Kacke gelaufen! Da macht eine dermaßen erfolgreiche Sängerin wie Sia erstmalig einen Film, ist für Regie, Produktion und Drehbuch zuständig – und erlebt schon bevor der Streifen Music anläuft den Shitstorm ihres Lebens. Zwar darf er sich frisch über zwei Golden–Globe-Nominierungen freuen und hat bestimmt auch Chancen, dass Mitte März noch mindestens eine Oscar-Nominierung nachrückt – gleichzeitig fallen Kritiken von Fans vernichtend aus, obwohl die den Film bisher nicht mal kennen.
Wie so etwas sein kann? Mit ungeschicktem Fehlverhalten. Sia verkündete stolz von ihrem Projekt, veröffentlichte den ersten Trailer und wurde zwar auf der einen Seite bewundert, gleichzeitig aber auch kritisiert. Der Film dreht sich um ein autistisches Mädchen. Dieses wird gespielt von Sias Muse Maddie Ziegler, die erstmalig 2014 in dem Clip zu „Chandelier“ auftrat und seitdem an Sias Beinen zu kleben scheint.
Dass das mittlerweile 18-jährige Mädchen mit sehr großem Talent im Tanz gesegnet ist, bleibt unumstritten. Warum aber die omnipräsente Maddie Ziegler für die Rolle gecastet wurde, statt wirklich autistischen Menschen eine Chance zu geben, scheint einigen sauer aufzustoßen. So gab es hinterfragende Kommentare, auf die Sia mit teils extrem angepissten Reaktionen antwortete. Ist da jemand etwas abgehoben oder schlichtweg nicht kritikfähig?
So oder so steht Music leider unter keinem guten Stern mehr. Weder der Film noch der dazugehörige Soundtrack, der gleichzeitig Sias neuntes Studioalbum darstellt. Ende 2017 gab es zwar eine Weihnachtsplatte, die reguläre letzte LP ist allerdings genau fünf Jahre her. Ob die Anhängerschaft es hinbekommt, den Film auszublenden und lediglich die neuen Songs zu beurteilen?
Wir wollen das jedenfalls genau so tun. Music ist kein klassischer Soundtrack, der ausschließlich Songs aus dem Film, der zunächst als Video on Demand und drei Wochen später auf DVD und Blu-Ray erscheint, präsentiert, sondern beinhaltet zusätzlich auch Lieder, die Sia schrieb, weil sie durch die Dreharbeiten inspiriert wurde. Einige Titel, die im Film zu hören sind, sollen auch von den Darsteller*innen eingesungen worden sein – auf Music befinden sich allerdings ausschließlich die Sia-Versionen.
Trotzdem ist nicht alles von der 45-jährigen Australierin im Alleingang gezaubert worden. Sie ist zwar bei allen Tracks maßgeblich als Songschreiberin beteiligt, hat sich aber für ein paar davon hochkarätige Unterstützung wie Dua Lipa („Saved My Life“), P!nk („Courage to Change“) und Labrinth („Oblivion“) geholt. Letzter greift als Feature auch selbst zum Mikro. Obendrauf wartet eine neue Kollaboration mit David Guetta („Floating Through Space“), welche bekanntlich schon einige Male zuvor für außerordentlich großen Erfolg gesorgt hat.
Mit 14 Tracks und 49 Minuten Spielzeit sorgt Sia für eine quantitativ ordentliche Portion. Keine trendgewordene halbe Stunde, sondern wirklich umfangreiches Material, wenn man schon so lange hat auf sich warten lassen. Inhaltlich ist jedoch Fisch und Fleisch und beides nicht. Positiv: die Platte klingt so sehr nach Sia, wie Sia klingen kann. Negativ: viel Neues oder gar Überraschendes gibt es nicht.
