Immer wieder interessant, aus welchen Vorlagen Musicals gesponnen werden, die dann richtig gut laufen und andere wiederum so gar nicht. Das Spice–Girls-Musical “Viva Forever!” beispielsweise hat es gerade einmal ein halbes Jahr lang in London auf die Bühne geschafft, dabei gehört das Quintett zu den 40 erfolgreichsten Bands aller Zeiten. “Starlight Express” ist eigentlich nur in Deutschland ein Dauerbrenner, in London lief es zuletzt vor 20 Jahren, in New York fiel es schon zur ersten Spielzeit gnadenlos durch. “Titanic” hat quasi nirgendwo funktioniert. Es bleibt also auch immer ein wenig Glück mit im Spiel. Was passiert wohl, wenn man den berühmtesten Detektiv der Welt in ein Musicalgewand packt? Sherlock Holmes – Next Generation: Das Musical probiert’s aus.
Sherlock Holmes ist besonders in der Film- und Serienbranche eine sichere Bank. Die Ende des 19. Jahrhunderts erfundene Figur wurde unzählige Male in diversen Formaten eingesetzt, zuletzt äußerst erfolgreich in zwei Filmen von Guy Ritchie, der bisher sieben Staffeln umfassenden Serie “Elementary” und der sehr beliebten Serie “Sherlock”. Krimis kommen eben nie aus der Mode, sie müssen nur refreshed serviert werden. Überraschend, dass es bis zum vergangenen Jahrzehnt und damit weit über 100 Jahre nach dem Auftauchen des allseits bekannten Detektivs dauerte, bis auch die Musicalbühnen ins Visier gerieten.
Weltpremiere feierte Sherlock Holmes – Next Generation im Januar 2019 in Hamburg. Parallel dazu gab es kurze Zeit zuvor schon einige Musicaladaptionen, die auf Sherlock Holmes-Filmen beruhten, aber das Stück nach einem Konzept von Rudi Reschke mit Musik und Texten von Christian Heckelsmüller geht etwas mehr in die Offensive und ist bereit dazu, mit eigenen Ideen bei mehr Menschen auf dem Schirm zu landen. Neben einigen Shows in Hamburg, einigen weiteren im Sommer 2019 in München war Corona-bedingt vorerst Schluss. Seit Ende November bringt man das relativ neue Musical jedoch auf viele Theaterbühnen in ganz Deutschland und spielt es sogar in kleineren Städten, die sonst eher selten mit Shows dieser Art versorgt werden. 20 Aufführungen, 20 Städte. Mülheim an der Ruhr und seine Stadthalle ist am 7.12., einem Mittwoch, Halt Nr. 14.
Die Adventszeit ist einfach prädestiniert für kuschelige Abende in warmen Theatersälen. Locker Dreiviertel der Plätze sind belegt, was geschätzt bestimmt guten 700 Leuten entsprechen müsste. Das Publikum ist bunt gemischt, insgesamt aber doch wohl durchschnittlich Ü40. Hier treffen also diejenigen, die gern von der Couch aus miträtseln und -spinnen, auf jene, die in der deutschen Musicallandschaft immer mal wieder neue Aspekte suchen.
Sherlock Holmes – Next Generation bringt gute Voraussetzungen mit. Eine Story, die auf etwas Bekanntem und Beliebtem beruht, aber neu gedacht wird. Dazu einige Musicaldarsteller:innen, die teilweise seit Kurzem, teilweise aber auch seit Jahrzehnten im Business sind. Das Ergebnis am Ende: solide.
