Hamilton, Operettenhaus Hamburg, 05.10.2022

Musicals in Deutschland haben eine solide Fanbase. Da gibt es eine große Gruppe an Anhänger*innen, die gleich mehrfach in das gleiche Stück rennt, ihre Lieblingsbesetzung hat und jeder neuen Inszenierung ungeduldig entgegenfiebert. Gleichzeitig gibt es aber wohl eine mindestens genauso große Gruppe, die exakt gar nicht auf Musicals kann. Zu kitschig in der Story, zu schlecht geschauspielert, zu cheesy im Sound, zu dramatisch, einfach viel zu viel von allem. 2022 passiert aber etwas, das mit einigen Klischees aufräumen wird. Hamilton ist hierzulande angekommen.

Gelegenheitsbesucher*innen, die einmal in Jahr in eine der typischen Produktionen rennen, haben Fragezeichen im Gesicht. Hamilton? Was ist das schon wieder? Musicalinteressierte hingegen machen riesige Augen und bekommen Schnappatmung – im ersten Moment zumindest. Hamilton ist nicht weniger als eines der höchstgelobtesten Musicals aller Zeiten. Und das, obwohl das Stück erst seit gerade einmal sieben Jahren läuft. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie war nahezu jede Vorstellung in New York ausverkauft. In London am West End übrigens auch, wo es seit 2017 zu sehen ist. Bei den Tony Awards, dem wichtigsten Musicalpreis der Welt, gewann es 2016 elf Preise und war 16-mal nominiert – so häufig wie kein anderes Stück jemals zuvor. Die Musik, die Texte und das Buch schrieb der mittlerweile 42-jährige Schauspieler, Regisseur und Komponist Lin-Manuel Miranda, der seitdem ein Superstar ist und unter anderem für Disney komponieren darf.

Kritiker*innen kriegen sich kaum ein, selbst die Obamas haben es bis zum Abwinken gefeiert. Warum? Warum geht man denn so steil auf ein Musical? Von denen gibt es doch schon so viele!? Stimmt, aber Hamilton ist ein wenig anders. Auf Anhieb hat man wohl bei etwas mit so viel Furore noch größere als eh schon dagewesene Bühneneffekte im Kopf, bei denen man sich mal wieder fragt, wie die das wohl machen – nope. Genau das ist es nicht. Stattdessen ist es musikalisch anders und – und das ist wohl das Besonderste – in seinem Storytelling.

Als deutsche*r Staatsbürger*in ist ein kurzer Disclaimer wohl nicht verkehrt: Alexander Hamilton ist einer der amerikanischen Gründerväter und bis heute auf der 10-US-Dollar-Note zu sehen. Funfact am Rande: Mit genau dieser konnte man eine ganze Zeit lang am Broadway an einer Lotterie teilnehmen, um Plätze fürs Stück zu gewinnen. Hamilton emigriert im Alter von 20 Jahren als Waise von der Karibik nach New York. Mit einigen Verbündeten plant er nicht weniger als eine Revolution, auch wenn andere ihm einen Strich durch die Rechnung machen wollen. Besonders sein Rivale Aaron Burr wird ihm immer wieder begegnen.

Geschichtsunterricht im Theater – geht’s noch schlimmer? Brauchen wir so schweren Stoff auf einer Bühne, dazu noch Gesang und überzogene Gestikulation? Anscheinend ja, denn nach einer US-Tour und einem sensationellen Erfolg in London kommt Hamilton nach Deutschland – und zwar auf Deutsch. Erstmalig werden die Texte übersetzt. Eine Mammutaufgabe, an der mehrere Jahre gearbeitet wurde. Spätestens hier fängt ein Teil der Musicalfan-Bubble an lauthals aufzuheulen. Deutschland ist eben kein wirklich englischaffines Land und bekanntlich Meister im Synchronisieren. Sämtliche Stücke hierzulande laufen doch auf Deutsch, warum ist das plötzlich ein Problem? Strenggenommen ist dieser Fakt für viele immer ein Problem, da natürlich bei einer Übersetzung auch immer ein Stück weit Interpretation dabei ist. Bei Hamilton kommt jedoch unglücklicherweise hinzu, dass es einerseits viele Wortspiele gibt, andererseits aber die Musik durch ihre Vortragsart lebt. Die ist nämlich Rap.

