an neuer Musik und manche veröffentlichen eben der Zeitüberbrückung wegen lauwarme Kost. In den meisten Fällen mündet diese Wiederverwertung alter Kunst in einer hektischen Zusammenraffung verschiedener Mitschnitte zu einem Live-Album. Ja, der Sommer 2020 kann wahrlich als der Sommer der Live-Alben bezeichnet werden!
Ein anderes gleichsam deutlich kreativeres Konzept, seine Fans auf Trab zu halten, ohne gleich mit neuer Musik am Start zu sein, stellen nun Frank Turner und NOFX vor, die eigentlich schon im Mai gemeinsame Konzerte auf dem europäischen Festland spielen sollten. „West Coast Vs. Wessex“ bringt als Split-Album jeweils fünf Neu-Arrangements von Stücken der jeweils anderen Partei zusammen. Meint: Turner interpretiert seine fünf liebsten NOFX-Songs neu und NOFX ihre persönlichen Favoriten des Folk-Punkers. Auch wenn die Idee für die Veröffentlichung schon vor den Entwicklungen mit und um das Corona-Virus stand, so bietet „West Coast Vs. Wessex“ – benannt nach den Regionen, aus denen die Musiker stammen – im Dschungel der Live-Veröffentlichungen zumindest etwas Abwechslung. Das liegt vor allem daran, dass beide Parteien innerhalb ihres musikalischen Rahmens sehr offen mit Vorgaben und Kreativität umgehen.
NOFX beispielsweise verwandeln Frank Turner-Klassiker wie „Ballad of Me and My Friends“ oder „Substitute“ in mal mehr, mal weniger ska-ige Punk-Manifeste, die ohne Umwege in den Moshpit führen. Anderorts entfernen sich die Punk-Urgesteine von ihrem zumeist flotten Ursprungssound. So verwandeln die Ska-Gitarren von „Thatcher Fucked the Kids“ den ursprünglich akustisch gehaltenen Song trotz seiner klar politischen Message in ein kleines Gute-Laune-Fest. Auch „Glory Hallelujah“ arrangieren die alten Hasen etwas offener und bauen den Song ganz unpunkig um ein Klavier. Auf einen finalen Galopp-Part verzichtet das Quartett trotzdem nicht.
Konzentrieren sich NOFX in der ersten Album-Hälfte bereits auf die erste Schaffensphase Turners, so nimmt der sich ebenfalls das Frühwerk der Amerikaner zur Brust. Wie die vier Kollegen von der anderen Seite des großen Teichs dreht und wendet der 38-Jährige die Stücke so lange, bis sie problemlos auch in sein stets stimmungsvolles Live-Set passen. Setzt „Scavenger Type“ ein, so befindet man sich deshalb – zumindest in Gedanken – flugs inmitten einer enthusiastisch tanzenden und lauthals mitsingenden Menge. Die Akustik-Gitarren klirren, der Bass tanzt. Dass es sich bei dem Song im Original eigentlich um eine reduzierte Ballade handelt, spukt währenddessen nur noch in irgendeiner Hinterkammer des Gehirns herum.
„Scavenger Type“ bleibt nicht der einzige Song, dem der Brite ein neues Gesicht verpasst. Auch „Eat the Meek“ misst den Dub-Charakter des Ursprungsstücks gänzlich und entpuppt sich stattdessen als treibend-sphärischer Rocker. „Falling in Love“ setzt ebenfalls nicht weniger auf Atmosphäre, dreht den Spieß jedoch um: Statt leise in laut zu transformieren, verwandelt Turner den Auf-Die-Fresse-Punk des Originals hier in eine ruhige Ballade.
Dass „West Coast Vs. Wessex“ währenddessen keinesfalls als billiger Lückenfüller erscheint, liegt vorrangig daran, dass sowohl NOFX als auch Frank Turner ihre Aufgabe mit Spaß und Kreativität angehen. Trotz dieser Freude für die Kunst bleiben die zehn Songs vor allem etwas für Fans beider Gruppen. Die Neu-Interpretationen bereiten nämlich umso mehr Spaß, je besser die Kenntnis der Originale. Inspirierender und eigenständiger als Live-Album Nummer 1234 ist das aber allemal.
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Und so hört sich das an:
NOFX: Website / Facebook / Twitter / Instagram
Frank Turner: Website / Facebook / Twitter / Instagram
Die Rechte für das Albumcover liegen bei Fat Wreck Chords.
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