Jung trifft auf Alt. Sherlock und Dr. Watson sind ein wenig in die Jahre gekommen. Zum wiederholten Male müssen sie sich in einem Fall behaupten, werden nun aber von einem offensichtlich ebenfalls sehr talentierten Nachwuchsdetektiv namens John unterstützt, der parallel mit der klugen Catherine anbandelt. Sherlock Holmes – Next Generation setzt für ein Musical eher untypische Hauptakzente im Schauspiel, was jedoch dem Ganzen ziemlich gut tut. Eine Story, die sich nach Krimi anfühlt, leider Sherlock Holmes als titelgebenden Charakter manchmal ein wenig in den Hintergrund geraten lässt, aber bis zum Ende spannend unterhält. Bis zur Auflösung bleiben Zuschauer:innen im Unklaren, was genau vorgefallen ist. Viel mehr sollte zur Geschichte auch gar nicht verraten werden, die weiß nämlich zu punkten. Hier und da werden im Handlungsstrang einige Haken geschlagen, die manchmal kurzzeitig verwirren, dafür aber angenehme Szenerien einbinden, die optisch für Abwechslung sorgen.
Viele Ortwechsel bedeutet gleichzeitig viel Bühnenbild und Requisite. Die sind okayes Mittelmaß. Einer nicht ganz so teuren Tourproduktion entsprechend muss hier immer der größte Abstrich gemacht werden, dafür sollte aber besonders die Empore, hinter der sich ein hohes Baugerüst verbirgt, Erwähnung finden. Lange Tücher verdecken – zumindest meistens – die Rohre und Leitern, sodass auf jenen Vorhängen auch Videoeinspielungen stattfinden können. Sieht schick aus und sorgt für angenehme Atmosphäre. Das Kostüm ist durchschnittlich, aber in Ordnung. Auf technischer Ebene funktioniert bei den Umbauten und auch im Ton alles wunderbar.
Generell merkt man, dass die Show bereits einige Male zu sehen war und alles somit reibungslos abläuft. Jede*r Darsteller*in weiß, was zu tun ist. Musikalisch bietet Sherlock Holmes – Next Generation leider nur generische Musicalkost und fällt wenig positiv wie negativ auf. Richtige Hits sucht man vergeblich, gleichzeitig aber zum Glück auch Totalausfälle. Man orientiert sich in den Kompositionen an den typischen Highlights von Kunze/Levay. Wenig überraschend, jedoch akzeptabel. Unschön wird’s jedoch im Sound. Da keine Liveband vor Ort ist, laufen etwas billig klingende Instrumentals, die über die Boxen gespielt sehr blechern wirken und nie mit den Mikros richtig in Einklang geraten.
Überdurchschnittlich hingegen ist die Besetzung. Ethan Freeman, der in riesigen Produktionen wie dem “Phantom der Oper” in London dabei war und zur Urbesetzung “Elisabeth” zählt, muss sich in seiner Hauptrolle zwar wenig anstrengen, nimmt aber in den Minuten Spielzeit, die er besitzt, das Publikum für sich ein. Florian Minnerop, der vor rund fünf Jahren an der Folkwang Universität in Essen seinen Abschluss machte, spielt die Rolle des John und trägt die meiste Stagetime charmant, witzig und punktet besonders in seinem letzten Solo “Matrix” mit einer großen Range im Gesang. Der intensivste Moment gesanglich und auch schauspielerisch gelingt Sonja Hermann als Mrs. Mason, die in “Allein” 100% der Aufmerksamkeit auf sich zieht und voller Intensität performt. Sehr stark.
Bei den mittlerweile utopischen Preisen von großen Musicalproduktionen stellt das etwas kleinere Sherlock Holmes – Next Generation mit einem Abendkassenpreis von 75€ in der besten Preiskategorie eine angenehme Entlastung fürs Portemonnaie dar. Freund:innen des Kultdetektivs dürfen spannend der Story folgen und werden in zweimal 70 Minuten, unterbrochen von 20 Minuten Pause, angenehm entertaint. Fans von starkem Gesang werden ihre Momente finden, aber leider keine neuen Lieblingssongs, die danach auch zuhause oder im Auto auf Dauerschleife laufen. Das Produktionsteam nutzt seine Mittel gut und liefert ganz nette, befriedigende Unterhaltung für zwischendrin.
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Foto von Christopher
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