Wagnisse an allen Ecken. Stage Entertainment, das für gewöhnlich für sehr aufwändige Musicals steht, die die breite Masse anziehen, geht so wenig auf Nummer sicher wie schon lange nicht mehr. Eine Geschichte, die Deutsche nur aus dem Geschichtsunterricht in der Schule kennen und die sie kaum betrifft. Eine Inszenierung, die nicht mit LED-Wänden und Zaubertricks arbeitet. Musik, die in großen Parts auf Sprechgesang setzt. Zusätzlich eine Übersetzung von Lyrics, die im ersten Moment als unübersetzbar gelten. Und zuletzt: Alles zu einer Zeit, in der Leute keine Kohle haben.

Zumindest mit dem letzten Aspekt hat man jedoch bei Hamilton nicht von Anfang an gerechnet. Ursprünglich sollte der sehnsüchtig erwartete Megahype bereits im Herbst 2020 starten – wäre die Corona-Pandemie nicht gewesen. So musste das ganze Prozedere insgesamt zwei Jahre nach hinten verschoben werden. Nun gibt es eine Inflation. Mehrere Konzerte werden wegen schlechten Ticketverkäufen abgesagt, auch Musicals haben es richtig, richtig schwer. Aber im Operettenhaus, dem Theater direkt auf der Reeperbahn in Hamburg, Deutschlands beliebtester Musicalstadt, setzt man auf Sieg und zieht konsequent durch.

Am 6.10. ist nicht nur Deutschlandpremiere von Hamilton, sondern gleichzeitig auch die weltweite Premiere der ersten Übersetzung. Einen Tag zuvor ist die Presse geladen, darunter wir. Quasi zur Generalprobe. Obwohl es ein Mittwoch ist, ist die 1986 für „Cats“ von Andrew Lloyd Webber eröffnete Venue bis auf wenige Plätze komplett voll. Das bedeutet, dass über 1300 Leute sich von dem fast schon sagenumwobenen Publikums- wie Kritiker*innenfavorit selbst überzeugen wollen. Zeitsprung um drei Stunden in die Zukunft: Es klingt so, als wäre nahezu jede*r überzeugt und begeistert.

Der Applaus um 22:32 Uhr ist zwar der letzte, aber nicht mal unbedingt der eindeutig lauteste. Während des Zweiakters – beide dauern 75 Minuten und werden von 30 Minuten Pause unterbrochen – gibt es nach so vielen Songs frenetischen Beifall, dass die Atmosphäre an ein Popkonzert erinnert. Bei manchen Songs gibt es gar Szenenapplaus mittendrin. Eine wirkliche Rarität bei Musicals. Hamilton schafft also auch in Hamburg den Funken überspringen zu lassen.

Seit dem Sommer 2020 kann man das Broadway-Original bereits auf dem Streamingdienst Disney+ sehen. So kommen wahrscheinlich nicht alle komplett unvoreingenommen in die Vorstellung. In der Aufzeichnung sind ebenfalls ohrenbetäubende Klatschszenen zu vernehmen, die nun auch hier stattfinden. Diejenigen, die bereits in New York, London oder zumindest im TV Hamilton sehen konnten, sind selbstredend besonders heiß darauf zu wissen, ob alles übernommen wurde. Antwort: Ja, das Stück wurde nicht gekürzt, das Bühnenbild und auch die Kostüme adaptiert. Wer Hamilton kennt, bekommt Hamilton. Nur eben auf Deutsch.

Und das ist einfach die größte Hürde. Lin-Manuel Miranda hatte hierüber die Macht. Er ließ sich mehrfach direkte Wort-für-Wort-Übersetzungen auf Englisch von der deutschen Übersetzung von Sera Finale und Kevin Schroeder liefern und sagte, ob das Erarbeitete bleiben dürfe oder nicht. Somit kann man von einer autorisierten Fassung sprechen, die sich größte Mühe gibt, um nah an den Originaltexten zu bleiben. Mehr als 20.000 Wörter werden in den 150 Minuten Spielzeit gesungen – Hamilton ist durchkomponiert, somit immer mit Musik unterlegt und hat nur wenige reine Sprech- bzw. Schauspielszenen – was durchschnittlich 144 Wörtern die Minute entsprecht. Mehr als doppelt so viele wie herkömmliche Musicals. In den schnellsten Momenten sind es gar 200 Wörter die Minute. Mehr als drei pro Sekunde. Das ist einerseits unglaublich beeindruckend, andererseits aber fürs Verständnis ein wenig schwierig. Kennt man die Geschichte kaum, ist das hohe Tempo nicht gerade hilfreich, um dem Tohuwabohu zu folgen.