Als 2014 mit „Chandelier“ und dem dazugehörigen Album „1000 Forms of Fear“ der weltweite Erfolg endlich kam, gönnte man es der Sängerin von ganzem Herzen. Fünf Alben lang zuvor dümpelte sie mit mittelmäßigen Chartplätzen durch die Weltgeschichte und landete nur im Alternative-Pop den einen oder anderen Insider-Hit. Doch irgendwann hat Sia Furler wohl bemerkt, wie man einen richtigen Chartbanger schreibt. Immerhin gehen mit „Diamonds“ von Rihanna, „Loved Me Back To Life“ von Celine Dion, „Perfume“ von Britney Spears, „Flashlight“ von Jessie J, „Cannonball“ von Lea Michele, „Try Everything“ von Shakira und „Pretty Hurts“ von Beyoncé gleich mehrere große Popohrwürmer der letzten Jahre auf ihre Kappe. Daraus entwickelte sie eine Mixtur, die Knaller am laufenden Band zusammenbraut. Ja, Sia hat verstanden, was funktioniert – und sich fortan aber auch ziemlich darauf ausgeruht.
Sind wir mal ehrlich: „Chandelier“, „Elastic Heart“ und weitere tolle Pop-Nummern aus „1000 Forms of Fear“ haben wirklich den Nerv getroffen. Auf dem Nachfolger „This is Acting“ wiederholte sich der Großteil bereits. „Cheap Thrills“, „The Greatest“, „Never Give Up“ – kann man wirklich die Songs vor dem Refrain unterscheiden? Wohl kaum.
Aber ganz so schlimm ist es auf Music nicht, nur eben auch nicht so richtig gut. Sia liefert das, was man von ihr erwartet. Nicht mehr und nicht weniger. Werden nach einem Spieluhrintro zunächst überraschende Assoziationen geweckt, ist spätestens nach zehn Sekunden eigentlich auch die Nummer schon auserzählt. „Together“ ist völlig generischer, cleaner Radiopop ohne auch nur eine einzige Kante. „Hey Boy“ ist durch seine etwas freche Hook und seinen groovigen Basslauf zwar cooler, aber auch nicht fordernder.
Genau da liegt letztendlich das Problem. Jedes der 14 Lieder zündet innerhalb von Augenblicken und stößt dann auch nicht mehr an. Stattdessen sind einige Refrains dermaßen Kinderabzählreim-like und mantrahaft monoton, dass es penetrant erscheint („Play Dumb“, „1+1“, „Lie To Me“). Auf der anderen Seite stehen aber endlich auch wieder richtig, richtig gute große Drama-Pop-Balladen, die sich wirklich lohnen, angemacht zu werden („Saved My Life“, „Music“). „Beautiful Things Can Happen“ erinnert an die hypnotischen Beiträge, die Sia zu der Fifty–Shades-Reihe lieferte und fruchtet ebenso. Verrückterweise geht auch die nächste Guetta-Kooperation klar. „Floating Through Space“ kommt zwar an „Titanium“ und „Flames“ nicht heran, ist aber jetzt schon ein Anwärter auf einen großen Sommerhit 2021. Anderes wiederum ist eben nett und berechenbar („Eye to Eye“). Die P!nk-Zusammenarbeit „Courage to Change“ heißt eigentlich „Dusk till Dawn 2.0“ übrigens. Und: Leider wurde insgesamt viel zu häufig ihre eigenwillige Stimme durch den Autotune-Fleischwolf gedreht, und das bei quasi allen Titeln.
Sia ist eine sympathische, witzige Frau, die ein Händchen für emotionale Pop-Melodien hat. Dennoch fehlt dem ganzen eine gehörige Portion Mut und Kreativität. An alte Glanzmomente wie „Breathe Me“ oder „Soon We’ll Be Found“ darf man nur noch wehmütig zurückdenken. Warum wird bei der Musik zu einem Film mit besonderer Thematik nicht mehr auf Intensität, Ruhe und Fragilität gesetzt? Well, ein paar Liedchen gehen klar und dürfen auf der Easy-Listening-Playlist rotieren. Eine Best-of einer Künstlerin ohne eine Best-of zu sein.
Die CD zu Music bekommst du hier.*
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