Die Eurovision Song Contest-Saison 2021 ist längst gestartet. Für die Gelegenheitszuschauer*innen geht sie klar erst Mitte Mai los und hält generell nur einige Tage oder gar Stunden an – für wahre Fans ist aber schon seit Wochen wieder Mitfiebern auf der Agenda. Gerade nach dem erstmaligen Ausfall in der sehr langen Geschichte des größten Musikwettbewerbs der Welt ist die Vorfreude noch größer. Wobei: erst vor Kurzem wurde bekannt gegeben, dass sämtliche Tickets, die bereits für 2020 galten, rückerstattet werden. Sollte doch Publikum erlaubt sein, gibt es einen erneuten Verkauf. Knick in der Euphorie.
Ebenso überraschend droppte an diesem Wochenende ohne Vorankündigung der Teilnehmer für Deutschland. Jendrik geht als absoluter No-Name an den Start und wird Ende Februar seinen Song vorstellen. Neben ihm waren auch einige größere Personen im Gespräch. Unter anderem gab es Gerüchte, dass Ryk sich für eine erneute Teilnahme interessiert.
Ein Sprung in die Vergangenheit, besser in den Februar 2018: In der Show „Unser Lied für Lissabon“ suchte das deutsche TV-Team eine*n Interpret*in für den ESC in Portugal. Die Entscheidung fiel durch Zuschauer*innen und Expert*innen auf Michael Schulte, der überraschenderweise mit „You Let Me Walk Alone“ einen beachtlichen vierten Platz belegte. Im nationalen Vorentscheid schaffte der aus Niedersachen stammende Rick Jurthe eine akzeptable dritte Platzierung von insgesamt sechs Künstler*innen. Schaut und hört man aber ein zweites Mal etwas genauer hin, ist das alles andere als gerechtfertigt.
Ryk hat neben seinem Musikkompositions- und Produktionsstudium in Hannover, London und Stockholm praktischerweise noch eine ordentliche Ladung Talent in Sachen „Gesang“. Was er 2018 mit „You and I“ im nationalen Finale präsentierte, ist musikalisch betrachtet nicht weniger als vielleicht der beste deutsche ESC-Beitrag, der seit „Ein Lied kann eine Brücke sein“ von Joy Fleming zur Auswahl stand – und der ist immerhin über 40 Jahre vorher gewesen. Warum ein derartiges Meisterwerk an Facetten- und Ideenreichtum nicht den Weg auf die große, internationale Bühne gefunden hat, ist so bitter wie naheliegend: es war schlichtweg zu gut. Und nicht eingängig genug.
Denn wenn der 31-jährige, der weiterhin in Stockholm ansässig ist, eins kann, dann ist das außergewöhnliche Harmonien und Tonartwechsel in Atmosphäre zu verpacken und eher fragile, emotionale Punkte zu treffen, statt mit Oberflächlichkeit und Radio-Pop für den kurzen Moment zu begeistern. In einigen Ländern wäre „You and I“ mit Sicherheit der klare Gewinner gewesen, für ein deutsches Gehör aber eben zu anstrengend. Kommentare unter dem damaligen Auftritt beweisen aber, dass auch andere den Wert erkannt haben – unter anderem auch Conchita Wurst, die Ryk daraufhin zu ihrem Konzert mit den Wiener Philharmonikern einlud und in einem Interview ihn als ihren persönlichen ESC-Gewinner des Jahres krönte. Mit Recht.
Drei Jahre später ist klar, dass Ryk zwar nicht für 21 erneut die deutsche Fahne in Rotterdam zu schwingen versucht, aber dafür mit seiner Debüt-EP Parasite Future diejenigen nun glücklich machen wird, die sich mehr als drei schnelle TikTok-Minuten für Musik gönnen. Parasite Future umfasst fünf Songs mit einer Spiellänge von 16 Minuten. Diese könnten unterschiedlicher kaum sein, enthalten aber einen roten Faden namens Anspruch.
Allein das Opening mit „Diamonds“ ist Gold wert und pure Epik. Wer denkt, er hätte ein neues Stück von Chopin entdeckt, wird kurze Zeit später durch Streicher, rauschende Effekte und schließlich durch Klanggewitter und Stimmverfremdungen überrascht. Das fesselt und ist bereits beim ersten Hören ein hochgradig intensives Erlebnis. Bitte einmal copy and paste für den nächsten Christopher Nolan-Streifen.
„Wonder Why“ startet mit ruhigem Wellenrauschen, bricht dann aber durch seinen groovenden E-Gitarren-Beat die Traumlandschaft. Stampfend, voranschreitend und dennoch klar auf die Vocals ausgerichtet. Mit der Mitte „All He Wants“ schielt Ryk erstmalig Richtung Radio. Clapbeat, tiefe Klaviertöne, Soulmomente und leicht erkennbare Strukturen mit Ohrwurmrefrain. Auch das kommt unerwartet und klingt nach warmen Sommertagen mit Cocktail und Sonnenbrille.
„West End“ ist mit seinen knapp zweieinhalb Minuten der kürzeste Kurztrip in Ryks Ideen, aber auch nicht unspannend. Besonders die Drums und chorartigen Passagen machen hier die Stimmung aus und fühlen sich an wie ein Sturm auf hoher See. Der Rausschmeißer, gleichzeitig der Titeltrack, fordert am meisten heraus. Unzählbare Sounds, die mehrere Phasen durchmachen, einen Sog kreieren, größtenteils Instrumental funktionieren. Trip-Hop meets Industrial meets Klassik à la Yann Tiersen. Fast zwei Minuten Piano-Outro. Sehr abgefahren. Und gut.
Parasite Future ist einfach volle Punktzahl. Das ist alternativ, aber gleichzeitig poppig. Das ist kreativ, unkonventionell und nicht permanent greifbar. 16 Minuten, bei denen man sich wünscht, mindestens noch 30 weitere hören zu können. Indie-Alternative-Electro-Pop, der Chaos im Kopf fabriziert und sich selbst ordnet. Davon braucht die Welt viel, viel mehr.
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