Doch das ist eigentlich völlig egal. Es hilft bestimmt, ein wenig den Inhalt vor dem Theaterbesuch zu googeln. Selbst wenn man es nicht tut, gibt es aber so viele andere atemberaubende Elemente, dass es am Ende zur Nebensache wird, ob man die Story nun komplett verstanden hat oder eben nicht. Stattdessen ist es ein wahrer Sog, sich von der Dynamik einsaugen zu lassen. Das stärkste Element in dem neuen Ding, über das alle sprechen werden, ist seine Energie. Und die ist krasser als in jedem anderen Stück.

Hamilton ist sowohl progressiv als auch ein wenig nihilistisch. Man bewegt sich weg von immer heftiger werdenden Bühnenbildern, stattdessen ist die Kulisse fast durchweg statisch. Zwar werden in jeder Szene zig Requisiten auf die Bühne gebracht oder gefahren, aber optisch bleibt Hamilton mehr Theater als Bombastshow. Progressiv sind hingegen zunächst einmal die Choreographien. Gefühlt wurde sich mindestens ein Jahrzehnt nicht mehr so viel Mühe bei den Tänzen gegeben. Die sind so bildstark, so fest im Boden auf ihren drehbaren Elementen und so wahnsinnig synchron, dass allein das schon fesselt. In den Momenten, in denen die gesamte Cast auf der Bühne steht und mit kleinen, aber sehr bestimmenden Gesten auftritt, sind bereits jeden Euro wert.

Exakt auf dem selben 1+-Niveau ist die anspruchsvoll komponierte Musik von Lin-Manuel Miranda, die zum Glück auch auf Deutsch klappt. Fans des Originals müssen sich mit den neuen Texten etwas eingrooven, andere können direkt einsteigen. Nicht jeder Song ist für sich betrachtet ein Hit, dafür aber jeder Song einfach gut gemacht. Einige mehrstimmige Parts bereiten Gänsehaut nach zwei Sekunden. Andere Titel haben so einprägsame Hooks, dass sie auch noch Stunden nach dem Hören im Kopf bleiben. Wie so oft hilft es aber, sich das Stück anzugucken, um sie richtig greifen zu können.

Absolut alles richtig gemacht, wurde in Hamburg insbesondere bei der perfekt besetzten Cast. Und das ist schließlich ein Element, was man London und New York nicht so einfach nachmachen kann, sondern selbst erarbeiten muss. Obwohl ein paar der Darsteller*innen keine deutschen Muttersprachler*innen sind, schaffen es alle dermaßen deutlich zu artikulieren, dass ihre Akzente wenig bis gar nicht stören. Allen voran der Brasilianer Benét Monteiro, der in der titelgebenden Hauptrolle, die im Original von Lin-Manuel Miranda persönlich gespielt wird, sein ganzes Können zeigen kann. Gesang, Ausdruck, aber auch Rap-Parts sitzen hervorragend.

Apropos Rap: Bitte davon nicht abschrecken lassen. Es gibt zwar Rap-Battleszenen, größtenteils ist es aber viel mehr Sprechgesang als das, was man sich klischeehaft unter Deutschrap vorstellt. In keiner Sekunde wird es peinlich-fremdschämig, sondern bleibt durchweg beeindruckend und energiegeladen. Trotzdem dürfen sich Liebhaber*innen von gutem Gesang freuen, denn mit Chasity Crisp als Angelica Schuyler gibt es wirklich herausragende Momente. Denn auch das macht Hamilton aus: Wie bei der Vorlage sind fast alle Rollen von People of Color besetzt, sodass stets ein souliger, bluesiger Touch bestehen bleibt, der super passt.

Eliza Hamilton, die Frau des Protagonisten, wird in Hamburg von Ivy Quainoo gespielt, die viele wohl noch als erste Gewinnerin von „The Voice of Germany“ kennen werden. Auch sie wirkt glaubwürdig und kann sowohl im Belt als auch in ihren fragilen, tiefen Momenten Emotionen transportieren. Ganz andere Emotionen, die aber für die dennoch schwere Kost unbedingt notwendig sind, werden von Jan Kersjes als King George übermittelt. Die einzige stark karikierte Figur sorgt bereits bei ihrem ersten Auftritt zu „Schon bald“ für großes Gelächter. Eine so witzige Rolle, dass sämtliche Sympathiepunkte auf ihr liegen. Kersjes macht es aber auch fantastisch-überzogen und bekommt ab sofort bei jedem Betreten der Bühne Beifall, ohne überhaupt den Mund öffnen zu müssen.

Und sogar beim Sound gibt es nichts zu bemängeln. Bis auf ein bis zwei minimal zu späte Einsetzer sind alle Mikrofone immer dann an, wenn sie es sein müssen und der Klang kommt super abgemischt durch die Boxen. Die Band unter der Leitung von Philipp Gras erzeugt mit ihrem Mix aus musical-esquen Broadway-Sounds, Funk, Hip-Hop, Pop, Soul, Balladen und sogar Rock eine fantastische Musik, die man bei den mittlerweile irrsinnig hohen Ticketpreisen auch so verdient zu hören.

Wenn man etwas beanstanden will, ist es wirklich höchstens die Story, die zwar durch ihre Musik, ihre Tänze und die sensationelle Cast makellos herübergebracht wird, aber bei 150 Minuten Spielzeit hin und wieder mal ihre Längen hat. Ist der erste Akt so voller Energie, dass einem als Zuschauer*in kaum Möglichkeit zum Luftholen bleibt, hat der zweite obschon mehr zwischenmenschlicher Dramatik ein paar Augenblicke Leerlauf. Final handelt es sich immer noch um eine Geschichte über die USA, die auf historische Ereignisse beruht. Von Langeweile ist man aber weiterhin äußerst weit entfernt, dafür ist einfach alles, was man ansonsten hört und sieht viel zu gut.

Hamilton wird als Revolution bezeichnet und ist es tatsächlich auch ein Stück weit. Musikalisch könnte man es hinkriegen, neue Gruppen zu erreichen, die bisher eher ablehnend und herabschauend bei dem Stichwort „Musical“ reagiert haben. Hamilton ist gleichwohl Theater wie ein fulminantes, pulsierendes Chorkonzert mit ausschließlich sehr guten Stimmen, Choreographien und Kompositionen. Hamilton verzichtet auf seichte Familienunterhaltung, wird aber dafür diejenigen begeistern, für die „Die Eiskönigin“ zu wenig Essenz bot. Hamilton ist groß, verdammt geil und auch in Hamburg sehr nah an perfekt. Wenn ihr aber keine Karten kauft, ist es so schnell weg, wie es da ist, was einem Skandal gleichkäme. Es liegt ganz an euch.

Und so sieht das aus:

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Bild von Christopher.

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4 Kommentare zu „Hamilton, Operettenhaus Hamburg, 05.10.2022“

  1. Ich. Kann. Es. Kaum. Erwarten! Erst recht nach Lesen deines Berichts. Aber man liest sowieso nur Gutes über die deutsche Inszenierung, insbesondere von eingefleischten Hamilton Fans, die es wissen müssen.

    Hoffe auch, dass das deutsche Publikum dieses neue Musical zu würdigen weiß! Time will tell!!

    1. Liebe Dana,

      Vielen Dank für dein Feedback.
      Es ist wirklich super empfehlenswert.
      Mal ein frischer Anstrich in der Musicalszene Deutschlands.
      Daumen drücken, dass es etwas länger bleibt.

      Vlg Christopher

  2. Wir waren auf einer der VorVorpremieren, zu viert, 60er und90er Jahrgänge. Und für uns alle : Einfach nur grossartig! Ich war skeptisch ob der deutschen Übersetzung, aber die ist sensationell. Beeindruckend ist die Energie, die sofort zu spüren ist, zudem die Stimmen, die unglaubliche Perfektion in allem, und immer wieder Gesang und Choreographie, alles sehr kraftvoll. Immer wieder habe ich mich gefragt, wie kann man sich nur so bewegen, so singen und gleichzeitig den Text erinnern? Hut ab vor diesen Akteuren, aber auch vor Mirinda und den Übersetzen, den Kostümbildnern. Das Bühnenbild ist gottlob einfach gehalten, so dass man sich ganz aufs Wesentliche einlassen kann. Es berührt und freut mich riesig, dass das Ensemble nun den Applaus bekommt, dass es verdient! Wir werden sicher mindestens ein weiteres Mal unter den Zuschauern sein…

    1. Hey Silvia,

      wie schön! Das klingt ja nach einem richtig guten Abend.
      Wie du in meinem Bericht siehst, hab ich’s sehr ähnlich erlebt.
      Falls ihr nochmal geht, hoffe ich, dass es dann wieder genauso gut wird!

      VLG Christopher

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